Raumpioniere Ruhr - Stadtentwicklung durch kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen

Eine Strategie für das Ruhrgebiet?


Diplomarbeit, 2007

140 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

Tabellen und Abbildungen

Abkürzungen

1 Kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen im Ruhrgebiet – Zukunftsfeld mit Forschungsbedarf
1.1 Ausgangslage und Stand der Forschung
1.2 Forschungsinteresse und Zielsetzung
1.3 Aufbau der Arbeit
1.4 Methodik der Arbeit

2 Rahmenbedingungen kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen
2.1 Begriffsklärung
2.1.1 Zwischennutzung
2.1.2 Raumpioniere
2.1.3 Kulturwirtschaft
2.1.4 Brache
2.2 Brachen und kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen
2.2.1 Kriterien der Flächen- und Raumauswahl der Raumpioniere
2.2.2 Brachentypen und ihre Verwendbarkeit für Zwischennutzungen
2.2.3 Gegenseitiger Einfluss von Brache und Zwischennutzung
2.3 Akteure kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen
2.3.1 Raumpioniere
2.3.2 Eigentümer
2.3.3 Immobilienwirtschaft
2.3.4 Lokalpolitik
2.3.5 Schlüsselagenten
2.3.6 Medien
2.4 Rechtliche und organisatorische Aspekte kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen
2.4.1 Formelle und informelle Steuerungsmöglichkeiten von Zwischennutzungen
2.4.2 Bau- und nutzungsrechtliche Aspekte
2.4.3 Netzwerke und Cluster
2.5 Zwischenfazit: Raumpioniere und kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen auf städtischen Brachflächen

3 Kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen und Stadtentwicklung
3.1 Zwischennutzungstypen in der Stadt
3.2 Besondere Eignung von Kulturwirtschaft als Zwischennutzung
3.2.1 Besondere Räume und Kulturwirtschaft
3.2.2 Kulturelle Innovationen entstehen in der Nische
3.2.3 Inszenierung von Übergängen in der Stadtnutzung
3.3 Bedeutung kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen in der Stadt
3.3.1 Image/Identifikation
3.3.2 Kreative Milieus
3.3.3 Öffentliche Räume
3.3.4 Tourismus
3.3.5 Standortfaktor
3.3.6 Arbeitsmarkteffekt
3.4 Kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen als Motor für Stadtentwicklung
3.4.1 Chancen kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen
3.4.2 Risiken kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen
3.4.3 Relevanz kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen in wachsenden Räumen
3.5 Zwischenfazit: Wertschöpfungsketten kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen_

4 Das Ruhrgebiet und kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen
4.1 Das Ruhrgebiet
4.1.1 Aufstieg und Rückzug der Montanindustrie
4.1.2 Verzögerung des Strukturwandels im Ruhrgebiet
4.2 Brachflächen als Chance für kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen im Ruhrgebiet
4.2.1 Brachflächen im Ruhrgebiet
4.2.2 Verwendbarkeit der Brachflächen für kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen
4.2.3 Akteure und Interessen im Umgang mit Brachen im Ruhrgebiet
4.2.4 Einstellung der Akteure zu kulturwirtschaftlichen Zwischennutzungen
4.3 Kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen im Ruhrgebiet
4.3.1 Erfahrungen mit kulturwirtschaftlichen (Zwischen-)Nutzungen
4.3.2 Finanzierungsnischen
4.4 Zwischenfazit: Potenziale und Defizite des Ruhrgebiets für kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen

5 Internationale Erfahrungen mit kulturwirtschaftlichen Zwischennutzungen
5.1 Basel „nt*/Areal“
5.2 Amsterdam „Kinetisch Noord“
5.3 Berlin „RAW-tempel – bahnbrechend anders“
5.4 Kopenhagen „Christiania“
5.5 Zwischenfazit: Zusammenfassung und Bilanz der nationalen und internationalen Beispiele

6 Schlussfolgerung: Strategie und Taktik in der Stadtentwicklung

7 Handlungsoptionen für den strategischen Einsatz kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen
7.1 Handlungsoptionen der Kommunen
7.2 Handlungsoptionen des Regionalverbandes Ruhr
7.3 Handlungsoptionen der Eigentümer
7.4 Handlungsoptionen der Raumpioniere

8 Fazit: Kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen – Eine Strategie für das Ruhrgebiet?

Anhang

Literaturverzeichnis

Internetverzeichnis

Interviewverzeichnis

Tabellen und Abbildungen

Tabellen

Tab. 1: Chancen kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen

Tab. 2: Risiken kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen

Tab. 3: Brachflächen im Ruhrgebiet

Abbildungen

Abb. 1: Aufbau der Arbeit

Abb. 2: Einfluss Brache und Zwischennutzung

Abb. 3: Motivation der Raumpioniere

Abb. 4: Volkspalast und Palast der Republik

Abb. 5: Haus des Lehrers

Abb. 6: Zwischengenutztes Gebäude in Leipzig

Abb. 7: Bepflanztes Grundstück in Erfurt

Abb. 8: HafenCityRun

Abb. 9: Superumbau Hoyerswerda

Abb. 10: Dostoprimetschatjelnosti

Abb. 11: Kunstprojekte in der HafenCity

Abb. 12: Halde Rungenberg und Kokerei Hansa

Abb. 13: Brachen in der Region und Installation auf Zeche Hannover

Abb. 14: Gebrauchtwagenhandel als Zwischennutzung in Essen

Abb. 15: Graffiti in Hattingen und Brache in Essen

Abb. 16: PHOENIX West

Abb. 17: Industriekultur

Abb. 18: Lageplan nt*/Areal

Abb. 19: Zwischennutzungen nt*/Areal

Abb. 20: Lageplan Kinetisch Noord

Abb. 21: Zwischennutzungen Kinetisch Noord

Abb. 22: Lageplan RAW-tempel

Abb. 23: Zwischennutzungen RAW-tempel

Abb. 24: Lage Christiania

Abb. 25: Zwischennutzungen Christiania

Abb. 26: Markierung von Brachen in Berlin

Abb. 27: Raumpioniere als Ankermieter

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen im Ruhrgebiet – Zukunftsfeld mit Forschungsbedarf

„Das Experiment von heute ist die Zukunft von morgen.“

(Andreas Spiegl und Christian Teckert)

Die Zwischennutzung ist als neue Raumnutzungskategorie eines for- schenden Probehandelns und einer Strategie des Experimentierens vor allem im Stadtumbau Ostdeutschlands populär geworden. Die Notwen- digkeit der Annäherung an dieses Thema in Westdeutschland und beson- ders in der Krisenregion Ruhrgebiet wird in der wissenschaftlichen Dis- kussion um den Umgang mit altindustriellen Brachflächen zunehmend erkannt, aber kaum in die Praxis umgesetzt. Dabei ist die zeitlich begrenz- te Nutzung von brachgefallenen Arealen eng an aktuelle räumliche, öko- nomische und gesellschaftliche Entwicklungen geknüpft. Die Deindustria- lisierung und Tertiärisierung, die im Ruhrgebiet weithin sichtbare Brachen hinterlässt, stören die Stadtgestalt aufgrund ihrer enormen Flächenkulisse. Aber auch das Streben der Gesellschaft nach Flexibilität und Mobilität, die kürzer werdenden Nutzungszyklen gewerblicher Immobilien sowie die sich rasant wandelnden Bedürfnisse urbaner Konsumenten verlangen nach einem Umdenken in der Planungspraxis des Ruhrgebiets (vgl. Arlt 2006: 41f.).

In der Erfahrung mit Zwischennutzungen haben sich zwei grundlegend unterschiedliche Zielsetzungen und Nutzungsinhalte herausgestellt. Die konservativen Ansätze schlagen weniger nachhaltige Inhalte wie gärtne- rische Nutzungen, temporäre Parkplätze und die zeitlich begrenzte Nut- zung durch Gebrauchtwagenhändler vor (vgl. BBR 2004: 4), die den Status einer Lückenlösung haben. Das Ruhrgebiet weist vor allem diese Art der Zwischennutzung auf. Der andere Ansatz ist wesentlich innovativer und verfolgt kapitalextensive Strategien, die aus vielfältigen Nutzungsclustern bestehen und dem kulturwirtschaftlichen Bereich zuzuordnen sind. In diesem Fall eignen sich die Raumpioniere Orte mit einem Minimum an Infrastruktur an, nutzen die vorhandenen Strukturen um und führen zu einer Aufwertung des Standortes und z. T. zu mikroökonomischen Nut- zungen (Gespräch Overmeyer). Die Erfahrungen in internationalen Pro- jekten weisen mittel- bis langfristig viele positive Wertschöpfungen mit dieser Art der temporären Nutzungen auf. Im Ruhrgebiet werden diese Potenziale noch nicht bzw. nicht vollständig ausgeschöpft.

Diese Arbeit befasst sich mit dem innovativen Ansatz der kulturwirt- schaftlichen Zwischennutzungen. Das BBR hält diese Art temporärer Nutzungen an solchen Standorten für sinnvoll, an denen „perspektivisch ein Wiederanziehen der Nachfrage erwartet werden kann“ (BBR 2004: 3). Im Ruhrgebiet sind es die altindustriell geprägten Areale, die aufgrund ihrer zentralen Lage in oder in der Nähe von Siedlungsgebieten in den nächsten Jahrzehnten entwickelt werden bzw. für die Investitionspotenzi- al erwartet wird. Aufgrund der Weitläufigkeit dieser Areale werden ver- einzelte Pionieraktivitäten auf den Brachen in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen (Gespräch Sander), sodass sie weder dem unternehmeri- schen Gedanken der Raumpioniere, noch dem Interesse der Standortprofi- lierung der Eigentümer und Planer folgen würden. Diese Rahmenbedin- gungen des Ruhrgebiets machen das Agieren der Raumpioniere in Netz- werken und Clustern notwendig. Die zukünftigen Anforderungen an Raumplaner bestehen einerseits in der Öffnung der Brachen für kreative Raumpioniere und andererseits in der Erstellung von Strategien für die Zusammenführung dieser im Ruhrgebiet stark verteilten und z. T. ver- steckten kreativen Milieus.

1.1 Ausgangslage und Stand der Forschung

In der Fachdiskussion wurde das Themengebiet der Zwischennutzung lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Meist wurde es nur am Rande er- wähnt, wenn sich Forschungen mit Brach- und Konversionsflächen be- schäftigten1, wobei die Neuplanung im Vordergrund stand und nicht das Dazwischen. Dennoch findet das Phänomen Zwischennutzung zunehmend Einzug in die planerische Diskussion. So wurden temporäre Nutzungen im EU-Forschungsprojekt Urban Catalyst 2 europaweit thematisiert, wobei sechs Modellstädte, sowohl schrumpfende als auch wachsende, unter- sucht wurden. Das BBR erstellt in seiner Studie „Zwischennutzung und neue Freiflächen – Städtische Lebensräume der Zukunft“ von 2004 eine Zusammenschau von Zwischennutzungen in Ostdeutschland. Der „Luxus der Leere“ (Kil 2004) wird auch in Berlin erkannt: Dort gibt es eine Zwi- schennutzungsagentur3, die ungenutzte Räume neuen Nutzern zugänglich macht und dabei als Vermittler zwischen den Akteuren auftritt. Die Studie „Raumpioniere in Berlin“ (Overmeyer und Renker 2003) wurde vom Senat der Stadt Berlin in Auftrag gegeben und untersucht Zwischennutzungen hinsichtlich ihrer Funktion für Stadtentwicklung. Eine neue Studie „Urban Pioneers – Stadtentwicklung durch Zwischennutzung“ wurde im Frühjahr 20074 von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin herausgege- ben.

Frappierend ist in den letzten Jahren die Zunahme der Anzahl von Ver- anstaltungen zum Thema Zwischennutzungen, die von Instituten und Kommunen durchgeführt werden. Die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e. V. (SRL) führte im Januar 2004 das Werkstattge- spräch „Zwischennutzung im Rahmen des Stadtumbaus“ in Berlin durch. Im April 2005 fand unter dem Titel „verschenken? bewalden? zwischen- nutzen?“ ein Stadtforum in Berlin statt. Im Ruhrgebiet wurde im Rahmen des Forums Baulandmanagement5 am 16. Oktober 2006 ein Werkstattge- spräch zum Thema „Temporäre Nutzungen als baulandstrategisches In- strument: Anwendungsbereiche, Potenziale und Erfahrungen“ durchge- führt. Dass Zwischennutzungen den Status der Lückenlösung verlassen und von offizieller Seite als stadtplanerisches Instrument anerkannt wer- den, zeigt die Novellierung des Baugesetzbuches 2004. Mit der Einfüh- rung des Baurechts auf Zeit werden temporäre Nutzungen somit pla- nungsrechtlich gestaltbar.

Der Beitrag des Ruhrgebiets zu diesem Thema ist nur in Ansätzen anhand weniger öffentlich geförderter Projekte zu beobachten. Diese sind vor al- lem auf PHOENIX West in Dortmund in das Vermarktungskonzept der Projektentwickler integriert. In den kommenden Jahren werden temporä- re Nutzungen verstärkt ins Bewusstsein treten, da sie zum Thema der Kampagne „Land for Free – Stadt der Pioniere“ im Rahmen der Kultur-

hauptstadt 2010 gemacht wurden und von 2008 bis 2012 durchgeführt werden. Bereits jetzt stoßen diese Projekte ein Umdenken in der Pla- nungspraxis an, das zu einer stärkeren Berücksichtigung der tatsächlichen Akteure und ihrem konkreten Handeln im städtischen Transformations- prozess führt (Gespräch Sander).

1.2 Forschungsinteresse und Zielsetzung

Das Forschungsinteresse an dieser Arbeit wurde durch intensive Beschäf- tigung mit Zwischennutzungen in Ostdeutschland geweckt. Insbesondere in Berlin gehen von kulturwirtschaftlichen Zwischennutzungen positive Effekte für die Stadterneuerung und den Umgang mit Brachflächen aus. Das Ruhrgebiet verfügt - ähnlich wie Berlin - über eine Vielzahl innerstäd- tischer bzw. innenstadtnaher Brachen. Wegen ihrer Lage und ihres beson- deren, altindustriellen Charmes stellen diese Brachen ein Potenzial für kulturell orientierte Raumpioniere dar. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum temporäre Nutzungen im Ruhrgebiet noch keinen Ein- gang in die planerische Praxis im Umgang mit altindustriellen Brachen gefunden haben. Deswegen widmet sich diese Arbeit den kulturwirt- schaftlichen Zwischennutzungsprojekten im Ruhrgebiet und ihrer Funkti- on im Umgang mit Brachflächen.

Mit der vorliegenden Diplomarbeit wird das Ziel verfolgt, die hiesigen Akteure für die positiven Impulse von kulturwirtschaftlichen Zwischen- nutzungen für die Stadtentwicklung zu sensibilisieren und Handlungsop- tionen für den Umgang mit temporären Nutzungen aufzuzeigen. Die Handlungsoptionen zeigen viele verschiedene Möglichkeiten der effizien- teren Verwendung des neuen Instrumentes Zwischennutzung auf. Sie sind als Vorschläge im Umgang mit kulturwirtschaftlichen Zwischennut- zungen zu verstehen und stellen keine konkreten Handlungsweisungen an die Akteure dar. Nachfolgend sind die Forschungsfragen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, formuliert:

Kernfrage

Forschungsinteresse

- Inwiefern können kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen

positive Impulse zur Entwicklung innerstädtischer Brachflächen im Ruhrgebiet setzen und wie lassen sich diese Prozesse för- dern?

Theoretische Grundlagen

- Welche Gegebenheiten hinsichtlich der Orte, der Akteure und der rechtlichen Rahmensetzung sind für das Gelingen kultur- wirtschaftlicher Zwischennutzungen zu beachten?
- Was macht die besondere Eignung der Kulturwirtschaft für temporäre Nutzungen aus und welche Potenziale und Risiken gehen mit ihr einher?

Empirische Untersuchung

- Wie sehen die internationalen Erfahrungen mit kulturwirt- schaftlichen Zwischennutzungen aus und auf welche Ansätze sind die unterschiedlichen Entwicklungspfade der Zwischen- nutzungsprojekte zurückzuführen?
- Welche Potenziale und Defizite gibt es im Ruhrgebiet für kul- turwirtschaftliche Zwischennutzungen in räumlicher Hinsicht und in Bezug auf die Akteure?
- Warum werden die Potenziale kulturwirtschaftlicher Zwischen- nutzungen im Ruhrgebiet nicht genutzt?

Handlungsoptionen

- Wie können Planer und Lokalpolitiker die vernachlässigten Po- tenziale nutzbar machen?
- Wie können Eigentümer von Brachflächen kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen strategisch als Impulsgeber für Projektent- wicklungen einsetzen?
- Welche Bedingungen müssen Raumpioniere im Ruhrgebiet be- achten, um erfolgreiche Zwischennutzungsprojekte durchzu- führen?

1.3 Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist in drei Teile (A-C) untergliedert, denen jeweils eine erkenntnisleitende These zugrunde liegt:

Thesen

Teil A: Kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen setzen positive Impulse für die Stadtentwicklung

In Teil A (Kap. 2-3) erfolgt vorab eine Klärung der zentralen Begriffe die- ser Arbeit (Kap. 2.1). Anschließend werden die theoretischen Grundlagen für die empirische Untersuchung und die Erstellung des Konzeptes vorge- stellt. Zunächst wird der Zusammenhang zwischen temporärer Nutzung und den Rahmenbedingungen der Brache erläutert sowie die möglichen Entwicklungspfade der Interimsnutzung beschrieben (Kap. 2.2). Darauf- hin werden die betroffenen Akteure vorgestellt und ihre Rolle im Prozess der kulturwirtschaftlichen Zwischennutzung beschrieben (Kap. 2.3). In Kap. 2.4 werden die rechtlichen Aspekte einer Interimsnutzung und der Netzwerkgedanke der Raumpioniere erörtert. Nach einem kurzen Resü- mee der Rahmenbedingungen (Kap. 2.5) wird auf die besondere Eignung der Kulturwirtschaft für temporäre Nutzungen (Kap. 3.1) und ihrer Be- deutung für die Stadt (Kap. 3.2) eingegangen. Daraus werden die Risiken und die Potenziale von temporären Aktivitäten mit kultureller Orientie- rung gefolgert (Kap. 3.3).

Teil B: Das Ruhrgebiet besitzt viel Potenzial für den strategischen Einsatz von Zwischennutzungen, welches bislang nicht genutzt wird

In Teil B (Kap. 4-5) wird die empirische Untersuchung thematisiert. Einer knappen Einführung in die jüngeren Entwicklungen des Ruhrgebiets (Kap. 4.1) folgt die Überprüfung der Potenziale der Region für kulturwirt- schaftliche Zwischennutzungen hinsichtlich der Flächenverfügbarkeit und der Akteure (Kap. 4.2). Daraufhin werden Projekte vorgestellt, die kultur- wirtschaftliche (Zwischen-)Nutzungen auf altindustriellen Brachen thema- tisieren, um daraus Schlüsse über mögliche Förderungsnischen zu ziehen (Kap. 4.3). Über die Betrachtung internationaler Erfahrungen mit kultur- wirtschaftlichen Zwischennutzungen auf großflächigen Brachen (Kap. 5.1- 5.4) wird in der darauf folgenden Bilanzierung der Einfluss der Rahmen- bedingungen hinsichtlich der Kooperation der Akteure auf die Entwick- lungspfade der Projekte überprüft (Kap. 5.5).

Teil C: Der gesteuerte Einsatz kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen zur Entwicklung von Brachflächen im Ruhrgebiet muss durch Schaffung positiver Rahmenbedingungen ermöglicht werden

Teil C (Kap. 6-8) beginnt mit Schlussfolgerungen (Kap. 6) aus den voran- gegangenen Kapiteln, welche als Grundlage für die Entwicklung der Handlungsoptionen dienen. Die Handlungsoptionen zur Förderung kul- turwirtschaftlicher Zwischennutzungen als strategisches Instrument der Entwicklung von Brachflächen im Ruhrgebiet enthalten diverse Hand- lungsvorschläge für die Akteure (kommunale Palnungsebene, regionale Planungsebene, Eigentümer und Raumpioniere) im Umgang mit dieser neuen Raumnutzungskategorie (Kap. 7). Im Fazit werden die aufgestellten Thesen reflektiert, kritisch diskutiert und ein Ausblick auf die mögliche Entwicklung gegeben (Kap. 8). Die folgende Abbildung veranschaulicht den beschriebenen Aufbau der Arbeit.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Aufbau der Arbeit

Quelle: Eigene Darstel- lung

1.4 Methodik der Arbeit

In der vorliegenden Arbeit werden verschiedene Methoden wissenschaft- lichen Arbeitens angewendet, die dem Ansatz der qualitativ-empirischen Sozialforschung entsprechen. Der qualitative Ansatz wurde gewählt, weil er subjekt- sowie situationsorientiert ist und sich der offenen Herange- hensweise bedient (Sedlacek 1989: 12). Das bedeutet, dass das methodi- sche Vorgehen während des Forschungsprozesses der Untersuchungssitu- ation angepasst werden kann, sodass der Untersuchungsgegenstand und nicht eine vorab entwickelte Theorie die Forschung bestimmt (Atteslander 2003: 84).

Die theoretische Annäherung an die Thematik der Raumpioniere und kul- turwirtschaftlichen Zwischennutzungen erfolgt über Literaturrecherche. Da es bislang nur wenige Studien zu diesem Thema gibt, wurden viele Aufsätze aus Zeitschriften und dem Internet verwendet. Um das dadurch erlangte Wissen zu vertiefen, wurden Expertengespräche mit ausgesuch- ten Akteuren geführt, die Erfahrungen mit Zwischennutzungsprojekten haben. Hierbei ist die Methode des leitfadengestützten, offenen Gesprächs zur Anwendung gekommen, welche dem Interview eine Struktur gibt und durch seinen geringen Standardisierungsgrad auftretende Fragen flexibel einbindet (Atteslander 2003: 160ff). In den inhaltlichen Fragen wurde in den Gesprächen nach weiteren Gesprächspartnern sowie möglichen Zwi- schennutzungsprojekten zur Veranschaulichung des Themas gefragt. Für den empirischen Teil sind weitere Gespräche geführt worden, wobei die Auswahl der Interviewpartner nicht durch statistische Zufallsstichproben, sondern nach der Methode des „theoretical sampling“ erfolgte. Aus die- sem Grund kann keine statistische Repräsentativität angestrebt werden (vgl. ebd.). Die internationalen Beispiele werden in Anbetracht vergleich- barer Strukturen und Ausgangsvoraussetzungen analysiert, um Erkennt- nisse über den Einfluss der Rahmenbedingungen auf den Erfolg der Pro- jekte zu gewinnen. Hierzu werden Projektdokumentationen und die In- ternetpräsentationen der Projekte ausgewertet. Die Erarbeitung der Hand- lungsoptionen erfolgt aus den Schlussfolgerungen der erbrachten Ergeb- nisse der Untersuchung.

2 Rahmenbedingungen kulturwirtschaftlicher Zwischen- nutzungen

„Innovation braucht informelle Strukturen. Die Formalisierung kommt mit dem Erfolg zwangsweise, doch beim Start kann sie schon das Aus bedeuten.“

(Joachim Brech)

Die Thematik der Zwischennutzung ist im alltäglichen Sprachgebrauch nicht geläufig. Aus diesem Grund präsentiert das folgende Kapitel die Charakteristika temporärer Nutzungen. Als Einstieg werden zunächst die zentralen Begriffe dieser Arbeit geklärt. Anschließend erfolgt eine Ausei- nandersetzung, die den Zusammenhang von temporären Nutzungen und der Verwendbarkeit von Flächen thematisiert. Der Identifikation der Ak- teure und ihrer Rolle im Zwischennutzungsprozess folgt eine Zusam- menstellung administrativer und rechtlicher Rahmenbedingungen für Interimsnutzungen.

2.1 Begriffsklärung

Als Grundlage für die Behandlung der Fragestellungen (siehe Kap. 1.2) werden einleitend einige für diese Arbeit wesentliche Begriffe definiert und abgegrenzt. Da keine eindeutige Definition des Begriffes Zwischen- nutzung existiert, werden grundlegende Ansätze aus der aktuellen wis- senschaftlichen Diskussion aufgegriffen. Daraus wird eine eigene für die- se Untersuchung gültige Definition aufgestellt. Daraufhin erfolgt eine Erklärung des Begriffes Raumpioniere. Anschließend wird der Begriff der Kulturwirtschaft gefasst und für den Rahmen dieser Arbeit definiert. Zu- dem wird eine Begriffsbestimmung von Brachen gegeben, da sich Zwi- schennutzungen auf diesen befinden.

2.1.1 Zwischennutzung

Aus der Semantik des Wortes Zwischennutzung lässt sich ableiten, dass es sich um eine Nutzung handelt, die zeitlich begrenzt zwischen einer vorherigen und einer nachfolgenden Nutzung stattfindet. Aus der Fachli- teratur lassen sich weitere Ansätze für eine Definition heranziehen:

Das BBR definiert als Zwischennutzung jegliche „neue Formen der Ges- taltung und Nutzung auf brachgefallenen Flächen [...], die ohne Wechsel des Eigentümers und Änderung des Planungsrechts“ (BBR 2004: 4) für einen begrenzten Zeitraum stattfinden. Hierbei sei angemerkt, dass durch die Novellierung des Baugesetzbuches 2004 (§ 9, Abs. 2) die Möglichkeit eines Baurechts auf Zeit geschaffen wurde, womit Zwischennutzungen eine eigene planungsrechtliche Grundlage erhalten, ohne dass dadurch die für das Grundstück langfristig gewünschte spätere Nutzung er- schwert wird (vgl. Kunze 2004: 56).

Eißner und Heydenreich machen in ihrer Definition die Ergänzung, dass es sich bei Zwischennutzungen um die zeitlich beschränkte Aneignung von nicht mehr genutzten Grundstücken oder Gebäuden für einen ande- ren als den ursprünglichen Zweck handelt. Eine kommerzielle Ausrich- tung der Nutzung und die Zahlung einer Miete ist möglich, stellt aber keine Bedingung dar (vgl. Eißner und Heydenreich 2004: 8). Scheven stellt fest, dass die Zwischennutzung nicht auf Profit ausgelegt ist und deswegen nicht „den eigentlichen Erwartungen des Eigentümers“ (Sche- ven 2004: 43) an die Rentabilität seiner Immobilie entspricht.

Diesen Aspekt konkretisiert das EU-Forschungsprojekt Urban Catalyst in der Charakterisierung temporärer Nutzungen. Demzufolge erhält der Eigentümer einer zwischengenutzten Immobilie keine oder keine relevan- te Bezahlung für die Nutzung (vgl. Studio UC 2003: 3). Zwischennutzun- gen sind somit nicht Teil des offiziellen Verwertungszyklus einer Stadt. Wenn ein städtischer Raum brach fällt wird erwartet, dass er bald neu beplant, bebaut oder umgenutzt wird. Aus diesem Grund werden Zwi- schennutzungen oft mit Krise, Perspektivlosigkeit und Chaos assoziiert (vgl. Studio UC 2003: 4).

Eine verbindliche Zeitspanne für die Dauer von Zwischennutzungen gibt es nicht. Entscheidend ist, dass bereits „von vornherein klar ist, dass die Nutzung nur auf einen absehbaren Zeitraum begrenzt ist“ (Freitag et al. 1999: 9). In der Regel werden Nutzungen, die länger als zehn Jahre an- dauern, nicht mehr als temporäre Nutzung bezeichnet (vgl. Stattbau GmbH 2004: 4).

Habermann und Heydenreich grenzen die Vielzahl verschiedener Arten temporärer Nutzungen ein, indem sie die Unterscheidung in formelle und informelle Zwischennutzungen vornehmen. Informelle bzw. wilde Zwischennutzungen sind weitaus häufiger als formelle Zwischennutzun- gen und nahezu überall anzutreffen. Sie äußern sich in Form von Tram- pelpfaden, wilden Parkplätzen, Treffpunkten von Randgruppen, Spiel-

plätzen etc. und bemächtigen sich ohne Einverständnis des Eigentümers einer Fläche oder eines Gebäudes (vgl. Habermann und Heydenreich 2006: 2). Formelle Zwischennutzungen hingegen beruhen auf einer Ab- machung zwischen Raumpionieren und Eigentümern und spielen in der aktuellen Stadtentwicklungsplanung eine zunehmend wichtigere Rolle (vgl. ebd.).

Eigene Definition

Im Folgenden werden die Begriffe Übergangs-, Interims-, Zwischen- und temporäre Nutzung synonym verwendet. Nachfolgende Kriterien müs- sen erfüllt sein, damit sie für diese Untersuchung als Zwischennutzung gelten:

- Zwischennutzung bezeichnet den vorübergehenden Gebrauch leerstehender Gebäude oder Areale. Die Nutzung ist von vorn- herein zeitlich befristet.
- Die temporäre Nutzung steht zeitlich und räumlich zwischen der aufgegebenen und einer zukünftigen Nutzung. Sie stellt ei- ne Übergangslösung dar, die einen bestimmten Zeitraum über- brücken soll.
- Die Übergangsnutzung erfolgt durch einen anderen Nutzer als den Eigentümer und entspricht nicht den eigentlichen finan- ziellen Erwartungen des Eigentümers.
- Interimsnutzungen werden im Einvernehmen mit dem Eigen- tümer der Immobilie durchgeführt.
- Saisonale Nutzungen, die auf denselben Flächen wiederkehren, werden nur dann als Zwischennutzung angesehen, wenn sie tatsächlich als Zwischenlösung dienen. Unter den Begriff Zwi- schennutzung fallen keine saisonalen Nutzungen, die auf den- selben, eventuell dafür vorgesehenen, Flächen durchgeführt werden (Beispiele: Weihnachtsmärkte, Wochenmärkte, etablier- te Trödelmärkte).

2.1.2 Raumpioniere

Für den Begriff Raumpioniere gibt es ebenso wenig wie für den Begriff Zwischennutzung eine verbindliche Definition. Das Institut für Regional- entwicklung und Strukturplanung (IRS) verwendet Raumpioniere als einen Sammelbegriff für Aktivisten, die Freiräume auf dem Land oder in der Stadt besetzen und beleben (vgl. Website Coforum). Sie eignen sich brachgefallene oder entleerte Teilräume, die aus der Alltagswahrneh- mung und dem ökonomischen Verwertungszyklus der Stadt herausgefal- len sind an und setzen sie in Eigenverantwortung ökonomisch in Wert (vgl. Matthiesen 2005: 2). Aus den ehemals von der Öffentlichkeit gemie- denen Orten werden unter anderem Clubs, Plattenläden, Labels, Fanzi- nes, selbstkuratorisch bespielte Ausstellungsräume, (Kunst-) Zeitschrif- ten, Grafikstudios, Fashionshops oder Kunstprojekte (vgl. Lange und Steets 2005: 3).

Urban Catalyst bezeichnet Zwischennutzer – die Initiatoren temporärer Nutzungen – als Raumpioniere. Sie versuchen mit geringen Investitions- kosten ihre Ideen auf städtischen Brachen umzusetzen (vgl. Hinsemann und Preising 2004: 5). Meistens haben sie nur wenig oder gar kein Kapital zur Verfügung, sind aber sehr flexibel, engagiert und können gegebene Umstände für sich nutzen (vgl. Studio UC 2003: 12). Sie kennen sich mit Nischen und Selbsthelfersituationen aus und kompensieren das Fehlen finanzieller Ressourcen durch Zusammenarbeit und Kooperation mit an- deren Raumpionieren. Deswegen treten Zwischennutzungen oft in Cluster auf und profitieren von non-monetären Tauschverhältnissen (vgl. ebd.).

Abhängig von ihrem Hintergrund und der Motivation, problematische städtische Orte temporär zu beleben, unterscheidet das Studio Urban Cata- lyst (vgl. 2003: 10) folgende Typen der Raumpioniere:

- Start ups: Patentinhaber, Erfinder, neue Ökonomie etc.: Sie ha- ben das Ziel den Status des Temporären zu überwinden und in die lokale Ökonomie integriert zu werden.
- Migranten: Personen, die temporär nicht in stabile soziale Netzwerke oder Beschäftigungsstrukturen integriert sind, diese Integration aber mittelfristig suchen.
- Systemflüchtlinge: Ideologisch motivierte Menschen, die sich in die alternative Ökonomie zurückziehen.
- Teilzeitaktivisten: Personen mit festem Beruf und Einkommen, die ihr Leben mit Erfahrungen außerhalb der etablierten Struk- turen bereichern wollen.

2.1.3 Kulturwirtschaft

Auch für den Begriff Kulturwirtschaft hat sich noch keine abschließende Definition etabliert. Eine eindeutige Begriffsbestimmung fällt schwer, weil Kulturwirtschaft eine „facettenreiche Gruppe kulturbezogener und vielfach eng miteinander verflochtener Wirtschaftsbranchen ist“ (Website Kulturwirtschaft NRW). Eine genaue Zuordnung von Branchen zur Kul- turwirtschaft gestaltet sich kompliziert, da die Frage nach ihrer sachlichen Abgrenzung aufgrund fehlender Lobby kontrovers diskutiert wird (vgl. Kunzmann 1995: 324).

Nach dem 3. Kulturwirtschaftsbericht für das Land Nordrhein-Westfalen umfasst die Kulturwirtschaft als „ausdifferenzierte Gruppe von oft mit- einander verflochtenen Wirtschaftsbranchen, [...] im engeren, weiteren und ergänzenden Sinne alle Wirtschaftsbetriebe und erwerbswirtschaft- lichen Aktivitäten, die für die Vorbereitung, Schaffung, Erhaltung und Sicherung von künstlerischer Produktion, Kulturvermittlung und/oder medialer Verbreitung Leistungen erbringen oder Produkte herstellen o- der veräußern“ (MWMTV 1998: 1)6. Kunzmann (2006: 3) benennt die Teilmärkte der so definierten Kulturwirtschaft als:

- Darstellende Kunst und Unterhaltungskunst (Oper, Tanz, Thea- ter, Zirkus,
- Varieté usw.),
- Bildende Kunst (Malerei, Plastik, Design, Architektur usw.),
- Literatur (Verlage, Buchproduktion usw.),
- Musikwirtschaft (Musikveranstalter, Instrumentenbau usw.) und
- Audio-visuelle Medien (Film, TV, Photographie, Rundfunk usw.).

Kulturwirtschaft ist eine eigene Wirtschaftsbranche und meint nicht die institutionell geförderte Kultur (vgl. Ebert et al. 1995: 312). Sie steht im engen Kontext mit der europäischen Stadt und ihrer Entwicklung, denn Kulturwirtschaft sichert alte und schafft neue Arbeitsplätze insbesondere in Klein- und Mittelbetrieben (vgl. Kunzmann 2003: 14). Der hohe Grad der Ortsgebundenheit dieser Betriebe und die Vorliebe für ungewöhnli- che Standorte wie brachgefallene Baustrukturen stärken dauerhaft lokale Ökonomien und setzen heruntergekommene Stadtquartiere wieder in Wert (vgl. ebd.).

Aufbauend auf diese Ausführungen sind kulturwirtschaftliche Zwi- schennutzungen alle temporären Nutzungen, die künstlerischen Frei- raum ermöglichen, Kultur fördern, sich im Bereich der Jugend- bzw. Sze- nekultur bewegen und kreative Beschäftigungen mit dem Umgang des baukulturellen Erbes der Stadt beinhalten.

2.1.4 Brache

Der Ursprung des Begriffs Brache liegt in der vorindustriellen Landbe- wirtschaftung. Der Begriff bezeichnet Flurstücke, die im Rahmen der Zwei-, Drei- oder Mehrfelderwirtschaft umgebrochen und nicht bestellt werden. Der Boden wird dabei sich selbst überlassen. Das Brachliegen der Felder war ein notwendiges Element im landwirtschaftlichen Zyklus, um zu neuer Fruchtbarkeit im Wechsel der Jahreszeiten und Nutzungen zu gelangen (vgl. Hoffmann-Axthelm 1998: 54). Im städtischen Kontext wird der Begriff Brache seit den 1970er Jahren für Räume im Siedlungsbe- reich verwendet.

Während in der Landwirtschaft das Brachliegen ein geplanter Prozess ist, welcher der Regeneration des Bodens dient, weist eine städtebauliche Brache andere Merkmale auf. Die städtische Brache bezeichnet aufgege- bene, liegengelassene, von ursprünglichen Nutzungen teilweise oder vollständig verlassene Wohn-, Gewerbe-, Industrie-, Verkehrs- oder Mili- tärflächen und deren Gebäude, die von Investoren, Eigentümern und Nutzern vernachlässigt werden. Sie sind für eine unbestimmte Zeit aus ihrem herkömmlichen Nutzungsstereotyp und somit aus dem wirtschaft- lichen Produktionszyklus herausgefallen (vgl. Kil 2004: 125). Selbst wenn planungsrechtlich die ehemaligen Zweckbestimmungen bestehen bleiben (z. B. Verkehrs-, Wohn- oder Gewerbefläche), sind Stadtbrachen zunächst undefiniert bzw. frei von Funktion und werden auf unbestimmte Zeit zu Zwischenräumen in der Stadt (vgl. Kruse 2003: 23 f.), die Gefahr laufen, marginalisierte Funktionen wie z. B. Müllablagerung zu übernehmen (vgl. Hauser 2001: 65). Durch diese scheinbare Funktionslosigkeit haftet der städtischen Brache in der Gesellschaft ein negatives Image7 an. Sie stehen folglich für einen Bruch mit der traditionellen Flächennutzung und für den Niedergang von einstmals prosperierenden Regionen (vgl. Kowarik 2003: 102). Brachen „symbolisieren den Zerfall des Glaubens an den Fortschritt“ (Hauser 2001: 64), was ausschlaggebend für die Akzep- tanzprobleme bei Investoren ist. Gerade wenn Brachen über einen länge- ren Zeitraum nicht genutzt werden, vermitteln sie durch ihren ruinösen Zustand ein negatives Erscheinungsbild (vgl. Hoffmann 1997: 19).

Feldkeller misst Brachflächen eine besondere Rolle in der Stadtentwick- lung bei, weil sie die „Bruchstellen in der Geschichte der Stadt am Über- gang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft“ (2001: 7) darstellen. Auch Oswalt beschreibt den positiven Effekt von Brachen und bezeichnet das Brachliegen von Flächen innerhalb einer Stadt als genauso unver- zichtbar, wie das Brachliegen von Ackerflächen für die Mehrfelderwirt- schaft. Er betont die Gemeinsamkeiten, die in einer qualitativen Verbesse- rung der Fläche durch ein zeitweiliges Liegenlassen zu sehen sind. „Erst die städtische Brache erlaubt die Erneuerung der Stadt“ (Oswalt 2000: 60). Seiner Ansicht nach stimulieren städtische Brachen die Kreativität von Bewohnern und eröffnen innovative Chancen und Perspektiven für die Stadtentwicklung. Eine Brache bedarf einer Neuorientierung in der Pla- nung. Bei knappen öffentlichen Kassen bedeutet dies die Förderung neu- er, kreativer Ansätze. Somit kann die Brache als „Keimzelle für einen an- deren Urbanismus“ (Oswalt 2002: 45) bezeichnet werden.

2.2 Brachen und kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen

Nachdem im vorangegangenem Abschnitt Zwischennutzungen und Bra- chen als Orte der Übergangsnutzungen definiert worden sind, widmet sich der nächste Abschnitt den genauen Standortvoraussetzungen tempo- rärer Nutzungen.

Ehemalige Produktionsstandorte, aufgegebene Infrastruktureinrichtun- gen, leerstehende Ladenlokale, Gewerbe- und Büroflächen sowie Woh- nungsleerstand regen die Kreativität von Raumpionieren an und können zu Laboratorien für neue Ideen von Stadtentwicklung werden (vgl. Over- meyer 2005: 48). Doch nicht jede Brache ist per se für temporäre Projekte gleichermaßen geeignet. Im Folgenden werden die Kriterien, die Pioniere an die Räume stellen, erläutert. Anschließend wird dargelegt, welche Bra- chen aufgrund ihrer ökonomischen Verwendbarkeit überhaupt für Zwi- schennutzungen geeignet sind. Im Anschluss daran erfolgt eine Aufstel- lung, in welcher Form sich Zwischennutzung und Brache gegenseitig be- einflussen.

2.2.1 Kriterien der Flächen- und Raumauswahl der Raumpioniere

Welche Räume sich Raumpioniere für ihre Zwischennutzungsprojekte aneignen, hängt von vielen verschiedenen Kriterien (z. B. Größe und La- ge) ab, die von Projekt zu Projekt variieren können. Dennoch lassen sich fünf Kernkriterien identifizieren:

Eigentumsverhältnisse

Zwischennutzungen sind nur im Einvernehmen mit dem Eigentümer der Immobilie möglich. Dies setzt voraus, dass der Eigentümer bekannt sowie verhandlungsfähig ist und zu einer Kooperation mit den Raumpionieren bereit ist, auch wenn die von ihnen initiierten Zwischennutzungen nicht den Erwartungen des Eigentümers an die Rentabilität der Immobilie ge- recht werden (vgl. Eißner und Heydenreich 2004: 70f.).

Kooperationsbereitschaft der Behörden

Zwischennutzungen sind auf Brachflächen nur im Rahmen des bestehen- den Planungsrechtes möglich. Fällt die temporäre Nutzung aus dem Rahmen des planungsrechtlich Möglichen, ist sie nur durchführbar, wenn seitens der Planungsämter und politischen Entscheidungsträger Koopera- tionsbereitschaft in Hinsicht auf eine unbürokratische Umgehensweise mit ihnen besteht (Studio UC 2003: 17).

Bodenkontaminierung

Bodenkontaminierungen durch vorangegangene Nutzungen können die Verwendungsmöglichkeiten einer Brache für Zwischennutzungen ein- schränken. Da die Entnahme von Bodenproben und die entsprechende Analytik teuer (vgl. DSSW 1998: 1) und für Raumpioniere nicht leistbar sind, sollten bei Ungewissheit über mögliche Bodenkontaminierungen die vorherigen Nutzungen der Brache bekannt sein, um Risiken besser ab- schätzen zu können (vgl. Eißner und Heydenreich 2004: 70).

Investitionskosten

Raumpioniere sind oftmals finanzschwache Akteure und nicht in der La- ge große Investitionen zu tätigen. Bei der Nutzung von Brachen sind des- halb folgende Fragen vorab zu klären: Welche Gegenleistung fordert der Eigentümer von den Raumpionieren? Verfügt die Brache über eine intak- te Infrastruktur (z. B. Strom, Wasser, Abwasser) und welche Reparatur- kosten sind einzuplanen (vgl. Studio UC 2003: 17)? Muss die Fläche erst von Müll und Bauschutt befreit werden (vgl. Eißner und Heydenreich 2004: 70)?

Verwertungsdruck

Der wichtigste Faktor für die Belebung einer Brache mit Zwischennut- zungen ist der ökonomische Verwertungsdruck, der auf ihr lastet. Räu- me, die von finanzstarken Investoren über einen längeren Zeitraum unbe- rücksichtigt bleiben, bilden Nischen für eine alternative Raumaneignung durch kreative Pioniere. In Räumen, in denen kommerzielle Projekte mit einem hohen Investitionsvolumen auf Brachen streben, wird es schwierig sein alternative Nutzungen zu etablieren (vgl. Studio UC 2003: 7). Hier müssen die Zeithorizonte, die den Raumpionieren zur Verfügung stehen, klar definiert und groß genug sein (vgl. ebd.).

2.2.2 Brachentypen und ihre Verwendbarkeit für Zwischennutzungen

Der ökonomische Verwertungsdruck einer Brache ist der wichtigste Fak- tor für die Entstehung von Zwischennutzungen. Dieser entwickelt sich in Abhängigkeit von der Prosperität einer Stadt. Dennoch wird bei der Ty- pisierung unterschiedlicher Brachen bewusst auf die Auseinandersetzung über die Unterschiede von Bedeutung und Funktion der Brache in wach- senden und schrumpfenden Städten verzichtet. Das EU- Forschungsprojekt Urban Catalyst untersuchte sowohl wachsende als auch schrumpfende Städte auf Potenziale für temporäre Nutzungen und kam zu dem Ergebnis, dass Zwischennutzungen sowohl unter schrumpfenden als auch wachsenden Voraussetzungen entstehen und positive Wirkun- gen auf die Stadtentwicklung entfalten (vgl. Studio UC 2003: 2f.). In wachsenden Städten haben es Raumpioniere schwer, geeignete Flächen zu finden. Doch selbst dort lassen sich Flächen unterschiedlicher Ver- wendbarkeit definieren.

Eine für diese Arbeit relevante Typisierung von Brachflächen nach ihrer Verwendbarkeit macht Heyer8 in seiner ergänzten und veränderten Typi- sierung von Dransfeld (2005). Dabei differenziert Heyer nach fünf unter- schiedlichen Typen:

Typ I: Gute Verwendbarkeit

Die Flächen des Typs I sind marktfähige Flächen, die sich ohne Eingreifen am Markt platzieren lassen. Sie sind relativ selten und aufgrund des sehr hohen ökonomischen Verwertungsdrucks für Zwischennutzungen nicht relevant.

Typ II: Fläche mittlerer Verwendbarkeit

Die Flächen dieses Typs besitzen ein hohes wirtschaftliches Potenzial, werden aber nicht unmittelbar wiedergenutzt, weil dies durch ergebnis- lose Vertragsverhandlungen oder eine noch ungewisse planungsrechtli- che Situation gehemmt wird. Sind diese Probleme gelöst, werden sie durch den Markt geregelt. Für temporäre Nutzungen sind diese Flächen nur dann relevant, wenn der Zeithorizont bis zur Marktreife der Brachen klar formuliert werden kann und groß genug ist oder wenn Zwischen- nutzungen in die Entwicklungsstrategie der Planungen mit einbezogen werden.

Typ III: Fläche mäßiger Verwendbarkeit

Die Potenziale der Flächen dieses Typs sind als gut zu bezeichnen. Jedoch lässt die aktuelle Marktsituation aufgrund fehlender Bedarfsnachfrage die Vermarktung aller Flächen nicht zu. Die Flächen werden in Hinsicht auf die geplante Nutzung mittelfristig vorbereitet. In diesem Zeitraum stehen sie für Übergangsnutzungen zur Verfügung, die eine bessere Vermark- tung der Flächen bewirken können.

Typ IV: Fläche geringer Verwendbarkeit

Flächen dieses Typs haben durchaus noch Entwicklungspotenziale, ob- wohl sie auch langfristig nicht in den Zyklus der Stadtökonomie integ- riert werden, weil eine Nachfrage nach diesen Flächen unabsehbar ist. Für Zwischennutzungen bieten sie ein großes Potenzial, weil sie hier langfristig keine Konkurrenz von kommerziellen Nutzungen zu fürchten haben. Selbst eine Etablierung der Zwischennutzung scheint möglich.

Typ V: Problemflächen

Die Flächen dieses Typs haben für kommerzielle Projekte so gut wie kei- ne Vermarktungschancen mehr. Um diese Flächen muss sich der Altei- gentümer oder die öffentliche Hand intensiv kümmern, was hohe unren- tierliche Kosten nach sich zieht. Hier besteht für Übergangsnutzungen ein großes Potenzial, wenn die unter 2.2.1 genannten Kriterien positiv bewer- tet werden können.

2.2.3 Gegenseitiger Einfluss von Brache und Zwischennutzung

Zwischennutzungen entstehen nicht losgelöst von ihrer Umgebung. Meistens stehen sie sogar in engem Zusammenhang mit ihr und prägen den Raum nicht nur während der Dauer der Nutzung, sondern nehmen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Immobilie und Umgebung. Das Studio Urban Catalyst hat fünf verschiedene Zusammenhänge zwischen Zwischennutzungen und Entwicklung der Brache (2003: 14f.) herausge- stellt:

Zwischennutzung als Interimslösung

In dieser Form hat die temporäre Nutzung weder einen Bezug zu der vorherigen noch zu der künftigen Nutzung. Sie füllt in der vorhandenen Zeit den leeren Raum mit Aktivitäten..

Zwischennutzung als Impulsgeber

Wie aus der Bezeichnung zu entnehmen, geht in diesem Fall von der Zwischennutzung ein Impuls auf die Dauernutzung aus. Das neue Nut- zungskonzept greift inhaltlich auf die temporäre Nutzung zurück.

Zwischennutzung als Verstetigung

Bei diesem Typus verstetigt sich die Zwischennutzung. Eine zunächst temporär angedachte Nutzung geht übergangslos in eine Dauernutzung über. Es ist fraglich, ob hier von einer Zwischennutzung gesprochen wer- den kann, entscheidend ist allerdings, unter welchen Voraussetzungen die Nutzung begonnen hat.

Nebeneinander von Zwischennutzung und etablierter Nutzung

Parallel zu der Durchführung der temporären Nutzung wird eine Dauer- nutzung eingerichtet. Die Zwischennutzung bleibt weiterhin bestehen, wird aber in der Regel in einem geringeren Ausmaß durchgeführt. In die- sem Fall profitieren beide Nutzungen voneinander: Die permanente Nut-

Einfluss auf Entwicklung der Umgebung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Einfluss Brache & Zwischennutzung

zung sorgt für eine stabile Struktur und die temporäre Nutzung fungiert als Publikumsmagnet.

Zwischennutzung als Ersatz

Werden permanente Nutzungen für einen bestimmten Zeitraum unter- brochen, können Zwischennutzungen vorübergehend ihre Funktion ü- bernehmen. Die temporäre Nutzung deckt in diesem Fall den bestehen- den Bedarf.

2.3 Akteure kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen

Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Standortvoraussetzungen für Zwischennutzungen und die gegenseitigen Einflüsse von temporärer Nutzung und Standort beschrieben. Neben diesen harten Faktoren spie- len die weichen, nämlich die an Übergangsnutzungen beteiligten Akteu- re, eine tragende Rolle. Nachfolgend werden die einzelnen Akteure, ihr Motivationshintergrund und ihre Einflussnahme auf die Zwischennut- zung genannt.

2.3.1 Raumpioniere

Raumpioniere haben das Ziel nicht genutzte Orte mit ihren Ideen zu fül- len, um ihre Visionen von Stadt zu entfalten. Sie agieren lokal und flexi- bel, aktivieren mit geringen Mitteln bestehende Infrastrukturen, Bauten sowie Flächenreserven (vgl. Oswalt 2000: 1) und schaffen somit mit einem Minimum an Substanz ein Maximum an Intensität städtischen Lebens. Taktisch gehen sie dabei wie ein Guerilla vor und nutzen räumliche Mög- lichkeiten, die sich auftun; schlagen also dort zu, wo der Immobilien- markt schwach ist und sie eine Chance sehen ihre Klientel zu erreichen (vgl. Haydn und Temel 2004: 4). Dabei steht die soziale Profitmaximie- rung im Vordergrund. Wie ein Guerilla ist der Raumpionier von seiner Idee „so überzeugt und begeistert, dass er sie auch wider jede ökonomi- sche Vernunft durchzieht und Mitstreiter gewinnen kann“ (ebd.).

Das Studio Urban Catalyst (2003: 10f.) hat die Motivation der Raumpio- niere zur Durchführung temporärer Nutzungen untersucht. Dabei hat es abhängig von ihrem Verhältnis zur Gesellschaft drei Bedeutungen bzw. Funktionen von Zwischennutzungen für die Raumpioniere herausgestellt (die Bedeutungen können sich auch überlagern):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Zwischennutzung als Nische

Für einen Teil der Raumpioniere stellen temporäre Nutzungen Nischen bzw. Refugien dar, in die sie flüchten. Sie verlassen absichtlich die gesell- schaftlich etablierte Welt einer Stadt, um mit Zwischennutzungen eine alternative, z. T. auch illegale Ökonomie als Gegenwelt aufzubauen. Raumpioniere dieser Art sind Idealisten, Migranten oder Betreiber gesell- schaftlich nicht akzeptierter Gewerbe (Prostitution, Drogenhandel etc.).

Zwischennutzung als Parallelwelt

Ein Teil der Raumpioniere sind gut situierte Menschen, die einem gere- gelten Beruf nachgehen und die Zwischennutzungen in der Freizeit als alternative Lebenswelt zum Beruf brauchen. Dies können u. a. bürger- schaftliche Initiativen, Jugendkulturen oder Vereine sein. Die so initiier- ten Zwischennutzungen sind meist ideell geprägt.

Zwischennutzung als Sprungbrett

Für den dritten Teil der Raumpioniere sind Zwischennutzungen ein Sprungbrett, mit dem sie sich selbst eine gesellschaftlich anerkannte Tä- tigkeit aufbauen wollen. Die Zwischennutzer sind Migranten, Existenz- gründer oder Start-ups. Zwischennutzungen dieser Art haben einen öko- nomischen Hintergrund.

2.3.2 Eigentümer

In Zwischennutzungsprojekten spielen die Eigentümer eine ausschlagge- bende Rolle. Ohne sie können keine bzw. nur illegale Zwischennutzun- gen durchgeführt werden. Die Eigentümer haben direkten Einfluss auf die Übergangsnutzung, indem sie entscheiden, ob und für welche Zwe- cke sie ihre Immobilie den Raumpionieren überlassen. Sie stellen den Raumpionieren ihre Brache zur Verfügung, weil sie für den Zeitraum der temporären Nutzung auf Kostendeckung spekulieren. Aufgrund fehlen- der Nachfrage entstehen dem Besitzer einer Immobilie finanzielle Belas- tungen, denn Kosten für Instandhaltungs- und Sicherungsmaßnahmen sowie Betriebskosten fallen auch bei Nichtvermietung an und sind vom Besitzer zu tragen. Insofern können die Besitzer aus der Zwischennut- zung einen Nutzen ziehen, indem die Raumpioniere entweder eine Miete zahlen, die nicht marktkonform ist oder die Kostenmiete tragen (vgl. Os- walt et al. 2001: 1). Somit kann der Eigentümer selbst in ökonomisch problematischen Zeiten seine Immobilie kostendeckend betreiben. Ein weiterer Vorteil für den Eigentümer ist darin zu sehen, dass durch die

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Motivation der Raumpioniere

Quelle: Eigene Darstel- lung nach Studio UC

Nutzung seines Eigentums seitens der Raumpioniere dem Verfall und Vandalismus der Immobilie vorgebeugt wird. Geschieht diese Nutzung auch noch öffentlichkeitswirksam, profitiert der Eigentümer aus der ver- stärkten Wahrnehmung seiner Immobilie sowie der Schaffung einer spe- zifischen Identität. Durch einen solchen Imagewandel des Ortes kann ein positiver Vermarktungseffekt erzielt werden (vgl. ebd.).

Trotz dieser Vorteile scheuen sich viele Eigentümer davor ihr Eigentum für kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen freizugeben. Gründe hier- für sind in der Angst vor dem Verlust der Kontrolle über das Eigentum zu nennen. Da sich temporäre Nutzungen oft im Bereich des nicht Plan- baren und Spontanen bewegen, fürchten viele Eigentümer, dass sie eine Eigendynamik entwickeln, sich in der lokalen Öffentlichkeit etablieren und verstetigen. Die Entwicklung einer Zwischennutzung zur Dauernut- zung würde die Entwicklung einer höherwertigen Planung gefährden.

2.3.3 Immobilienwirtschaft

Projektentwickler der Immobilienwirtschaft verfolgen das Ziel ein für die Brache entwickeltes Nutzungskonzept möglichst effektiv umzusetzen und Investoren sowie Nutzer für das Projekt zu gewinnen. Für sie sind Zwischennutzungen Mittel zum Zweck. Während der Planungs- und Im- plementierungsphase erhoffen sie sich einen Marketingvorteil durch temporäre Nutzungen. Es werden gezielt kulturwirtschaftliche Nutzun- gen mit großer Öffentlichkeitswirkung und positivem Image zugelassen, um das Areal in der Stadt als Location bekannt zu machen (vgl. Oswalt 2000: 69; Hervorhebung im Original) und das Projekt in der Öffentlichkeit zu etablieren (vgl. Langheiter 2003: 15). In der Startphase der Projekte kann Leerstand Erfolglosigkeit symbolisieren und potenzielle Investoren abschrecken. Übergangsnutzungen aus dem kulturellen Sektor mit Publi- kumswirkung erzeugen das Bild eines gut angenommenen Standortes.

Dennoch haben viele Projektentwickler Akzeptanzschwierigkeiten mit Zwischennutzungen. In ihren Augen nutzen sie die infrastrukturell gut erschlossenen Flächen nicht adäquat. Zudem sehen sie in Zwischennut- zungen ein Hindernis für eine zügige Umsetzung ihrer Planungskonzepte (vgl. Tiggemann 1995: 51). Projektentwickler befürchten, dass erfolgreiche kulturwirtschaftlich orientierte Raumpioniere die Ambition haben, die Zwischennutzung zu etablieren und dazu über Medien die öffentliche Meinung für sich gewinnen.

2.3.4 Lokalpolitik

Für die Lokalpolitik bedeuten Zwischennutzungen einen neuen Umgang mit Unsicherheiten. Bei planerischen Unwägbarkeiten können zunächst zeitlich befristete Lösungen für eine Fläche gewählt werden, die solange bestehen, bis Nutzungen, die dem Entwicklungsziel der Fläche entspre- chen, gefunden werden. Auf diese Weise können verschiedene Nutzun- gen in bisher monofunktionalen Räumen ausprobiert werden. Dies birgt aufgrund der entstehenden Nutzungsmischungen das Potenzial, mono- strukturell organisierte Quartiere nachträglich zu durchmischen und kompakt zu gestalten (vgl. Feldtkeller 2001: 39).

Den Planern bleibt aber formell keine andere Möglichkeit mit Zwischen- nutzungen anders als mit herkömmlichen Nutzungen zu verfahren. Spielräume ergeben sich lediglich durch Duldung von Zwischennutzun- gen sowie durch die jüngste Novellierung des Baurechts und der Mög- lichkeit in Bebauungsplänen ein Baurecht auf Zeit einzuräumen (siehe Kap. 2.4.1). Insofern übernimmt die Kommune in Zwischennutzungspro- jekten die Rolle des Ermöglichers. Sie „fungiert im Idealfall als verlässli- cher Partner und Vermittler zwischen den Akteuren, deren Verhältnis häufig von gegenseitigem Misstrauen geprägt ist“ (Hertlein 2003: 5). Ne- ben der Beratung in rechtlichen Fragen können sie temporäre Nutzungen durch die Einbindung in Stadtentwicklungsverfahren gezielt fördern.

2.3.5 Schlüsselagenten

Schlüsselagenten nehmen bei der Entstehung von Projekten eine beson- dere Rolle ein. Sie sind meist unbezahlte Individuen ohne institutionellen Hintergrund und verfolgen ideelle Ziele (vgl. Studio UC 2003: 5). Außer- dem haben sie Erfahrungen mit ähnlichen Projekten und verfügen über organisatorische und soziale Netzwerke, von denen die Raumpioniere profitieren (vgl. Oswalt und Sandhaus 2002: 28). Schlüsselagenten kennen sich mit der Gesetzgebung aus und helfen gerade in der Phase der Pro- jektinitiierung mit ihrem Wissen und ihren Kontakten die Zwischennut- zung aufzubauen. Sie steigen aus dem Projekt aus, nachdem sie den Zu- gang zu den Orten geschaffen und den Impuls für die Nutzung gegeben haben (vgl. ebd.). Aber sie bleiben als Vermittler zwischen den Raumpio- nieren und der Kommune sowie den Eigentümern verfügbar und helfen somit kulturell und strukturell bedingte Kommunikationsprobleme zu überwinden (vgl. ebd.). In einer zivilgesellschaftlich ausgerichteten Stadt- entwicklung können Schlüsselagenten als Multiplikatoren bürgerschaftli- chen Engagements wirken.

2.3.6 Medien

Die Medien nehmen bei temporären Nutzungen mit kulturellem Bezug eine wichtige Rolle ein. Sie basteln am Image einer kreativen Stadt und berichten bevorzugt über spannende Übergangsnutzungen, statt über die klassische Kultur und erhöhen damit den Stellenwert des Provisorischen (vgl. Gespräch Overmeyer). Eine positive Berichterstattung über Zwi- schennutzungsprojekte führt nicht nur zu einem erhöhten Bekanntheits- grad, sondern auch zur erhöhten Frequentierung der Standorte und Ak- zeptanz der dort stattfindenden Aktivitäten (vgl. Studio UC 2001: 261). Meldungen in den Lokalmedien klären die Quartiersbewohner darüber auf, was in ihrer Nachbarschaft geschieht und verhelfen den temporären Projekten zu einem positiven Image und der Abkehr vom Status einer marginalen Notlösung.

Die besondere Konstellation aus ungewöhnlichen Orten und kulturellem Inhalt bewirkt eine überdurchschnittliche Medienaufmerksamkeit (vgl. Bradke et al. 1999: 312f.). Dies bleibt nicht ohne Wirkung auf die beteilig- ten Akteure. Die Raumpioniere nutzen das mediale Interesse als Eigen- werbung und für die Suche nach Unterstützung und Sponsoring. Projekt- entwickler und Eigentümer von Brachen engagieren sich für kulturwirt- schaftliche Übergangsnutzungen, weil sie sich aus der Bekanntmachung der Projekte eine bessere Vermarktung versprechen.

Doch es gehen aus Sicht der Eigentümer nicht nur positive Effekte aus dem öffentlichen Interesse an derartigen Projekten hervor. Größere Pro- jekte, wie die Zwischennutzung des Palastes der Republik, sorgen sogar in auflagestarken Zeitungen mit bundesweiter Verbreitung für Schlagzei- len (u.a. „Der Lampenladen brummt“ in Süddeutsche Zeitung, 09.11.2004;

„Rettet den Palast der Republik!“ in Die Zeit, 19.08.2004) und beeinflus- sen somit den politischen Willensbildungsprozess. Der Bundestagsbe- schluss, der den Abriss des Berliner Volkspalastes spätestens bis zum Jah- re 2005 vorsah, wurde aufgrund der erfolgreichen Zwischennutzungen (nahezu 90 Veranstaltungen mit mehr als 50.000 Besuchern) und ihrer regelmäßigen Berichterstattung wiederholt diskutiert, wodurch der Ab- riss auf 2006 verschoben wurde (vgl. Website Volkspalast).

Unabhängig von der Größe der Projekte scheuen viele Eigentümer vor kulturbezogenen Zwischennutzungen zurück. Sie befürchten, dass die Übergangsnutzung durch die Medien Bekanntheit und Eingang in die Lokalökonomie erhält und somit zu schlechter Presse führen würde, wenn die Raumpioniere kommerziellen Investoren weichen müssten.

2.4 Rechtliche und organisatorische Aspekte kulturwirtschaft- licher Zwischennutzungen

Rechtlich gesehen bestehen im Handlungsfeld kulturwirtschaftlicher Zwischennutzungen für die Akteure keine andere Möglichkeit mit tem- porären anders als mit dauerhaften Nutzungen umzugehen. Aus diesem Grund werden im folgenden Abschnitt zunächst die formellen und in- formellen Möglichkeiten der Legitimierung von Übergangsnutzungen beschrieben. Anschließend werden bau- und nutzungsrechtliche Aspekte von Zwischennutzungen dargelegt und schließlich ihre organisatorische Struktur erörtert.

2.4.1 Formelle und informelle Steuerungsmöglichkeiten von Zwischen- nutzungen

Die Novellierung des Baugesetzbuches in der Fassung vom 24. Juni 2004 stellt den Kommunen mehrere Möglichkeiten zur Verwirklichung von Zwischennutzungen zur Verfügung. In diesem Zusammenhang sind die Einführung des Baurechts auf Zeit 9 und des Stadtumbaus in das besondere Städtebaurecht relevant. Neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Baugesetzbuches existieren weitere Möglichkeiten, Zwischennutzun- gen rechtlich zu fassen. Dies sind vor allem Rahmenpläne sowie privat- rechtliche und öffentlich-rechtliche Verträge.

[...]


1 Z. B. BBR (Hrsg.) 1999: Konversion – städtebauliche Möglichkeiten durch Umwidmung militärischer Einrichtungen. Bonn

2 Urban Catalyst ist ein EU-Forschungsprojekt über temporäre Nutzungen als Strategie der Reaktivierung städtischer Brachflächen. Es wurde von Prof. Philipp Oswalt und Dipl.-Ing. Klaus Overmeyer initiiert und mit einem Budget von 1,5 Millionen Euro über den Zeitraum von April 2001 bis März 2003 durchgeführt. Untersucht wurden die Städte Amsterdam, Berlin, Helsinki, Neapel und Wien, um neue Instrumente und Methoden zur Integration temporärer Nutzungen in die formelle Stadtplanung zu entwickeln (vgl. Website Urban Catalyst). Nach Beendigung des Projektes wurde das Studio Urban Cata- lyst gegründet, um weitere Forschungen zu diesem Thema anzustellen (vgl. Website Studio UC).

3 www.zwischennutzungsagentur.de

4 Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Arbeit lag keine Veröffentlichung der Studie, son- dern lediglich ein nicht zitierfähiger Entwurf vor. Die Studie wurde am 6. März 2007 herausgegeben.

5 Im Forum Baulandmanagement kooperieren über 35 Städte und Gemeinden, die kom- munalen Spitzenverbände und Wohnungsbaugesellschaften, um Arbeitshilfen zum Thema bedarfsgerechte Baulandbereitstellung zu geben.

6 Im aktuellen 4. Kulturwirtschaftsbericht aus dem Jahr 2002 wird auf die Definition von 1995 zurückgegriffen.

7 Der Begriff Image stammt aus dem Englischen und Französischen und bedeutet Ein- druck oder Bild. Im Rahmen dieser Arbeit sind damit raumbezogene Images gemeint. Sie sind die Gesamtheit aller Aussagen, die zur Charakterisierung eines Raumes sowie der dort verorteten Individuen und sozialen Gruppen verwendet werden. Das Image eines Stadtteils beeinflusst individuelle und Investitionsentscheidungen und wirkt sich somit als Standortfaktor aus (vgl. Zimmermann 1975: 23).

8 Heyers Typisierung von Brachflächen nach ihrer Verwendbarkeit bezieht sich nicht auf Zwischennutzungen, sondern auf die allgemeine ökonomische Verwertbarkeit. Der hergestellte Bezug zu Zwischennutzungen sind Ergänzungen des Autors.

9 „Unter Baurecht auf Zeit wird eine bauliche Nutzbarkeit verstanden, die entweder von vornherein zeitlich befristet oder aber auflösend bedingt ist. Darüber hinaus ist von Baurecht auf Zeit auch dann die Rede, wenn die Gemeinde im Falle der Aufgabe der Nutzbarkeit berechtigt ist, das Nutzungsrecht durch Aufhebung oder Änderung des Bebauungsplanes entschädigungslos zu entziehen“ (Janning 2003: 1).

Ende der Leseprobe aus 140 Seiten

Details

Titel
Raumpioniere Ruhr - Stadtentwicklung durch kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen
Untertitel
Eine Strategie für das Ruhrgebiet?
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
140
Katalognummer
V150478
ISBN (eBook)
9783640626359
Dateigröße
1991 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zwischennutzung, Interimsnutzung, Raumpioniere, Kulturwirtschaft, Stadtentwicklung, Regionalentwicklung, Brache, Flächenrecycling, Basel n/t Areal, Amsterdam Kinetisch Noord, Berlin RAW-tempel, Kopenhagen Christiania
Arbeit zitieren
Dipl.-Ing. Nenad Rosic (Autor:in), 2007, Raumpioniere Ruhr - Stadtentwicklung durch kulturwirtschaftliche Zwischennutzungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150478

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