Die Gründung des Staates Israel


Magisterarbeit, 2008

87 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die erste Alija (1881-1903) und der »Alte Jischuv«

3. Die Geburt des politischen Zionismus
3.1 »Der Judenstaat« von Theodor Herzl
3.2 Erster Zionistenkongress und die zweite Alija (1904–1914)
3.3 Die Zionistische Weltorganisation (ZWO) Zwischenzusammenfassung

4. Erster Weltkrieg und die Balfour- Deklaration
4.1 Die Hussein- McMahon- Korrespondenz und das Sykes- Picot- Abkommen
4.2 Die Situation des Jischuv im Ersten Weltkrieg
4.3 Die Balfour- Deklaration
4.4 Die Pariser Friedenskonferenz und das Übereinkommen zwischen Weizmann und Feisal

5. Das britische Mandat über Palästina Zwischenzusammenfassung

6. Innere Auseinandersetzungen und die jüdische Selbstverteidigung
6.1 Die Ausschreitungen gegen Juden 1920
6.2 Die Unruhen von 1929

7. Erste jüdische Selbstverwaltungsorgane, die Histadrut und die Jewish- Agency Zwischenzusammenfassung

8. Die dreißiger Jahre
8.1 Die Flucht aus Europa
8.2 Die arabische Revolte 1937 und die Peel- Kommission
8.3 Die Stärkung der Hagana und die Bildung des Irgun
8.4 Die St. James’s- Konferenz und das Weißbuch 1939 Zwischenzusammenfasung

9. Der Zweite Weltkrieg
9.1 Das Biltmore- Programm und der Holocaust
9.2 Der Großmufti von Jerusalem bei Adolf Hitler
9.3 Die Jüdische Brigade
9.4 Konflikte zwischen der zionistischen Führung und der Mandatsregierung

10. Der Teilungsplan der Vereinten Nationen Zwischenzusammenfassung

11. Der Unabhängigkeitskrieg und die Proklamation des Staates Israel
11.1 Der Beginn des Ersten Arabisch- Israelischen Krieges
11.2 Der Abzug der Briten
11.3 Die Proklamation des Staates Israel
11.4 Die erste Waffenruhe und die Waffenstillstandsverträge
11.5 Die Beurteilung des Krieges in der Forschung

12. Das Flüchtlingsproblem Zwischenzusammenfassung

13. Fazit

14. Anhang
14.1 Zeittafel
14.2 Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der Nahostkonflikt ist der Dauerkonflikt schlechthin, der Nahe Osten die Krisenregion. Das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an dieser Problematik scheint, gemessen an der Fülle von Literatur und medialen Angeboten, ziemlich hoch zu sein. So überrascht es nicht, dass im Mai dieses Jahres, als der Staat Israel sein 60- jähriges Bestehen feierte, die Medien von unterschiedlichsten Beiträgen zu diesem Thema regelrecht überflutet wurden.

Dabei fällt auf, dass der Nahost- Konflikt selbst ziemlich detailliert dargestellt wird, nicht jedoch seine Ursachen. Diese werden, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.

Es ist allgemein bekannt, dass die Wurzeln der Gewalt im historisch begründeten Anspruch sowohl der Juden als auch der Palästinenser auf das Heilige Land liegen. Beide Parteien verbindet mit dem seit 3.000 Jahren umkämpften Palästina nicht weniger, als die Geschichte ihres Volkes. Schon ca. 1.000 v.Ch. beherrschten israelische Stämme erst unter König Saul, dann unter David und Salomo das Gebiet. Doch das Zepter der Macht wechselte ständig den Besitzer. Nach den Assyrern kamen die Babylonier, die Perser, dann Alexander der Große, die Ptolemäer, die Seleukiden und schließlich die Römer. Um 600 n.Ch. kamen muslimische Araber, 400 Jahre später christliche Kreuzritter, danach die Türken.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob Israelis oder Palästinenser zuerst im Heiligen Land waren, kaum zu beantworten, die Urahnen beider Völker kaum zu finden. Und doch wird oft versucht, gerade hier nach Legitimität und Anrecht zu graben.

Dabei sind für den Nahost- Konflikt und die arabisch- israelischen Kriege, für die Terroranschläge und die Vergeltungspolitik weniger die jahrtausendealten Konstellationen, sondern vielmehr die Ereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend.

Diese Ereignisse, die in der Entstehungsgeschichte Israels zu finden sind, sollen den Schwerpunkt dieser Arbeit bilden. Ihr Ziel ist es, einen kleinen Beitrag zum besseren Verständnis des Nahostkonflikts, und insbesondere auch seines Ursprungs, zu leisten.

Die Phase, in der die Keime für die nicht enden wollenden Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern gesät wurden, beginnt mit der Entstehung des politischen Zionismus und endet mit dem ersten Arabisch- Israelischen Krieg. Deshalb wird diesen beiden Themen im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Wegen der stark polarisierenden Thematik soll in dieser Arbeit auch auf den Forschungsstand eingegangen werden.

Im Vorfeld ist zu sagen, dass das größte Problem, mit dem die Historiker zu kämpfen haben, die so genannten »Mythen« über die Entstehungsgeschichte des Staates Israel sind, und zwar sowohl israelische, als auch palästinensische.

Diejenigen, auf die im Folgenden eingegangen wird, stellten die Gründung Israels als eine nationale Befreiung des jüdischen Volkes dar, die auf humanistischen Geboten des Judentums beruhte, und förderten, besonders unter Israelis, den Glauben an die Geburt ihres Landes aus einem gerechten und unvermeidlichen Krieg heraus.

Erst Ende der 80- er Jahre entstand die »neue«, »revisionistische Geschichtsschreibung«, die diese »Gründungsmythen« zu entmythologisieren versuchte. Sie stellte das überkommene Wissen über die Ursprünge des israelisch- arabischen Konflikts in Frage und nahm an den bis dahin gültigen Interpretationen entscheidende Korrekturen vor.

Diese »Mythen« sowie der aktuelle Forschungsstand sollen in dieser Arbeit ebenfalls dargestellt werden.

2. Die erste Alija (1881-1903) und der »Alte Jischuv«

Die erste Welle der jüdischen Einwanderung in Palästina, die erste Alija, setzte 1881 ein. Sie fand in einer Zeit statt, als Palästina noch ein Verwaltungsbezirk des Osmanischen Reiches war. Zunächst versuchten die Zionisten, von der türkischen Regierung eine Zustimmung zur kolonialen Massenansiedlung von Juden in Palästina zu erlangen, und zwar in verbindlicher Form, durch einen unwiderruflichen Staatsakt. Als dieses Vorhaben scheiterte entschieden sie, dass es weder realistisch noch notwendig war, denn keine zivilisierte Regierung könne fremden Staatsangehörigen, die sich zudem außerhalb ihres Landes befinden, im voraus Rechte oder gar Privilegien erteilen. Vielmehr könne die rechtliche Sicherung der Juden in Palästina Schritt für Schritt neben der Kolonisationstätigkeit einhergehen, statt ihre Vorreiterin zu sein.[1]

Der Wegbereiter der ersten Alija und der Kolonisation Palästinas war der jüdische Arzt und Journalist Leon Pinsker, der infolge von Judenpogromen in Russland 1881/82 sich von der Idee der Assimilation abwandte und die Notwendigkeit eines jüdischen Staates propagierte. Durch seinen 1881 erschienenen Essay „Autoemanzipation“ wurde die Organisation Chibbat Zion („Zionsliebe“) ins Leben gerufen, in der sich die zionistisch gesinnten Gruppen Osteuropas zusammenschlossen.[2]

Zum Programm dieser Organisation gehörte die Festigung des nationalen Gedanken unter den Juden sowie die Förderung der Kolonisation Palästinas und der Nachbargebiete durch die Gründung neuer und die Unterstützung bereits bestehender Kolonien. Sie wurde von Pinsker geleitet und durch Baron Edmond de Rothschild finanziert. Dieser „wohlbekannte Gönner“ investierte innerhalb von 15 Jahren über 1,5 Millionen Pfund Sterling in das Siedlungswerk. Er entsandte Gartenbauspezialisten zur Unterweisung der Siedler nach Palästina und stellte das notwendige Gerät und Saatgut zur Verfügung. Er schickte auch Beauftragte ins Land, die die Kolonien verwalten sollten und denen die Siedler zu gehorchen hatten. Dies sorgte für Konflikte, denn die Verwalter besaßen kein nationales Engagement und betrachteten die Siedler als Angestellte, die ihre Anweisungen auszuführen hätten.[3] „Die Siedler wurden nicht zu Pionieren einer großen nationalen Befreiungsbewegung, sondern zu Landarbeitern, abhängig vom willkürlichen Ermessen des Barons und seiner Verwalter.“[4] Doch im Hinblick auf die Unzulänglichkeit der Hilfe anderer zionistischer Organisationen hat Baron de Rothschild, trotz aller Kritik, das jüdische Ansiedlungsprojekt in Palästina in der Anfangsphase gerettet.[5]

Durch die Chibbat Zion entstanden in Palästina in den 1880er Jahren jüdische landwirtschaftliche Siedlungen wie Petach Tikva, Rosh Pina oder Rishon LeZion. Die Siedler waren fast ausschließlich junge Juden aus Osteuropa, die ein sozialistisches Utopia schaffen wollten.[6]

Durch die erste Alija veränderte sich die Situation der schon immer in Palästina lebenden Juden von Grund auf. Denn das Ziel der Immigranten war es, landwirtschaftliche Kolonien zu gründen, um so eine Basis für die jüdische Ansiedlung im Land zu schaffen. Die Juden des »Alten Jischuvs«, deren Zahl ca.

24.000 betrug, lebten hingegen überwiegend in den Städten, ihre Lebensweise war eine ganz andere als die der ersten Alijim. Sie waren arm und nahmen eine niedere Stellung innerhalb der muslimischen Gesellschaft ein, lebten jedoch im nachbarschaftlichen Einvernehmen sowohl mit der muslimischen als auch mit der christlichen Bevölkerung.[7]

Die Neuankömmlinge waren hingegen „aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie waren Revolutionäre, die nach landwirtschaftlichem Erfolg strebten, auf den Schutz ihrer europäischen Pässe vertrauten und den Arabern gegenüber ziemlich respektlos auftraten.“[8]

Die Pioniere wollten nicht nur einzelne Siedlungen schaffen, sondern auch eine neue Gesellschaft. Deshalb wurde das alte Hebräisch wiederbelebt und zur Alltagssprache gemacht. Die politische Souveränität der Juden war zunächst kein konkretes Ziel der Siedler, sie wollten vielmehr das Dasein der Juden als ohnmächtige Opfer beenden und sie dazu bringen, zur Verfolgung ihrer Interessen Macht einzusetzen. Denn ihnen war bewusst, dass ihre revolutionären Ziele nicht ausschließlich auf friedlichem Wege erreicht werden konnten und dass der Erfolg des zionistischen Unternehmens Blut, Schweiß und Tränen kosten würde.[9]

Die zionistische Einwanderung und Ansiedlung in Palästina blieb zunächst dennoch ziemlich bescheiden: die erste Alija brachte zwischen 1881 und 1903 ca. 20.000 bis 30.000 Juden ins Land. Doch die Konsolidierung der ersten Kolonien bewies, dass es möglich war, eine landwirtschaftliche Ansiedlung in Palästina aufrecht zu erhalten.[10]

In Jaffa wurde ein Exekutivkomitee unter der Leitung von Wladimir Tjomkin gegründet, welches einen umfassenden Besiedlungsplan entwarf. Der Zustrom der Einwanderer nach Palästina schwoll in den Jahren 1890/91 stark an, weitere Kolonien wurden gegründet. Infolge dieser Entwicklung entstanden aber auch verschiedene Vereinigungen, die Geschäftemacherei mit Land und Boden betrieben und die türkischen Behörden misstrauisch machten. Sie verschärften die Überwachung der Einwanderung und verboten den Landerwerb durch die Juden, was das Siedlungsprojekt in eine ernste Krise stürzte. Erst in den Jahren 1896 konnten weitere Kolonien entstehen.[11]

Die jüdische Migration und die Siedlungsbemühungen wurden im auseinander brechenden Osmanischen Reich weiterhin mit Missbilligung betrachtet. Die türkische Regierung vermutete einen Zusammenhang zwischen der organisierten jüdischen Einwanderung und Kolonisierung und der europäischen Protektion und Intervention. Der Grund für ihre anti- zionistische Einstellung war also nicht religiöser oder gar antisemitischer Natur, sondern resultierte vielmehr aus der Furcht vor einer weiteren Durchdringung Palästinas, das strategisch immer bedeutender wurde, durch die europäischen Mächte.[12]

Andere politische Faktoren, mit denen die Türken zu kämpfen hatten, ermöglichten dennoch die weitere Ansiedlung der Juden in Palästina. „Die Regierung sorgte sich (…) mehr über den Aufruhr im Innern und den Verlust der Kontrolle über näher gelegene Gebiete wie den Balkan. Tatsächlich besaßen Juden mit europäischen Pässen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine partielle Immunität bei den Türken. Da es um Großmachtpolitik ging, genossen sogar die russischen Juden Schutz, sie waren dort sicherer als in ihrem Heimatland.“[13]

3. Die Geburt des politischen Zionismus

3.1 »Der Judenstaat« von Theodor Herzl

Im Dezember 1894 wurde Alfred Dreyfus, ein jüdischer Hauptmann des französischen Generalstabes, der Spionage für das Deutsche Reich bezichtigt und von einem französischen Militärgericht zu lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel in Französisch- Guyana verurteilt. Das regelwidrige Verfahren und seine antisemitischen Tendenzen werden in der Fachliteratur als ein Wendepunkt der Geschichte der Juden in Europa bezeichnet. Die Dreyfus- Affäre soll Theodor Herzl, der als Korrespondent der „Wiener Neuen Presse“ in Paris tätig war und Augenzeuge und Berichterstatter der folgenschweren Ereignisse wurde, zutiefst erschüttert haben. Sie wird als Auslöser für seine zionistische Tätigkeit angesehen.[14]

Herzl erkannte, „dass es hier nicht um die Verurteilung eines x- beliebigen Offiziers, sondern um die Schuldzuweisung gegenüber einem »Juden« ging.“[15] Aufgrund dessen sah er ein weiteres Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Europa als unmöglich an, da seiner Meinung nach eine Basis des gegenseitigen Verständnisses und gegenseitiger Duldung fehlte. Und wenn es in Frankreich, dem Land der Menschenrechte so war, dann würde eine Koexistenz in anderen europäischen Ländern erst recht nicht möglich sein.[16]

Zwei Jahre später, 1896, veröffentlichte Herzl den »Judenstaat« – eine programmatische Schrift, in der er die Entstehung eines jüdischen Staates beschrieb und die ideelle Grundlage für den politischen Zionismus schuf. Obwohl die Schrift in Fachkreisen als utopisch bezeichnet wird, sah Herzl selbst sie nicht als eine Utopie an, sondern als ein durchaus realistisches, weil von allen Beteiligten erwünschtes, Grundkonzept zur endgültigen Lösung der »Judenfrage«: „Der Judenstaat ist ein Weltbedürfniss, folglich wird er entstehen.“[17]

Dabei war Herzls Bindung an das Judentum eher schwach und sein Wissen darüber gering. Beides bestand überwiegend aus seinen Kindheitserinnerungen. Im Grunde war er ein Europäer, sodass auch seine Philosophie im Kern europäisch, säkular und liberal war.[18]

Herzl hoffte auf die Unterstützung seines Planes durch Deutschland. Und tatsächlich konnte sich Wilhelm II. zunächst für diese Idee begeistern, denn eine „baldige Abwanderung gewisser deutscher Juden (aufrührerischer Sozialisten und arroganter Intellektueller) lag durchaus in seinem Interesse“.[19] Doch dann zerschlug das Projekt des deutschen Protektorats am Widerstand des Sultan und der kaiserlichen Berater. Stattdessen erwiesen sich Jahre später die Briten als mächtige Gönner der zionistischen Idee.[20]

Die zionistische Idee war alles andere als neu. Andere, wie z. B. Moses Hess 1862 oder der bereits erwähnte Leon Pinsker 1881, hatten schon vor Herzl mehr oder weniger einen eigenen jüdischen Staat gefordert, allerdings eher in Form eines geistigen und spirituellen Zentrums im biblischen Land Israel. Es sollte, ähnlich wie der Vatikan den Katholiken, den Juden in der Diaspora wesentliche geistige Impulse und eine Identität verleihen, ohne dabei auf Souveränität und Masseneinwanderung zu setzen. Erst durch Herzl wurde aus diesem Kulturzionismus eine politische Bewegung.[21]

Denn der »Judenstaat« erwies sich sowohl als ein ideologisches Konzept, als auch als ein politisches Programm. Durch ihn gelang es Herzl, den bisherigen geistigen Bestrebungen und zaghaften Migrationsimpulsen einen tragfähigen organisatorischen Rahmen zu verleihen.[22]

Laut Herzl war ein Judenstaat die einzige Möglichkeit, das Problem der Juden in Europa und der ganzen Welt zu lösen. Insbesondere im Hinblick auf den weltweit vorhandenen und immer wieder erstarkenden Antisemitismus sei er erforderlich.

Die Assimilation der Juden sei hingegen keine Lösung, denn sie ändere nichts am Antisemitismus, sondern trage vielmehr dazu bei, dass die jüdische Religion ihren identitäts- stiftenden Charakter verliere. „Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrieen;“[23]

Allerdings waren nicht alle europäischen Juden mit Herzl einer Meinung, insbesondere für die Assimilierten war das Judentum keine Nationalität, sondern lediglich eine Religion. Sie sahen in Herzls Idee ein „Hirngespinst“, sodass die Reaktion auf den „Judenstaat“ zunächst nicht überwältigend war. Erst durch weitere politische Aktivitäten, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird, gewannen Herzl und seine Bewegung immer mehr Anhänger.[24]

Im allgemeinen Teil seiner Schrift widmet sich Herzl der „Judenfrage“, erläutert frühere Lösungsversuche, die Gründe für den Antisemitismus sowie seine Wirkung, und stellt seinen Plan zur Lösung des Problems vor.

Die damalige Situation der Juden in Europa und der ganzen Welt stellte Herzl so dar: „Die Nothlage der Juden wird niemand leugnen. In allen Ländern, wo sie in merklicher Zahl leben, werden sie mehr oder weniger verfolgt. Die Gleichberechtigung ist zu ihren Ungunsten fast überall tatsächlich aufgehoben, wenn sie im Gesetze auch existiert. Schon die mittelhohen Stellen im Heer, in öffentlichen und privaten Aemtern sind ihnen unzugänglich. Man versucht sie aus dem Geschäftsverkehr hinauszudrängen: ‚Kauft nicht bei Juden!’“[25] Damit verdeutlicht er, dass die Judenfrage nach wie vor existiert und nach einer neuen, wirkungsvollen Lösung verlangt, die sich von den bisherigen Lösungsversuchen unterscheidet.

Schon oft habe man erfolglos versucht, die Judenfrage, und somit auch das Problem des Antisemitismus, zu lösen. Die bisherigen Kolonisierungsversuche seien zu kleinlich gewesen, denn wenn man ein paar Tausend Juden in eine andere Gegend bringt, gehen sie entweder gleich unter, oder sie gedeihen und erzeugen damit wiederum Antisemitismus. Der Versuch, aus Juden Bauern zu machen, sei ebenso erfolglos, denn der Bauer gehöre, im Zeitalter der Maschinen, zu einer aussterbenden Spezies, somit wäre auch das Judentum dem Untergang geweiht. Und auch die Assimilierung sei ebenfalls ein Misserfolg gewesen, denn sie könne den Antisemitismus nicht aus der Welt schaffen, berge in sich stattdessen die Gefahr, dass das Judentum in der ihn umgebenden Gesellschaft aufgeht und zu existieren aufhört. Die Volkspersönlichkeit der Juden sei aber laut Herzl „geschichtlich zu berühmt und trotz aller Erniedrigungen zu hoch, als dass ihr Untergang zu wünschen wäre.“[26]

Außerdem müssten die Juden zwei Generationen hindurch in Ruhe gelassen werden, um in einem anderen Volk untergehen zu können. Laut Herzl sei dies jedoch unmöglich, denn sobald es den Juden gut gehen würde, würde die Feindseligkeit neu entflammen, da ihr Wohlergehen etwas Aufreizendes zu enthalten scheint. Und falls doch einmal eine Phase des Wohlergehens eintreten sollte, sei es gefährlich für das Judentum, denn dadurch werde es geschwächt und seine Besonderheit ausgelöscht.[27] Herzl sah also die Judenfeindschaft als eine mittelfristig oder gar überhaupt nicht behebbare gesellschaftliche Tatsache. Die einzige Lösung lag für ihn in einem Exodus der bedrohten Juden in ein ungefährdetes, selbst regiertes Territorium. Dieses sollte seiner Meinung nach am Rande der Einflusszonen der Großmächte liegen, wie z. B. in Argentinien, Ostafrika, oder eben im Osmanischen Reich.[28]

Herzls Plan lag eine Forderung zugrunde, die sich in einem Satz zusammenfassen lässt: „Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen.“[29] Das geeignete „Stück Erdoberfläche“ sieht Herzl vor allem in Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehört. Denn obwohl die Juden seit Jahrhunderten in der ganzen Welt verstreut leben, ist diese historische Heimat in den Köpfen frommer Juden immer präsent geblieben, die täglich um die Rückkehr ins Gelobte Land beteten.[30]

Der Kern des Plans ist die gesicherte Souveränität der Juden. Sie ist die Grundlage der jüdischen Auswanderung, die in Herzls Vision, von vielen Zionisten schnell vergessen, nicht von heute auf morgen stattfinden sollte: „Den Abzug der Juden darf man sich (…) nicht als einen plötzlichen vorstellen. Es wird ein allmäliger sein und Jahrzehnte dauern.“[31] Dieses Zitat verdeutlicht, dass Herzls Vorstellung von der jüdischen Einwanderung nach Palästina ganz anders aussah, als die spätere Realität.

Der Visionär war, trotz aller Euphorie, realistisch genug zu erkennen, dass die ersten Auswanderungen Armutswanderungen sein würden: „Zuerst werden die Aermsten gehen und das Land urbar machen. Sie werden nach einem von vornherein feststehenden Plane Strassen, Brücken, Bahnen bauen, Telegraphen errichten, Flüsse regulieren, und sich selbst ihre Heimstätten schaffen. Ihre Arbeit bringt den Verkehr, der Verkehr die Märkte, die Märkte locken neue Ansiedler heran. Denn jeder kommt freiwillig, auf eigene Kosten und Gefahr. Die Arbeit, die wir in die Erde versenken, steigert den Werth des Landes. Die Juden werden schnell einsehen, dass sich für ihre bisher gehasste und verachtete Unternehmungslust ein neues, dauerndes Gebiet erschlossen hat.“[32] Diese Ärmsten, gemeint sind in erster Linie russische Juden, waren regelrecht verzweifelt. Doch gerade in diesen Verzweifelten sah Herzl das tüchtigste „Menschenmaterial“ für die geplante Landnahme, da seiner Meinung nach alle großen Unternehmungen ein bisschen Verzweiflung haben müssen.[33]

In Russland und Galizien lebten die Juden als eine geschlossene Nation mit eigener Kultur, in schlechten materiellen Verhältnissen und unter politischem Druck. Deshalb war unter ihnen die Begeisterung für die zionistische Idee fast selbstverständlich. Die Juden im Westen Europas lebten dagegen in befriedigenden materiellen Verhältnissen, oft sogar in Wohlstand und Reichtum, unter dem Schutz eines geordneten Staatswesens, sie fühlten sich mit der Kultur ihres Heimatlandes verwachsen und hätten viel mehr zu verlieren, als die Osteuropäischen Juden.[34]

Mögliche Probleme mit der einheimischen Bevölkerung Palästinas blendet Herzl in seiner Schrift bewusst aus, genau wie die Fragen der äußeren Sicherheit, die er „aus Unwissenheit oder Klugheit“[35] nur am Rande, und auch dann sehr dezent anspricht.

In seiner Schrift erklärt Herzl, welche Vorteile sich durch die jüdische Einwanderung nach Palästina sowohl für das Osmanische Reich als auch für Europa ergeben würden: „Palästina ist unsere unvergessliche historische Heimat. Dieser Name allein wäre ein gewaltig ergreifender Sammelruf für unser Volk. Wenn seine Majestät der Sultan uns Palästina gäbe, könnten wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln. Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Cultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müsste.“[36] In dieser Hinsicht sollte der Judenstaat jene Position einnehmen, die europäische Politiker unserer Zeit der Türkei zubilligen wollen.[37]

Die Heimatländer würden laut Herzl von der Auswanderung der Juden auch deshalb profitieren, weil sie im Vergleich zu einer Hetze friedlich und unter der Kontrolle der Behörden stattfinden würde, sodass alle Güter unversehrt zurückblieben. Und auch die Auswanderung des christlichen Proletariats würde zum Stillstand kommen.[38] Herzl wendet sich also direkt an die europäischen Regierungen und schildert ihnen die Vorteile, die sie erzielen könnten, wenn sie die Juden auf diese Weise loswürden. Denn er ist sich der Tatsache bewusst, dass die zionistische Bewegung die Hilfe und die Unterstützung mindestens einer Großmacht braucht, um ihre Ziele verwirklichen zu können.[39]

Zwei große Organe sollten die Durchführung des Plans organisieren: die Sosiety of Jews als „moralische Person“ und die Jewish Company als „juristische Person“. „Was die Sosiety of Jews wissenschaftlich und politisch vorbereitet hat, führt die Jewish Company praktisch aus.“[40]

Letztere sollte sich mit dem Immobiliengeschäft, dem Landkauf, der Bautätigkeit, dem Arbeitsmarkt, der Geldbeschaffung und der Liquidierung der Immobilien von abziehenden Juden beschäftigen. Sie wäre eine Aktiengesellschaft, ein rein geschäftliches Unternehmen, nach dem Vorbild von großen Landnahmegesellschaften wie z.B. der Chartered Company, nach den Gesetzen und unter dem Schutz Englands.[41] „Die Jewish Company liquidiert die Kleinsten wie die Grössten. Und während die Juden ruhig wandern, sich die neue Heimat gründen, steht die Company als die grosse juristische Person da, welche den Abzug leitet, die verlassenen Güter hütet, für die gute Ordnung des Abwickelns mit ihrem sichtbaren, greifbaren Vermögen haftet und für die schon Ausgewanderten dauernd bürgt.“[42]

Die Society of Jews würde sich mit der Verfassung, der Staatsform, der Gesetzgebung, der Sprache und dem Heer befassen. „Nach Aussen muss die Society versuchen, (…), als staatsbildende Macht anerkannt zu werden. Aus der freien Zustimmung vieler Juden kann sie den Regierungen gegenüber die nöthige Autorität schöpfen. Nach Innen, das heisst dem Judenvolke gegenüber, schafft die Society die unentbehrlichen Einrichtungen der ersten Zeit – die Urzelle, (…) aus der sich später die öffentlichen Einrichtungen des Judenstaates entwickeln sollen.“[43]

In seinen Visionen überlässt Herzl nichts dem Zufall: „Von vornherein wird alles auf eine planvolle Art festgestellt sein. An der Ausarbeitung dieses Planes, den ich nur anzudeuten vermag, werden sich unsere scharfsinnigsten Köpfe betheiligen. Alle socialwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften der Zeit, in der wir leben, und der immer höheren Zeit, in welche die langwierige Ausführung des Planes fallen wird, sind für den Zweck zu verwenden. Alle glücklichen Erfindungen, die schon da sind und die noch kommen werden, sind zu benützen. So kann es eine in der Geschichte noch beispiellose Form der Landnahme und Staatsgründung werden, mit bisher nicht dagewesenen Chancen des Gelingens.“[44] Durch derartige Durchstrukturierung des Vorhabens sollte ein Scheitern unbedingt verhindert werden.

Der Judenstaat sollte eine aristokratische Republik werden, in der Freiheit und Gleichheit herrschen: „Jeder ist in seinem Bekenntniss oder in seinem Unglauben so frei und unbeschränkt, wie in seiner Nationalität. Und fügt es sich, dass auch Andersgläubige unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsgleichheit gewähren.“[45] Dies ist die einzige Stelle der Schrift, an der Herzl sich über die einheimische Bevölkerung Palästinas, die so genannten „Andersgläubigen“, äußert. Ansonsten finden palästinensische Araber keinerlei Erwähnung.[46]

Aus der heutigen, modernen Sicht fällt diese Tatsache besonders auf, doch vor über einhundert Jahren wurden die weniger entwickelten Länder und Völker ganz anders betrachtet als heute. Um es mit Worten von Edward W. Said zu sagen, erlaubte es die dominierende westliche Kultur den Europäern, alle Nicht- Europäer „als minderwertig, marginal und unbedeutend zu betrachten.“[47] So hielten einige, darunter auch ein Teil der Zionisten, die Araber, und mit ihnen auch eine ganze Reihe anderer Völker, einer eigenständigen nationalen Entwicklung für unfähig. Im Zeitalter des Imperialismus und der Kolonisation schien dieser Gedanke keineswegs abwegig, im Gegenteil. Einige zionistische Führer sahen in der jüdischen Einwanderung eine Chance, den Arabern eine höhere Zivilisation zu ermöglichen.[48]

Dabei begann sich gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s von Ägypten, Syrien und dem Libanon ausgehend eine kulturelle, bald auch politisch motivierte arabische nationale Bewegung zu entwickeln. Sie wurde durch die jungtürkische Revolution 1908 verstärkt, die den Arabern die Gleichberechtigung als Bürger des Osmanischen Reiches brachte. Da sie allmählich befürchteten, durch finanzkräftige jüdische Unternehmen aus ihrer beherrschenden wirtschaftlichen Position verdrängt zu werden, formierte sich nach und nach eine arabische Opposition gegen den Zionismus.[49]

3.2 Erster Zionistenkongress und die zweite Alija (1904–1914)

Im August 1897 berief Theodor Herzl den ersten zionistischen Kongress in Basel ein, der danach jährlich stattfand. Er war die Instanz, die dem Zionismus sein Organisatorisches Gefüge gab, wodurch er endgültig den Charakter einer politischen Bewegung erhielt.[50]

Der Kongress sorgte außerdem für eine Wiederbelebung der Beziehungen zwischen west- und osteuropäischen Juden, die zuvor laut Arthur Ruppin folgendermaßen ausgesehen hatten: „Der westeuropäische Jude kannte den osteuropäischen Juden nicht und wollte ihn nicht kennen. Er schämte sich seiner wie eines armen, kulturell zurückgebliebenen Verwandten, den man im stillen bemitleidet und unterstützt, aber vor der Öffentlichkeit verleugnet.“[51]

Amnon Rubinstein schreibt in diesem Zusammenhang: „Heute, nach dem Holocaust, ist es einem peinlich zu lesen, wie verächtlich die Beurteilung der europäischen Galut- Juden durch die Gründer des Zionismus ausfiel. Ihre Armut wurde verunglimpft, ihre Hilflosigkeit verachtet, ihre guten Eigenschaften ignoriert.“[52] Diese Kluft zwischen den westlichen Juden, die über die fehlgeschlagene Emanzipation zum Zionismus kamen, und den Juden aus osteuropäischen Gemeinden, galt es zu überwinden.[53]

Der erste Zionistenkongress erhielt jedoch Seine besondere Bedeutung nicht nur durch die interterritoriale Begegnung von rund 200 sehr unterschiedlich geprägten Repräsentanten des Judentums, sondern vor allem auch durch das „Baseler Programm“, das in vier sorgfältig formulierten Punkten die Ziele des Zionismus definierte:[54]

„Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich- rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina. Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Kongreß folgende Mittel in Aussicht:

1. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden.
2. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen.
3. Die Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewußtseins.
4. Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.“[55]

Die Absicht hinter der Wortwahl des Programms ist unter Historikern allerdings nicht unumstritten. Rolf Steininger schreibt dazu: „Die Formulierung »öffentlich- rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina« des Baseler Programms war eine geschickte Umschreibung der Absicht, einen eigenen Staat zu gründen, und zwar in Palästina.“[56]

Den meisten Zionisten ging es wohl von Anfang an darum, in Palästina eine jüdische Mehrheit zu schaffen, das geht auch aus Herzls „Judenstaat“ hervor, und auch Dr. Arthur Ruppin, Zionist und Soziologe, schrieb dazu: „Um Palästina zu einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk zu machen, ist es erforderlich, daß die Juden dort möglichst schnell die

Mehrheit der Bevölkerung bilden.“[57] Die zionistische Bewegung sah die Juden, die Nachfahren der Hebräer, als „Ureinwohner“ des Landes und begründete so ihre historischen Ansprüche darauf.[58]

Das Baseler Programm sah die Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden und die Stärkung des jüdische Volksgefühls und Volksbewusstseins vor. Um diese Aufgaben zu erfüllen, gründeten die 204 Abgesandten von jüdischen Gemeinden aus aller Welt die Zionistische Weltorganisation (ZWO), deren erster Präsident Theodor Herzl wurde.[59]

Am 3. September 1897 notierte Herzl in sein Tagebuch: „Fasse ich den Basler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen –, so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig, wird es jeder einsehen.“[60] Und tatsächlich sollte fünfzig Jahre und neun Monate später ein jüdischer Staat entstehen, doch der Weg dahin sollte lang und beschwerlich sein.

Mit seinem Konzept bemühte sich der Zionismus, Antworten auf die drängenden Fragen zu geben, die Ende des 19. Jahrhunderts vor den Juden standen. Für viele von ihnen war das Baseler Programm eine Leitlinie bei der Suche nach nationaler Identität, denn ihre Assimilierung wurde Ende des 19. Jh. durch den neu entflammten Antisemitismus gehindert.[61]

Die Reaktionen auf die antisemitische Bedrohung wiesen starke regionale Unterschiede auf. In West- und Mitteleuropa hoffte die Mehrheit der Juden weiterhin auf die Assimilation, vor allem mithilfe der Industrialisierung. In Osteuropa hingegen strebten sie nach nationaler Autonomie, wobei Palästina jedoch noch keine zentrale Rolle spielte. Zunächst war der Zionismus ein scharfer Gegensatz sowohl für ost- als auch für westeuropäische Juden, denn er forderte sie auf, ihre Heimat zu verlassen, um ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina zu errichten. Doch mit der Enttäuschung über den Ausgang der Revolution in Russland 1905-1907 entstanden insbesondere in Osteuropa zionistisch-sozialistische Gruppen, die schließlich die Zweite Alija bildeten.[62]

Diese sozialistisch orientierten Alijim wandten sich ebenfalls der landwirtschaftlichen Arbeit zu. Ab 1909 gründeten sie auf dem von jüdischen Nationalfonds erworbenen Boden die ersten Kibbuzim, kleine landwirtschaftliche Siedlungen, die genossenschaftlich bewirtschaftet wurden und keine arabische Lohnarbeit zuließen, da das jüdische Volk ihrer Ansicht nach nur durch die eigene körperliche Tätigkeit gesunden könne und daher keine fremden Arbeitskräfte ausbeuten dürfe. Als Gegensatz dazu entstanden aber auch erste kleine Industrieunternehmen und Baufirmen, die ihre Existenz zum größten Teil erheblichen privaten Investitionen verdankten.[63]

Die Beschaffung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte wurde schnell zu einem der Hauptprobleme der Siedler. Wurde die Arbeit zunächst von ihnen selbst, ihren Angehörigen oder anderen jüdischen Arbeitern besorgt, so ging man entgegen den ideologischen Vorstellungen schon bald dazu über, Araber aus umliegenden Dörfern zu beschäftigen. Diese waren billiger, hatten mehr Erfahrungen in der Landwirtschaft und waren besser an das Klima und die Lebensbedingungen des Landes angepasst. „Wie in den meisten nichteuropäischen Ländern, wo Europäer sich ansiedelten, bestand auch in Palästina die Gefahr, daß die jüdische Wirtschaft auf der Grundlage einheimischer Arbeitskräfte aufgebaut würde.“[64]

Langfristig führte die Entstehung und Ausweitung des jüdischen Wirtschaftssektors zu der Zurückdrängung der Araber. Diese Entwicklung stand in einem Gegensatz zu den Motiven vieler Einwanderer, doch die unterschiedlichen politischen Kräfte des Zionismus hatten ein gemeinsames Ziel: die Schaffung einer jüdischen Mehrheit in Palästina, die durch die Politik der „Eroberung des Bodens“ und der „Eroberung der Arbeit“ ermöglicht werden sollte.[65]

Bis 1914 brachte die zweite Einwanderungswelle 35.000 bis 40.000 osteuropäische Juden nach Palästina, die Zahl der jüdischen landwirtschaftlichen Siedlungen verdoppelte sich, wodurch auch die Konflikte mit der um ihre wirtschaftliche Existenz besorgten arabischen Bevölkerung zunahmen.[66]

Wie sich Herzl inzwischen das immer problematischer werdende Zusammenleben der jüdischen Einwanderer mit den palästinensischen Arabern vorstellte, zeigt sich anhand eines Tagebucheintrages aus dieser Zeit, in dem es hieß: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muss – ebenso wie die Fortschaffung der Armen – mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.“[67]

Edward W. Said schreibt dazu: „Mit messerscharfem, akribischem Zynismus sah Herzl voraus, daß die kleine Schicht wohlhabender Landbesitzer ‚gekauft’ werden könne – was dann auch tatsächlich geschah.“[68] Er wirft Herzl außerdem vor, genau gewusst zu haben, dass Palästina keineswegs – wie die zionistische Propaganda ihren Anhängern weismachen wollte – unbewohnt war, sondern die Heimat von 650.000 Palästinensern.[69]

Herzls Tagebucheintrag unterscheidet sich stark von dem Versprechen in seiner Schrift „Der Judenstaat“, Andersgläubigen Schutz und Rechtsgleichheit zu gewähren. Und mögen auch die meisten jüdischen Einwanderer Herzls Ansichten nicht geteilt haben, so verdeutlicht dieser Tagebucheintrag die Absichten und Pläne zumindest einiger, wenn auch nicht aller zionistischer Führer.

Anders als Herzl stellte sich z. B. Ruppin die Koexistenz beider Völker vor. 1919 schrieb er: „Die Frage nach dem zukünftigen Verhältnis zwischen den Juden und Arabern ist vielfach diskutiert worden. Sie kann (…) nur durch die Herstellung eines harmonischen Zusammenlebens zwischen Juden und Arabern gelöst werden. (…) Es ist nicht nur ein Gebot einfachster politischer Klugheit, mit diesen 30 Millionen Arabern in Frieden zu leben, um nicht von ihnen erdrückt zu werden, es ist auch im höheren Sinne ein Gebot des nationalen Empfindens, das die sprach- und rassenverwandten Völker zueinander hinweist.“[70]

Seine Ansichten über die weitere Entwicklung der Wirtschaft in Palästina waren noch optimistischer. Da er davon ausging, dass der Zionismus Palästina nicht ausschließlich für die Juden haben wolle, und die Araber der jüdischen Einwanderung bislang nicht unsympathisch gegenüberstünden, sollte der Zionismus den Einheimischen lediglich wirtschaftliche Vorteile in Form von Arbeitsgelegenheiten zu hohem Lohn, besserem Absatz für die landwirtschaftlichen Produkte und der Steigerung der Bodenpreise bringen. Und falls es in Zukunft dazu kommen sollte, dass die Juden durch die Einführung von Großindustrie und moderner Landwirtschaft selbst zu Produzenten und somit auch zu Konkurrenten würden, so würden die Araber schon bald die landwirtschaftlichen Techniken der Juden nachahmen und dadurch konkurrenzfähig bleiben.[71]

3.3 Die Zionistische Weltorganisation (ZWO)

Um die Aufgaben erfüllen zu können, die der Zionistischen Weltorganisation bei ihrer Gründung in Basel 1897 auferlegt wurden, bedurfte es eines Finanzierungskonzeptes. Es wurde beschlossen, dass alle Mitglieder einen Jahresbeitrag, den Schekel, zu entrichten hatten. Bis 1913 stieg die Zahl der Schekelzahler auf über 217.000, was ca. 2% der jüdischen Weltbevölkerung ausmachte. Doch noch wichtiger als der Schekel waren die Finanzinstitute, an denen sich jüdische Bankiers aus Westeuropa und den USA beteiligen, wie z.B. die 1899 gegründete Jüdische Kolonisationsbank, aus der später die israelische Nationalbank hervorging.[72]

[...]


[1] Arthur Ruppin: Die Juden der Gegenwart, 3. Aufl., Berlin 1920, S. 252-253.

[2] Michael Brenner: Geschichte des Zionismus, 2. Aufl., München 2002, S. 55-56.

[3] Angelika Timm: Israel. Geschichte des Staates seit seiner Gründung, Bonn 1998, S. 5; Ullmann, S. 81-82.

[4] Shmuel Ettinger: Die Neuzeit. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Haim Hillet Ben-Sasson (Hg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1992, S. 887-1348, hier S. 1128-1129.

[5] Ebd., S. 1121-1129.

[6] Yaacov Lozowick: Israels Existenzkampf. Eine moralische Verteidigung seiner Kriege, Bonn 2006, S. 72, 74.

[7] Timm, Israel, S.6; Helmut Mejcher / Alexander Schölch (Hg.): Die Palästina- Frage 1917-1948. Historische Ursprünge und internationale Dimensionen eines Nationenkonflikts, Paderborn 1981, S. 38-39.

[8] Lozowick, Existenzkampf, S. 82.

[9] Ebd., S. 76-78.

[10] Timm, Israel, S. 11: Brenner: Zionismus, S. 53.

[11] Ettinger, Neuzeit, S. 1129.

[12] Gudrun Krämer: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, 4. Aufl., München 2003, S. 144.

[13] Lozowick, Existenzkampf, S. 72.

[14] Elke- Vera Kotovski: Der Fall Dreyfus und die Folgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 50/2007 (bpb), S. 25-32, hier S. 25; Rolf Steininger: Der Nahostkonflikt, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2006, S. 3-4.

[15] Kotovski: Dreyfus, S. 29.

[16] Ebd., S. 29.

[17] Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig / Wien 1896. (ND Osnabrück 1968), S. 5.

[18] Amnon Rubinstein, Geschichte des Zionismus. Von Theodor Herzl bis heute, München 2001, S. 29.

[19] Amos Elon: Zu einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch- deutschen Epoche 1743-1933, München 2005, S. 274-275.

[20] Ebd., S. 277.

[21] Steininger: Nahostkonflikt, S. 6; Micha Brumlik: Kritik des Zionismus, Hamburg 2007, S. 36-37; Brenner: Zionismus, S. 51-52.

[22] Timm: Von der zionistischen Vision zum jüdischen Staat, in: Informationen zur politischen Bildung 278/2003, S. 5-14, hier S. 6.

[23] Herzl: Judenstaat, S. 11.

[24] Elon: jüdisch- deutsche Epoche, S. 280-282; Steininger: Nahostkonflikt, S. 6.

[25] Herzl: Judenstaat, S. 21.

[26] Ebd., S. 26.

[27] Ebd., S. 23-26.

[28] Brumlik: Zionismus, S. 8.

[29] Herzl: Judenstaat, S. 27.

[30] Steininger: Nahostkonflikt, S. 6.

[31] Herzl: Judenstaat, S. 27.

[32] Ebd., S. 27.

[33] Brumlik: Zionismus, S. 60.

[34] Ruppin: Juden, S. 245.

[35] Brumlik: Zionismus, S. 60.

[36] Herzl: Judenstaat, S. 29.

[37] Brumlik: Zionismus, S. 56.

[38] Herzl: Judenstaat, S. 78-79.

[39] Timm: Israel, S. 5; Steininger: Nahostkonflikt, S. 9.

[40] Herzl: Judenstaat, S. 27.

[41] Ebd., S. 33.

[42] Ebd, S. 44.

[43] Ebd., S. 71.

[44] Ebd., S. 73.

[45] Ebd., S. 75-76.

[46] Joachim Schlör (Hg.): David Ben Gurion. Israel. Der Staatsgründer erinnert sich, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 197.

[47] Edward W. Said: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, Stuttgart 1981, S. 84.

[48] Schlör: Ben Gurion, S. 197.

[49] Timm: Israel, S. 7.

[50] Lozowick: Existenzkampf, S. 73; Arno Ullmann: Israels Weg zum Staat. Von Zion zur Parlamentarischen Demokratie, München 1964, S. 125-126.

[51] Ruppin: Juden, S. 248.

[52] Rubinstein: Zionismus, S. 25.

[53] Ebd., S. 28-29.

[54] Ullmann: Israels Weg, S. 125.

[55] Ebd., S. 127-128.

[56] Steininger: Nahostkonflikt, S. 8.

[57] Arthur Ruppin: Der Aufbau des Landes Israel. Ziele und Wege jüdischer Siedlungsarbeit in Palästina, Berlin 1919, S. 92.

[58] Steininger: Nahostkonflikt, S. 9.

[59] Timm: Israel, S. 1.

[60] Steininger: Nahostkonflikt, S. 8.

[61] Timm: Israel, S. 1-3.

[62] Ebd., S. 3-4.

[63] Ebd., S. 11, 20; Schlör: Ben Gurion, S. 2002; Brenner: Zionismus, S. 59-60.

[64] Ettinger: Neuzeit, S. 1130.

[65] Timm: Israel, S. 19-20.

[66] Ebd., S. 11-12.

[67] Steininger: Nahostkonflikt, S. 8.

[68] Said: Zionismus, S. 83.

[69] Ebd., S. 82-83.

[70] Ruppin: Aufbau Israels, S. 124.

[71] Ruppin: Juden, S. 257-258.

[72] Timm: Israel, S. 7-8.

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Die Gründung des Staates Israel
Hochschule
Universität Osnabrück  (Fachbereich Kultur- und Geowissenschaften)
Autor
Jahr
2008
Seiten
87
Katalognummer
V150755
ISBN (eBook)
9783640622542
ISBN (Buch)
9783640622948
Dateigröße
759 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Israel, Palästina, Israelis, Juden, Palästinenser, Judentum, Nahost, Nahostkonflikt, Der Nahe Osten, Araber, Flüchtlinge, Zionismus, Islamismus, Terrorismus, Theodor Herzl, Histadrut, Hagana, Ben Gurion, Erster Weltkrieg, Osmanisches Reich, Krieg
Arbeit zitieren
Valeria Nadel (Autor:in), 2008, Die Gründung des Staates Israel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150755

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