Durs Grünbeins pathologisches Interesse

Eine Untersuchung der Poetologie des Dichters am Beispiel von "Den Teuren Toten" und "Grauzone morgens"


Magisterarbeit, 2009

84 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Zum Begriff ,pathologisches Interesse‘
1.2 Durs Grunbeins Biographie
1.3. Uberblick uber das postmoderne Schreiben mit Blick auf Durs Grunbein

2. Grunbeins Poetologie
2.1 Zum Begriff ,poetologischer Text‘
2.2 Die ,Geburtsstunde des ersten Gedichts‘ bei Grunbein
2.2.1 Das ,erste Gedicht‘
2.2.2 Zwischenfazit Vergleichender Exkurs zur ,Geburtsstunde des ersten Gedichts‘ bei Gottfried Benn
2.3 Grunbeins Selbstreflexionen am Beispiel
2.3.1 Galilei vermiBt Dantes Holle
2.3.3 Zwischenfazit mit erganzenden Kommentaren

3. Grunbeins Poetologie am Beispiel
3.1 Zum hermeneutischen Ansatz
3.2 Grauzone morgens
3.2.1 Zwischenfazit
3.3 Den Teuren Toten
3.3.1 Zwischenfazit

4. Schlusswort

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Es wird in dieser Arbeit, die sich mit dem Werk Durs Grunbeins beschaftigt, um eine Untersuchung der Frage gehen, inwieweit sich das Interesse des Berliner Dichters und Essayisten an naturwissenschaftlichen Inhalten an seinen Veroffentlichungen ablesen lasst. Die Pramisse dieser Untersuchung wird sein, dass Grunbein ein solches pathologisches Interesse hat. Es sollen daher exemplarisch Auszuge aus seinem Werk untersucht werden um Grunbeins einleitende Frage zu diesem Thema zu beantworten: „Was haben die Schadelnerven der Wirbeltiere mit Dichtung zu tun?‘[1] Die Hypothese, die im Laufe dieser Arbeit belegt werden soll, lautet, dass Grunbein gesellschaftliche Missstande rhetorisch mit Krankheiten gleichsetzt, an denen die jeweilige Gesellschaft aus seiner Sicht leidet. Dies resultiert haufig in einer sehr sarkastischen Darstellungsweise, die er zur Vermittlung seiner Intention einsetzt.

Dabei soll wie folgt vorgegangen werden: Zunachst einmal muss der Begriff des ,pathologischen Interesses‘, bestimmt werden. Dies wird notwendig sein, um herauszuarbeiten, welche Aspekte seines Werks im empirischen Teil dieser Arbeit beachtet werden mussen. Mit Hilfe eines vereinheitlichten Begriffsverstandnisses soll in der Folge Grunbeins Interesse an den Themen der Naturwissenschaften untersucht werden. Im zweiten Teil der Einleitung wird Durs Grunbeins Biographie kurz vorgestellt. Hier wird eine Zweiteiung stattfinden in die Zeit des Heranwachsenden, der ein Interesse fur Literatur entwickelt, und die des Literaten. In diesem zweiten Abschnitt wird eine kurze Werkhistorie im Zentrum stehen.

Der dann folgende erste von zwei Hauptteilen wird sich der Poetologie Grunbeins widmen, wie er sie in einigen seiner Essays entwirft. Die gewonnenen Erkenntnisse zum poetologischen Konzept des Lyrikers werden den Grundstein der exemplarischen Untersuchungen im zweiten Hauptteil bilden. Hier wird eine Reihe von Gedichten aus zwei Sammlungen den Untersuchungsgegenstand bilden, die in den Jahren um die Wiedervereinigung Deutschlands herum entstanden und erschienen sind.

1.1 Zum Begriff ,pathologisches Interesse4

Der Begriff des ,pathologischen Interesses‘ ist im Titel dieser Arbeit gezielt mehrdeutig gewahlt. Die Bedeutungsebenen, die im Rahmen dieser Arbeit eine Rolle spielen sollen, mussen zunachst einmal bestimmt werden, um Fehldeutungen auszuschlieBen. Den Ausgangspunkt hierfur soll die allgemeine Definition des Brockhaus fur den Begriff ,Pathologie‘ bilden. Sie lautet:

„[griechisch »Lehre von den Leiden«], Fachgebiet der Medizin, das sich mit der genauen Dokumentation krankhafter Veranderungen, v. a. in den Zellen und den Organen des Korpers, beschaftigt. Pathologen untersuchen z. B. Gewebeproben, um festzustellen, ob ein Tumor bosartig ist, oder fuhren Sektionen durch, um eine unklare Todesursache herauszufinden. Ein Teilgebiet der Pathologie ist die Nosologie: die Lehre von den Krankheiten, ihre systematische Beschreibung und Einordnung.

Im Sprachgebrauch von Medizinern und Psychotherapeuten hat sich eine Gleichsetzung von »pathologisch« und »krankhaft« entwickelt; als pathologisches Stehlen wird also ein als krankhaft verstandenes Stehlen bezeichnet.“[2]

Hier werden zwei Bedeutungsebenen geoffnet: zum einen die einer Protokollierung krankhafter Veranderungen von Organismen und zum anderen die eines krankhaften Fehlverhaltens. Diese letztere Bedeutung soll dem Begriff ,pathologisches Interesse’in dieser Arbeit nicht zukommen. Es wird also ausdrucklich nicht darum gehen, zu zeigen, dass Grunbeins Arbeit von einem krankhaften Interesse an irgendeinem Sachverhalt oder Verhalten gepragt sei oder getrieben werde.

Die erste Definition hingegen ist, wie in den spateren Kapiteln zu Grunbeins Poetologie gezeigt werden soll, absolut kennzeichnend fur das Werk Durs Grunbeins. Ohne an dieser Stelle zu weit ins Detail zu gehen, kann vorangestellt werden, dass Grunbein in seinen Gedichten und Essays gerade darum bemuht ist, zu zeigen bzw. zu dokumentieren, in welchen Bereichen in den postmodernen Gesellschaften Veranderung aus der Sicht Grunbeins dringend notwendig ist. In diesem Sinne versteht Grunbein eine Gesellschaft und deren Ordnung als mehrgliedrigen Organismus, was auf sein ausgepragtes Interesse an philosophischen Texten zuruckzufuhren ist.

Dies fuhrt hin zu einem weiteren Verstandnis von ,pathologischem Interesse‘, namlich wiederum nicht einem krankhaften Interesse, sondern einem Interesse sowohl an krankenden Lebewesen, also auch an Pathologie. Dieses Interesse schlagt sich auf Grunbeins Rhetorik nieder, die durch medizinische und andere naturwissenschaftliche Begriffe gepragt wird. Hierdurch irritiert er, wie sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen wird, mitunter das asthetische Empfinden des Lesers. Die zugrundeliegende Intention dieses Vorgehens wird in der Folge zu klaren sein.

Das soil an dieser Stelle genugen, um ein gemeinsames Begriffverstandnis herbeizufuhren. Bevor Grunbeins Poetologie nun eingehend untersucht werden kann, soll die Biographie des Dichters betrachtet werden. Dabei soll gezeigt werden, dass man Grunbeins Kindheit und Jugend in der ehemaligen DDR in Relation zu den Kontrasterfahrungen, die er nach 1990 gemacht hat, als pragend fur sein Werk bezeichnen kann.

1.2 Durs Grunbeins Biographie

Fur Grunbeins literarisches Schaffen ist sein groBes naturwissenschaftliches Interesse sicher kennzeichnend. Um dessen Auswirkungen auf seine Lyrik und Essays in der Folge besser einordnen und interpretieren zu konnen, ist ein Blick auf seine Biographie an dieser Stelle notwendig. Mithin wird eine Bibliographie des Dichters entstehen, die jedoch keinen Anspruch auf Vollstandigkeit erhebt.

Durs Grunbein wird am 9. Oktober 1962 in Dresden geboren[3]. Seine Mutter ist als Chemielaborantin tatig, der Vater als Flugzeugingenieur. Uber seine Kindheit ist wenig bekannt. Jedoch berichtet Grunbein im Interview mit Heinz-Norbert Jocks, dass seine Kindheit normal - eben nicht ungewohnlich - gewesen sei.[4]Alexander Joist zitiert Grunbein mit den Worten, seine Kindheit sei gepragt gewesen „vom Spiel auf der Mullhalde und auf dem benachbarten Manovergelande der russischen Armee, aber auch vom Interesse fur Technik und Literatur“[5]. Dennoch erzahlt Grunbein, er habe vornehmlich positive Erinnerungen an diese Zeit. Sein Interesse besonders an antiker Lyrik entwickelt sich fruh, sodass er mit 15 Jahren beginnt, erste Gedichte selbst zu schreiben. Nahere Erkenntnisse hierzu sollen in Kapitel 2.2 erarbeitet werden. Gegen den Wunsch seines Vaters zieht Grunbein die Bewerbung fur ein Medizin- oder Ingenieursstudium im heutigen Chemnitz zuruck. Seinen 18-monatigen Wehrdienst bei der NVA leistet er als Funker ab. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert Friedmar Apel Grunbein, der Folgendes uber diese eineinhalb Jahre schrieb:

„Ein Soldat der Volksarmee, Funker bei den Motorisierten Schutzen laut Dienstbuch, kehrt nach dem Grundwehrdienst zum ersten mal [sic] auf Urlaub in seine Geburtsstadt zuruck. Er ist etwa achtzehn Jahre alt. Sein schmachtiger Korper steckt in einer Uniform, die ihn in seinen eigenen Augen zu einem Unberuhrbaren macht. Nach den Gesetzen seines paranoiden Staates ist er als vereidigter Rekrut zu einer Nummer im WehrpaB geworden, in seiner Wirklichkeit jedoch, und nur diese zahlt, zu einer Geisel im Kriegsfall ... In diesem Moment, den ich niemals vergessen werde, war in meinem noch frischen Leben das Stadium absoluter Horigkeit erreicht.“[6]

Grunbein nennt diesen Moment der schockierenden Selbstwahrnehmung eine ,Urszene‘. Diesen Begriff verwendet er haufig fur Augenblicke, die eine pragende Schockwirkung auf ihn ausuben. Hierauf wird im ersten Hauptteil dieser Arbeit naher eingegangen.

1985 zieht Grunbein nach Ost-Berlin. An der Humboldt-Universitat ist es ihm verboten, Germanistik zu studieren, weil er sich wahrend seines Wehrdienstes geweige]rt hatte, an der Staatsgrenze zu patrouillieren. Stattdessen studiert er vier Semester lang Theaterwissenschaft. Frustriert bricht er dieses Studium ab, weil er nicht die Nebenfacher seiner Wahl belegen darf. So stellt Grunbein einen Ausreiseantrag, um sein Studium in der Bundesrepublik fortfuhren zu konnen. Dieses Vorhaben wird er in der BRD jedoch nicht in die Tat umsetzen. Zunachst verdient er als Regieassistent und Bibliotheksaufsicht seinen Lebensunterhalt. Daruber hinaus widmet er sich jetzt vollstandig dem kreativen Schaffen. In Zusammenarbeit mit Schauspielern und Malern[7] inszeniert er einige Performances in Berliner Galerien und Clubs.

In dieser Zeit bezeichnet er sich selbst als „Dichter unter Bildkunstlern[8]“ und lernt 1986 Heiner Muller kennen. Dieser findet an Grunbeins Lyrik Gefallen und hilft ihm 1988 durch Vermittlung an einen Bekannten[9], aus der DDR auszureisen. Noch im gleichen Jahr veroffentlicht Grunbein mit Grauzone morgens seinen ersten Gedichtband. Wahrend seiner Zeit bei der NVA hat Grunbein eine antipolitische Haltung entwickelt[10], die in dieser ersten Veroffentlichung deutlich wird. Dieser Veroffentlichung ging eine umfangreiche Lekture u.a. der Werke von Horaz, Dante, Shakespeare, Baudelaire, Rimbaud, Eliot, Pound, Cummings, Benn, Mandelstamm voraus. Daruber hinaus liest er sich Wissen zu zahlreichen naturwissenschaftlichen und auch philosophischen Themen an. Vornehmlich sind es die Quantenphysik, Neurologie und der franzosische Strukturalismus, mit denen er sich befasst. Grunbein schreibt uber diese Zeit:

„Bis zum Jahr 1989 lebten wir alle wie hinter Klostermauern, erzwungenermaBen, wie Monche. Die meiste Zeit saB ich im Lesesaal, erst in der sachsischen Landesbibliothek in Dresden, spater wahrend des Studiums in der Berliner Staatsbibliothek. Es gab soviel zu lesen, und man hatte alle Zeit der Welt. Nichts lenkte einen ab, keine Reiseziel lockte, man kannte ja seine Umgebung von hier bis Wladiwostok, uberall dieselbe sozialistische Monokultur, so dachte ich damals.“[11]

Erst Schadelbasislektion, Grunbeins zweiter Gedichtband, den er 1991 veroffentlicht, bringt groBe Popularitat mit sich. In den hierin veroffentlichten Gedichten, die zwischen 1989 und 1991 entstanden, geht es einerseits um Verarbeitung ehemaliger DDR-Wirklichkeit. Dabei bedient er sich einer Rhetorik, die sich durch ein Vokabular auszeichnet, das sonst in medizinischen Kontexten zu finden ist. Andererseits kommen hier noch junge Erfahrungen aus dem wiedervereinten Deutschland hinzu. Wegen des groBen Erfolgs gibt der Suhrkamp Verlag noch 1991 den Sammelband Von der ublen Seite. Gedichte 1985-1991 heraus. Im Jahr 1994 folgen gleich zwei weitere Veroffentlichungen: Falten und Fallen und Den Teuren Toten. 33 Epitaphe. In Letzterer schildert Grunbein das Sterben von Menschen und kritisiert die gesellschaftlichen und kulturellen Umstande, die den anonymen Schicksalen zugrunde liegen.

Unter anderen wird Grunbein 1992 der Literaturpreis der Stadt Marburg verliehen. Im gleichen Jahr erhalt er den Forderpreis der Stadt Bremen. 1995 wird ihm der Peter-Huchel- Preis und mit dem Georg-Buchner-Preis schlieBlich auch der bedeutendste deutsche Literaturpreis verliehen, den er zunachst zugunsten von Elfriede Jelinek und Oskar Pastior gar nicht annehmen wollte. In seiner Dankesrede reflektiert Grunbein in einer kurzen Passage den Moment, in dem ihm, vor einem Panzer in Berlin stehend, bewusst wurde, dass die deutsch- deutsche Teilung zu Ende war:

„Bis hierher war der Korper gekommen, nun suchte er Ruhe, eine Pause im Fortgang. Er hatte genug von alldem, genug von den StraBen breit wie Landebahnen, von Friedensplatzen und Todesstreifen, genug von Morgenappell und windschiefen Plattenbauten, von Sicherheitswahn und urbaner Monotonie, genug der konditionierten Regungen und der einfaltigen Sprachen, endlich genug dieser langen sozialistischen Dammerung, der Lethargieeiner ganzen Landschaft, in die er durch Zufall hineingeraten war wie in eine riesige Falle.“[12]

Im gleichen Jahr erscheinen seine Dankesreden und zahlreiche Essays gesammelt in Galilei vermifit Dantes Holle und bleibt an den Mafien hangen. Hierin entwickelt er Grundzuge einer Poetologie und analysiert wiederum aktuelle gesellschaftliche Tendenzen. Grunbeins 1999 erschienener Gedichtband Nach den Satiren ist ebenfalls von medizinischem Vokabular gepragt, jedoch nicht mehr in dem MaBe wie seine bisherigen Veroffentlichungen. Mit dem Werk Das erste Jahr erschien 2001 ein Tagebuch des Jahres 2000, welches unter anderen einige poetologische Passagen enthalt. Im Jahr darauf erscheinen Erklarte Nacht und Una storia vera. 2003 folgt mit Warum schriftlos leben eine weitere Essay-Sammlung. Seither befasst sich Durs Grunbein vornehmlich mit der Ubersetzung und Veroffentlichung antiker Texte. 2005 tritt er die Professur fur Poetik und kunstlerische Asthetik an der Kunstakademie Dusseldorf an. Im gleichen Jahr wird er mit dem Friedrich Holderlin-Preis ausgezeichnet und 2006 erhalt Durs Grunbein den Pier Paolo Pasolini-Preis. Im Jahr 2007 publiziert er mit Strophen fur ubermorgen nach funf Jahren seinen nachsten Gedichtband, ehe 2008 Liebesgedichte erscheint.

Es sind vor allem die fruhen Werke des postmodernen Autors Durs Grunbein, die im Kontext dieser Arbeit zu untersuchen sind. Er schildert darin jedoch mehr als eine subjektive Sicht auf den politischen Umbruch, den die deutsch-deutsche Wiedervereinigung bedeutet hat. Von seinen Erfahrungen in beiden deutschen Staaten ausgehend thematisiert er kulturelle Fragen, die uber deutsche und auch europaische Fragen des zwischenmenschlichen Umgangs hinausgehen. Dies ist ein wesentliches Element des postmodernen Charakters der Lyrik Grunbeins.

1.3. Uberblick uber das postmoderne Schreiben mit Blick auf Durs Grunbein

In dieser Passage soll ein kurzer Uberblick uber zentrale Motive postmoderner Literatur gegeben werden. Dabei wird es nicht darum gehen, ein einheitliches und abschlieBendes Begriffsverstandnis herzustellen oder abschlieBend zu definieren, was unter postmoderner Literatur zu verstehen ist. Stattdessen sollen, von einer philosophischen Begriffsbestimmung ausgehend, einige Charakteristika dieser Literatur aufgezeigt werden. Hier soll gezielt ein eher philosophischer Ansatz gewahlt werden, um nicht zu tief in einen literaturgeschichtliche Diskurs einzutreten. Dieser Meta-Diskurs wird dabei helfen, die ubergreifenden Themen in einen Zusammenhang mit Grunbeins Werk zu setzen. Am Ende dieses Kapitels soll ein Uberblick uber die spezifischen Themen stehen, vor dessen Hintergrund insbesondere Grunbeins Lyrik im dritten Abschnitt dieser Arbeit zu untersuchen sein wird.

In der Begriffs-Definition, die hier einleitend zitiert werden soll, heiBt es, die Postmoderne:

„faBt eine Reihe von Positionen [...] zusammen, deren wesentliche Gemeinsamkeit in der Kritik an den Paradigmen der Moderne liegt [...], seien es Rationalismus oder Humanismus, seien es Christentum, Marxismus oder gar Nationalismus, seien es Kapitalismus oder Technokratie: nicht nur Skepsis sei ihren Beschreibungen und Erklarungen gegenuber angebracht, auch ihre Anspruche erscheinen inakzeptabel, ihre Versprechen unattraktiv; auch alle Begriffe, die das Denken in der Moderne gepragt haben (>>Einheit<<, >>Wahrheit<<, >>Wissenschaft<<, >>Begriff<<, >>Sinn<<) verfallen dem postmodernen Verdikt, universalistisch und totalitar zu sein. Die neuzeitliche Wissenschaft und Politik beruhte auf dem Ausschluss von Heterogenitat und der Reduktion auf abstrakte Identitaten [...]. Stattdessen setzt das postmoderne Denken auf Vielfalt, Schein, Kunst, Metapher, Form, Korper, Zufall und Spiel [.. ,].“[13]

Der Bezug zwischen den hier genannten Themen und dem Werk Durs Grunbeins ist evident. Grunbeins hat, nachdem er den Untergang eines totalitaren Staates miterlebt hat, a priori eine Ablehnung gegen Systeme, die auf einen Absolutheitsanspruch fuBen. Dieser Aversion verleiht er wiederholt Nachdruck und beschreibt in diesem Kontext, sich als Soldat der NVA als fremdbestimmte Marionette gefuhlt zu haben.[14] Die Wiedervereinigung Deutschland bzw. die Ausreise Grunbeins aus der ehemaligen DDR markiert auch einen Wendepunkt in seiner Literatur. Das thematische Spektrum hat sich erweitert um die Kritik am kapitalistischen System und an Individuen, die durch eine stetig wachsende Zahl sich differenzierenden Medien ubermaBig exponiert werden. Auch eine allgemein kritische Sicht auf die westdeutschen und neuen Medien wird zu einem Teil seines Werkes. Uberdies kam eine neue Perspektive, namlich die Bilanzierung der ostdeutschen Vergangenheit zutage. Bei Forster und Riegel heiBt es:

„In den achtziger Jahren waren Pessimismus und Endzeitstimmung weit verbreitet. In mancher Hinsicht schien man einem Wendepunkt nahe zu sein. Die Lyriker reagierten vielleicht empfindlicher als die meisten - sichtbar an vielen ihrer Gedichte.“[15]

Dichter nehmen demnach gewissermaBen eine Sonderstellung unter den Literaten ein, weil sie vermeintlich sensibler auf Veranderungen innerhalb einer Gesellschaft bzw. eines Kulturkreises reagieren. Ob und inwiefern Durs Grunbein dieser These zustimmt, wird ein Teil der Untersuchungen einiger selbstreflexiver Texte Grunbeins sein, die im zweiten Kapitel dieser Arbeit erfolgen wird.

Unstrittig ist aber, dass ein bestimmter Typus von Gedicht - namlich das Bilanzgedicht - vor und auch nach 1990 Grunbeins Vergangenheit in der ehemaligen DDR zum Gegenstand hatte. Bei Forster und Riegel heiBt es dazu in Bezug auf Grunbein:

„Ein Ruckblick- und Bilanzgedicht besonderer und neuer Art, das zu Ende der achtziger Jahre die zuruckliegenden drei Jahrzehnte resumiert, hat Durs Grunbein verfasst. Es gehort weder zu den Gedichten, deren Verfasser die Welt am Rand einer Katastrophe wahnen, noch zu jenen, die sich mit den kleinen personlichen <<Katastrophen>> im Alter abgeben.“[16]

Im betreffenden Gedicht aus der Sammlung Grauzone Morgens umspannt Grunbeins Reflexion drei Jahrzehnte. Am Ende konstatiert das lyrische Ich, dass diese Zeit „rasch vergessen wird und vergessen werden kann“[17] .

Ausgehend von Jean-Frangois Lyotards These, die philosophischen Systeme der Moderne seien gescheitert, existiert jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Charakteristika postmoderner Literatur. Vertreter der Postmoderne, die den Zustand von Kunst, Kultur und der Gesellschaft ,nach der Moderne‘ betrachten, uben aus vielen Richtungen Kritik: Standiges Streben nach Erneuerung sei zum Selbstzweck geworden, dem nicht langer genuge getan werden durfe. AuBerdem wirft man der Moderne vor, ihre Kunst sei einseitig und verschlieBe sich existierenden und vielfaltigeren Perspektiven. Das asthetische Verstandnis von Kunst musse erweitert werden. Ferner wird der universale Wahrheitsanspruch in Fragen der Religion, Ideologie und der Moral abgelehnt. Begriffe wie die oben zitierten ,Wahrheit‘ oder ,Sinn‘ werden neu oder umgedeutet und oft wird in Frage gestellt, ob sie uberhaupt isoliert definiert werden konnen. Stattdessen fordern postmoderne Literaten mehr Toleranz gegenuber der zunehmenden Pluralitat in Kunst und Kultur sowie innerhalb ihrer Gesellschaft. Sie sind ausdruckliche Befurworter des Multikulturalismus.

Auf der Suche nach einer Antwort auf die groBen Sinnfragen fordern sie Perspektiven, die nicht durch Religion und Ideologien gefarbt sind. Stattdessen wenden sie sich den menschlichen Affekten und Emotionen zu und rucken diese ins Zentrum ihres literarischen Schaffens. In ihnen sehen viele postmoderne Autoren die passende - wenn auch entromantisierte bzw. gewissermaBen sakularisierte - Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Die menschlichen Affekte sind fur sie eine Pramisse ihrer Beschaftigung mit sozio-kulturellen Entwicklungen in ihrer Gesellschaft. Mehr noch: Es interessiert viele von ihnen - so auch Durs Grunbein -, was diese Affekte in Gang setzt. Hier wird auch deutlich, weshalb naturwissenschaftliche Untersuchungen eine derartige Faszination auf Vertreter der Postmoderne ausuben. Wer wissen mochte, wie das unbewusste Handeln eines Menschen in Gang kommt, wird sich mit Psychologie und auch Physiologie beschaftigen mussen. Durs Grunbein ist vor allem von Letzterer fasziniert, wie im spateren Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden soll.

Die Literatur der Postmoderne bricht mit dem chronologischen, linearen Erzahlen. Dabei wird der Leser vor die Aufgabe gestellt, die Fragmente einer Erzahlung selbst zusammenzufugen. In dieser fragmentarischen Erzahlweise spiegelt sich oft das Unvermogen der Protagonisten wider, zu einem autonomen Subjekt zu werden. So unterliegt das Werden des Protagonisten einem Determinismus, der unantastbar uber ihm steht. Ein weiteres Charakteristikum postmodernen Erzahlens ist die Negierung eines objektiven und isoliert zu betrachtenden Zusammenhangs zwischen einem Gegenstand und dessen Konnotation bzw. zwischen dem Zeichen und dem damit Gemeinten. Im Sinne Ferdinand de Saussures bedeutet dies, dass eine solche Verknupfung erst vom Leser hergestellt werden musse. Postmoderne Autoren realisieren dies, indem sie in ihren Gedichten und Romanen auf altere Texte und deren Verfasser Bezug nehmen und diese zitieren. Aber auch versteckte Anspielungen auf die Themen jener Autoren werden als Stilmittel eingesetzt. Bei der Lekture muss daher Schwieriges geleistet werden. Der Leser muss die Bezuge zu anderen, originaren Texten erkennen, verstehen und daruber hinaus in Bezug setzen zu den teilweise stark fragmentarischen neuen Versen bzw. Textpassagen. Auch fur einen Teil von Grunbeins Werk ist diese Form des Erzahlens charakteristisch.

Markant fur die postmoderne Dichtung ist daruber hinaus der Verzicht auf ein konkretes Subjekt. Der Protagonist bleibt oft namenlos. Oftmals wird wenig uber ihn mitgeteilt. Sein Schicksal ist damit anonym. Beide Aspekte zusammen, der fragmentarische Erzahlstil sowie die Anonymitat des Protagonisten resultieren bei Grunbein in einer „subjekt- und geschichtslose(n) Transitpoesie[18]“ . Oft fehlen in Grunbeins Lyrik Bezugspunkte, die Ruckschlusse auf den Ort und Zeitpunkt bzw. -raum zulassen, in dem das Erzahlte spielt. Stattdessen bedient er sich aus den Stoffen verschiedener Epochen und bricht damit die oft starren und schematischen Epochengrenzen auf. Dies ist besonders im Hinblick darauf bemerkenswert, dass Vertreter der literarischen Postmoderne sich zumeist als Teil einer Denkbewegung verstehen. Sie grenzen sich gegenuber Vertretern fruherer Epochen nicht dadurch ab, die Literatur revolutionieren zu wollen. Vielmehr ist es ihr Ziel, bekannte Stoffe und Themen im Sinne einer Bilanzierung neu zu arrangieren um damit einen groBen Diskurs uber aus ihrer Sicht wichtige Fragen des gesellschaftlichen Lebens anzuregen.

2 Grunbeins Poetologie

Im ersten Hauptteil dieser Arbeit sollen poetologische Texte Durs Grunbeins untersucht werden. Das Ergebnis dieses Kapitels wird eine Bestimmung des literarischen Programms Grunbeins sein. Dies wird in mehreren Schritten erfolgen: Zunachst wird einleitend erortert, was unter poetologischen Texten zu verstehen ist. Der zweite Schritt wird eine Untersuchung sein, deren Gegenstand die ,Geburtsstunde des ersten Gedichts‘ bei Grunbein sowie in einem kleinen Exkurs exemplarisch auch bei Gottfried Benn sein wird. Ein Vergleich Grunbeins gerade mit einem Gedicht Gottfried Benns soll hier angestellt werden, weil sich nur wenige Passagen bei Grunbein finden, in denen er diesen besonderen Moment im literarischen Schaffen eines Dichters beschreibt. In dem Exkurs soll untersucht werden, inwieweit sich die beiden Beschreibungen dieses Augenblicks ahnlich sind. Aus dem Vergleich sollen erganzende Erkenntnisse gewonnen bzw. die bereits gewonnenen bestatigt und vertieft werden. Besondere Beachtung wird den Aspekten zukommen, bezuglich derer sich Differenzen auftun. Die Grundlage der Untersuchung werden besonders zwei Aspekte bilden, die bei Benn wie auch bei Grunbein eine gewichtige Rolle spielen. AnschlieBend wird die Betrachtung poetologischer Texte Grunbeins erfolgen. Den Gegenstand dieser Untersuchung werden einerseits Essays aus Galilei vermifit Dantes Holle sowie andererseits die Rede Den Korper zerbrechen, die Grunbein bei der Entgegennahme des Georg-Buchner- Preises gehalten hat, bilden. Im anschlieBenden groBten Abschnitt dieses Kapitels soll Durs Grunbeins poetologisches Konzept mithilfe der Forschungsliteratur weiterfuhrend erarbeitet werden.

2.1 Zum Begriff ,poetologischer Text‘

Poetologische Texte sind reflektierende Texte. In ihnen spiegelt der Autor sich selbst, seine Rolle in der Gesellschaft und seine Rolle als Kunstler wider. Vor allem jedoch denkt er hierin uber sein Werk nach. Dies kann als der Versuch gedeutet werden, Rechenschaft fur das eigene Schaffen abzulegen. Nach Hildebrand dient dieses selbstreflektierende Schreiben „zur Standortbestimmung und Selbstlegitimation im Wandel der Zeit“[19]. Solche Selbstreflexionen gibt es in allen literarischen Gattungen. Bei Grunbein sind es vornehmlich Essays sowie wenige Gedichte. Hildebrand unterscheidet poetologische Texte in zwei Erscheinungs- formen[20] : Den ersten Typ nennt er darstellend oder auch expositorisch. Hier wird der Gegenstand wissenschaftlich und theoretisch prasentiert. Der zweite Typ wird als fiktional charakterisiert. In diesem Fall wird das Thema poetisch behandelt und somit rhetorisch ausgeschmuckt und formal ausgearbeitet. Gerade das Gedicht - so Hildebrand - biete sich aufgrund seiner strukturellen Merkmale an, die inharente Botschaft, also die Intention des Autors, auch formal zu realisieren und zu visualisieren. Mit Poetologien in Gedicht-Form kann ein Schriftsteller einem grundlegenden Problem entgehen, das poetologischen Essays anhaftet: Versuchte er sich an Beschreibungen seiner Motivation, Themen und Intentionen, musste er all das ausformulieren, was im Werk ungesagt bleibt. Hierbei kann seine Beschreibung der Komplexitat der Vorlage wahrscheinlich nicht gerecht werden. Wollte er andererseits die Struktur seines Werks erlautern und die Regeln vermitteln, nach denen es entstand, liefe er Gefahr, lediglich einen normativen Diskurs zu offnen. In beiden Fallen gelange folglich keine vollstandige Poetologie. Im selbstreflexiven Gedicht kann man diesen Schwierigkeiten entgehen, „sofern es seine Form selbst schon als poetologische Substanz prasentiert“ [21]. Wenn diese strukturelle Voraussetzung erfullt ist, lasst sich exemplarisch das realisieren, was das Gedicht inhaltlich fordert. Eben jene Voraussetzung erfulle ein Gedicht nach Hildebrand genau dann, wenn seine „sprachliche, metrische, rhythmische und strophische Gestaltung [...] - jenseits des sprachlichen Denotats - eine bedeutungstragende Funktion[22]“ erhalte. Das Gedicht behandelt dann einen theoretischen Gegenstand und problematisiert und exemplifiziert ihn gleichsam in sich und seiner dichterischen Gestalt. Das, was thematisiert wird, werde gleichzeitig durchgefuhrt [23] . Fur moderne poetologische Lyrik sei zusammenfassend charakteristisch, dass sie insofern reflexiv sei, „als sie weniger auf normative Rezepte als auf individuelle Konzepte setzt. Sie ist nicht mehr praskriptiv oder normativ, sondern zunehmend deskriptiv, relativ und subjektiv. Ein immer starker in den Vordergrund tretendes lyrisches Ich bestimmt - im BewuBtsein seiner historisch- biographischen Situation - den eigenen kunstlerischen Standpunkt [24] .“ Hieraus resultiert laut Hildebrand eine groBe Uberzeugungskraft, die es fur eine literarische Selbstreflexion pradestiniere.

Bei der Bewertung der poetologischen Texte Durs Grunbeins wird es spater im Wesentlichen um zwei Dinge gehen: In erster Linie werden Grunbeins Reflexionen uber sich, sein Werk und Dichtung im Allgemeinen erortert, um eine Grundlage zu schaffen fur die sich anschlieBende Untersuchung seines Werkes. Jedoch wird das literarische Medium, das Grunbein wahlt, ebenso zu untersuchen sein. Prasentiert er seine Poetologie im Gedicht oder im Essay - bzw. fiktional oder expositorisch?

2.2 Die ,Geburtsstunde des ersten Gedichts‘ bei Grunbein

Anlasslich der Verleihung der Peter-Huchel-Preises an Durs Grunbein im Jahr 1995 erschien 1998 ein Heft, das unter anderem Essays enthalt, in denen Grunbein uber das Entstehen eines ersten Gedichts im Allgemeinen und uber sein erstes Gedicht im Speziellen reflektiert und berichtet. Betrachtet werden soll zunachst, was Grunbein als allgemeingultiges Verstandnis dieses Moments beschreibt.

Grunbein vertritt die Ansicht, dass ein Mensch in ein Umfeld hineingeboren werde, dessen Sprache erlernt werden musse. So gelinge es ihm, nicht fremd zu bleiben, sondern zu einem Teil der Geschehnisse um ihn herum zu werden. Erst dann, wenn ein Kind im Stande sei, adaquat mit seinen Eltern, „den Vertrautesten“[25] , zu kommunizieren, gelange es in diese „zentrische Stellung“[26]. Seine Aufgabe sei es fortan, diese Stellung zu halten, also Mitglied der Gesellschaft zu bleiben, in die es integriert ist. Hier verharrend, ist es allen Eindrucken und Einflussen weitgehend ungeschutzt ausgesetzt. Aus dieser Position im Zentrum heraus erlaubt es das eigene, eingeschrankte Sichtfeld nicht, seine ganze Welt gleichzeitig und mithin gleichmaBig zu erfassen. Hier verlasst sich das Ich notwendigerweise auf seine Instinkte. Grunbein vermutet, dass man die ersten Worte eines Gedichts schopfe, „wie man Verdacht schopft[27]“ . Der Dichter erwartet also die eingangs zitierte Urszene, die ihn zum Schreiben bringt. Grunbein nennt sie auch den „kritischen Augenblick“ und versteht darunter:

„Eine schockhafte Erfahrung, die nicht mehr unmittelbar und vor allem nicht im munteren Plauderton weitergegeben werden kann. Also adressiert man sie an die Ferne, an einen, der erst noch geboren wird, wie es bei Kleist heiBt. Der kritische Augenblick ist offenbar eine Erfahrung der Einzigartigkeit der eigenen Lebenssituation. Er kann selbst in einer freien Gesellschaft auftauchen: wenn man sich allgemein von Langeweile und Geschwatz umzingelt fuhlt, etwa in einer vollkommen medialisierten Welt. Eine Wahrnehmung, die eines Tages spat um Mitternacht auftaucht, kann urplotzlich zu dieser schockhaften Einsicht fuhren. Und dann ist der kritische Augenblick genau dieses Gefuhl absoluter Einsamkeit. Der kritische Augenblick tritt ubrigens erst dann auf, wenn die Gesellschaft in der Krise ist[28].“

Missfallen uber das, was Menschen und Sprache um ihn herum anrichten, bringe ihn also zum Schreiben. Unterdessen wachse das Verlangen nach einem Perspektivwechsel. Der Dichter mochte frei von sprachlichen Zwangen sein und auBerhalb seiner Ereigniswelt stehen. Er konne „das Schwindelgefuhl in der Erscheinungswelt[29]“ nur schwer ertragen. Das Dichten sei dann, so Grunbein, „ein Abwehrzauber gegen die Macht des Realen, ein Angriff aufs eigene Zentrum[30]“ . Das erste Gedicht entspringt demnach einem instinktiven Bemuhen um Selbstschutz. Der Dichter versucht, sich als Individuum zu wahren und der Opportunitat zu entgehen.

Es gibt nach Grunbein genau zwei mogliche Motive, die einen Autor in diesem Augenblick lenken: „List oder Unverschamtheit[31]“ . Doch wann ist der Dichter listig und wann unverschamt? Grunbein lasst seinen Leser an dieser Stelle weitgehend allein mit der Deutung.

Es ist anzunehmen, dass der listige Dichter der ist, dem es gelingt, eine kurze Sequenz aus der Ereigniswelt in einer Weise im Gedicht zu reflektieren, die dem Leser diese Ansicht offenkundig und einpragsam erscheinen lasst. Ferner besteht die List darin, die Offensichtlichkeit dieser reflektierten Meinung rhetorisch zu verschleiem und gleichzeitig zu starken. Aufgabe des Lesers ist dann, diese Botschaft zu entdecken. Aufgabe des Dichters ist es, den Leser mit Geschick zu dieser Erkenntnis zu leiten.

Der eigentlich Gefahrliche - hier wird Grunbein dann konkreter - sei der Verleugner. Grunbein wertet ihn als „gehassigen Renegaten[32]“ ab, fuhrt dann aber nicht weiter aus, welchen Dichtertypus er meint. Jedoch beschreibt Grunbein dessen Motive und erhebt ihn zum Antagonisten des listigen Dichters. Gemeint sind die Dichter, die ihre Erscheinungswelt nicht oder nicht mehr kritisch betrachten. Moglicherweise sind er oder sein Werk bloBgestellt worden. Grunbein deutet dies an, wenn er schreibt, dass „denen das Spielzeug von einem der Mitwisser zerbrochen wurde[33]“ . Was ihn folglich antreibe, sei das permanente Bestreben, die nunmehr herrschende Meinung zu bekampfen und zu verleugnen. Sein Wissen um seine „verborgene[n] Insuffizienz[34]“ lasse ihn unverschamt werden. Grunbein behauptet weiter, dass dem Verleugner seine Unverschamtheit bewusst sei und dass es gerade diese Eigenschaft sei, die ihn zum Dichten bringt. Dass sich der Unverschamte anscheinend fur das schamt, was er tut, deutet Grunbein an, wenn er schreibt, dass jener sich „einem zoologischen Gesetz zufolge, das viele Tiere sich zu verkriechen zwingt[35]“ maskiert und somit seine Identitat zu schutzen versucht.

Es konnte bis hierhin Klarheit daruber gewonnen werden, wie Grunbein die Rolle des listigen Dichters interpretiert: Aus der diffizilen Position in der Mitte seiner Umwelt heraus versucht er auf das hinzuweisen, was andere zu leugnen bemuht sind. Was ihn auszeichne, sei sein steter Wille, seine Sprache von den gangigen Konventionen zu losen, um - nach seinem Verstandnis - adaquat uber das zu schreiben, was in der Erscheinungswelt geschieht. Es ist zu vermuten, dass Grunbein sich selbst zu dieser Gruppe von Dichtern zahlt, da er die Gruppe der Verleugner anklagt. Im Folgenden wird ein Essay untersucht, in dem er uber den 15- jahrigen Durs Grunbein und dessen umfangreiche Lekture von Autoren und Genres aller Couleur schreibt und reflektiert. Diese Passage kann also gleichsam als Erganzung der vorangestellten biographischen Angaben gelesen werden. Der Fokus wird jedoch auf der Frage liegen, inwieweit seine Lekture ihn nach seinen eigenen Schilderungen pragte und somit Einfluss auf sein Werk hat.

Was den AnstoB dafur gab, sich als Jugendlicher Novalis’ Werk zu widmen und es intensiv zu studieren, kann Grunbein offenbar nicht genau bestimmen, und er fuhrt sein Interesse stattdessen auf einen „abnormen Appetitanfall[36]“ zuruck. Novalis - eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg - war einer der bedeutendsten Vertreter der kurzen Epoche der deutschen Fruhromantik. Diese Lekture habe ihn verandert, schreibt Grunbein, auch wenn er dies erst spater bemerkt habe. Offenbar angezogen vom Reiz, etwas Ungewohnliches zu tun und auch um dem „kollektiven Zwang zu Spiel, SpaB und Sport[37]“ zu entfliehen, verfasst Grunbein fruh erste Gedichte. Augenscheinlich bezieht er sich hier auf das bekannte, programmatische Jugend-Leitmotiv seiner Vergangenheit in der DDR. Jedoch dient ihm dieser Hinweis vor allem dazu, zu betonen, dass er sich davon eingeschuchtert fuhlte[38]. Seine Motivation fur die fruhe Beschaftigung mit dem literarischen Schreiben fuhrt Grunbein auf einen „der starksten Triebe bei hoheren Saugetieren“[39] zuruck: das Nachahmen. So bezeichnet er das Resultat seiner Abkehr von der sozialistischen Jugend-Kultur und auch der Lekture von Novalis’ Hymnen in die Nacht als seine „ersten Nachahmungen[40]“. Ferner habe ihn auch der Einfluss von anderen Literaten gepragt: Er schrieb Briefe u.a. an Dostojewski und habe sich mit den Cantos von Ezra Pound eher anfreunden konnen als mit Gleichaltrigen. Mit diesen „schragen Vogeln“[41] konnte er wenig anfangen und verbrachte seine Zeit stattdessen mit Lekture. Der Amerikaner Ezra Pound, ein bedeutender Vertreter der Moderne in der englischsprachigen Literatur, hat ahnlich wie Grunbein in mehreren Landern gelebt. Wahrend des Ersten Weltkriegs lebte er in Irland und beschaftigte sich eingehend mit asiatischer Lyrik. Sein Lebenswerk, die Cantos, begann er wahrend dieser Zeit. So habe u.a. Pound Grunbein geholfen, „den Damonen der Ignoranz und der Gruppendummheit“[42] zuentgehen.

[...]


[1] Grunbein, Durs: Rede zur Entgegennahme des Georg-Buchner-Preises 1995. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1995. S. 7.

[2]Der Brockhaus Multimedia! Premium 2009. DVD-ROM. Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG., 2009.

[3]Vgl. zu den biographische Angaben: Muller, Alexander: Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grunbeins. Igel Verlag. Oldenburg 2004. S. 13-18.

[4]Vgl.: Jocks, Heinz-Norbert: Durs Grunbein im Gesprach mit Heinz-Norbert Jocks. DuMont Buchverlag. Koln 2001.

[5]Vgl. auRerdem zu Grunbeins Biographie: Joist, Alexander: Auf der Suche nach dem Sinn des Todes. Todesdeutungen in der Lyrik der Gegenwart. Matthias-Grunewald-Verlag. Mainz 2004. S. 184f.

[6]Apel, Friedmar: Pausenfuller der Verganglichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 17.07.2003.

[7]Grunbeins bildreiche Gedichte dienten spater auch malenden Kunstlern als Inspiration. Die US-Amerikanerin Janet Brooks Gerloff, die seit 1972 in der Bundesrepublik lebt, benennt als die ubergreifende Thematik ihres Gesamtwerks Der Mensch und sein Handeln. Im Jahr 1998 hat sie im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen Werke zum Thema Zerbrechlichkeit ausgestellt. Hier visualisierte sie auf ca. 30 Gemalden eine Auswahl von Grunbein-Gedichten aus Falten und Fallen, Den Teuren Toten und Nach den Satiren. Beeindruckend war hierbei, dass es Brooks Gerloff gelang, die Vieldeutigkeit und immanente Irritation der Gedichte in den Bleistiftzeichnungen einzufangen. Die Zeichnungen sind abgedruckt erschienen in: Brooks Gerloff, Janet: Zerbrechlichkeit. Bilder zu Gedichten von Durs Grunbein. Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. 26. September - 22. November 1998

[8]Muller, Alexander: Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grunbeins. Igel Verlag. Oldenburg 2004. S. 15.

[9]Vgl.: Braun, Michael: Horreste, Sehreste. Das literarische Fragment bei Buchner, Kafka, Benn, Celan. Bohlau Verlag GmbH & Cie. Koln 2002. S. 265. Unklar bleibt bei Braun leider, welche Position dieser Bekannte Mullers bekleidete und wie er Einfluss auf die Bewilligung des Ausreiseantrags nehmen konnte.

[10]Vgl.: Jocks, Heinz-Norbert: Durs Grunbein im Gesprach mit Heinz-Norbert Jocks. DuMont Buchverlag. Koln 2001. S. 58f.

[11]Ebd. S. 47.

[12]Grunbein, Durs: Rede zur Entgegennahme des Georg-Buchner-Preises 1995. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1995. S. 22.

[13] Prechtl, Peter; Burkhard, Franz-Peter (Hrsg.): Metzler Philosophie-Lexikon. Zweite, erweiterte Auflage. Verlag J.B. Metzler. Stuttgart, Weimar 1999. S. 458.

[14]Vgl.: Jocks, Heinz-Norbert: Durs Grunbein im Gesprach mit Heinz-Norbert Jocks. DuMont Buchverlag. Koln 2001. S. 58f.

[15]Forster, Heinz; Riegel, Paul: Deutsche Literaturgeschichte. Band 12: Die Gegenwart 1968-1990. 3. Auflage. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG. Munchen 2004. S. 359.

[16]Ebd. S. 363.

[17]Forster, Heinz; Riegel, Paul: Deutsche Literaturgeschichte. Band 12: Die Gegenwart 1968-1990. 3. Auflage. Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG. Munchen 2004. S. 365.

[18]Beutin, Wolfgang; Ehlert, Klaus; Emmerich, Wolfgang (u.a.): Deutsche Literaturgeschichte - Von den Anfangen bis zur Gegenwart. Sechste, uberarbeitete Auflage. Verlag J.B. Metzler. Stuttgart, Weimar 2001. S. 674.

[19]Hildebrand, Olaf (Hrsg.): Poetologische Lyrik von Kloppstock bis Grunbein. Gedichte und Interpretationen. Bohlau Verlag GmbH & Cie. Koln 2003. S. 1.

[20] Hildebrand, Olaf (Hrsg.): Poetologische Lyrik von Kloppstock bis Grunbein. Gedichte und Interpretationen. Bohlau Verlag GmbH & Cie. Koln 2003. S. 1f.

[21]Ebd. S. 1.

[22]Ebd. S. 4f.

[23]Vgl. ebd. S. 3. Hildebrand bezieht sich an dieser Stelle auf die Sprechakttheorie (auch Sprechhandlungstheorie), nach der im Zusammenkommen des Benannten und dessen Vollzug ein performativer Akt liegt. In der Folge betrachtet er ausgiebig die Entwicklung poetologischer Lyrik seit der Antike und leitet durch die literarischen Epochen hindurch ihre Charakteristika ab. Grunbein, Durs: Peter-Huchel-Preis 1995. Durs Grunbein. Elster Verlag und Rio Verlag. Baden-Baden, Zurich 1998. S. 40.

[24]Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. Zeitschrift fur Literatur. Heft 153. Durs Grunbein. Richard Boorberg Verlag GmbH & Co.. Munchen 2002. S. 76.

[25]Grunbein, Durs: Peter-Huchel-Preis 1995. Durs Grunbein. Elster Verlag und Rio Verlag. Baden-Baden, Zurich 1998. S. 40.

[26]Ebd.

[27]Ebd.

[28]Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 153. Durs Grünbein. Richard Boorberg Verlag GmbH Co.. München 2002. S. 76.

[29]Grunbein, Durs: Peter-Huchel-Preis 1995. Durs Grunbein. Elster Verlag und Rio Verlag. Baden-Baden, Zurich 1998. S. 40.

[30]Ebd.

[31]Ebd.

[32]Grünbein, Durs: Peter-Huchel-Preis 1995. Durs Grünbein. Elster Verlag und Rio Verlag. Baden-Baden, Zürich 1998. S. 40.

[33] Ebd.

[34] Ebd.

[35] Ebd.

[36]Vgl.: Grünbein, Durs: Peter-Huchel-Preis 1995. Durs Grünbein. Elster Verlag und Rio Verlag. Baden-Baden,Zürich 1998. S. 41.

[37]Ebd.

[38]Ebd.

[39]Ebd.

[40]Ebd.

[41]Ebd.

[42]Ebd.

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Durs Grünbeins pathologisches Interesse
Untertitel
Eine Untersuchung der Poetologie des Dichters am Beispiel von "Den Teuren Toten" und "Grauzone morgens"
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Germanistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
84
Katalognummer
V150978
ISBN (eBook)
9783640626571
ISBN (Buch)
9783640627127
Dateigröße
1271 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine Untersuchung der medizinisch-naturwissenschaftlich geprägten Rhetorik des Dichters und Essayisten Durs Grünbein am Beispiel der Sammlungen "Den Teuren Toten" und "Grauzone morgens" im Kontext des poetologischen Konzepts, das er in "Galilei vermißt Dantes Hölle" entwirft.
Schlagworte
Pathologie, Durs, Grünbein, Grauzone, Teuren, Toten, Morgens, Galilei, Dantes, Hölle, Poetologie
Arbeit zitieren
Mario Vorberg (Autor:in), 2009, Durs Grünbeins pathologisches Interesse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150978

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