Kommunikative Dunkelheit - Untersuchungen zur Poetik von Paul Celan


Magisterarbeit, 2009

115 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. „Hell ist die Nacht“ Die Metaphorik von Dunkelheit und Licht und ihre poetologischen Implikationen
2.1 Abgrund und Verborgenheit
2.2 Die Anwesenheit der Toten
2.3 Das Dunkel und seine Übersetzung

3. „Wir sagen uns Dunkles“ – Sprache der Liebe, Sprache des Lebens, Sprache des Todes
3.1 IN ÄGYPTEN
3.2 CORONA
3.3 HALME DER NACHT

4. „Sprich deutlicher, sprich tödlicher“ – Sprachskepsis und die Suche nach dem wahren Wort
4.1 MIT WECHSELNDEM SCHLÜSSEL – Wort und Verschwiegenes
4.2 „Soviel Klartext, soviel Beile“ – Das tote Wort und das tötende Wort
4.2.1 NÄCHTLICH GESCHÜRZT
4.2.2 MIT ÄXTEN SPIELEND
4.3 „Wahr spricht, wer Schatten spricht“ – Das lebendige Wort
4.3.1 ARGUMENTUM E SILENTIO
4.3.2 SPRICH AUCH DU

5. „Im Lichte der U-topie“ – Die Poetik im Meridian
5.1 Entstehung und Richtung des Gedichts (Kunst – Atemwende – Dichtung)
5.2 Exkurs: „Wir verstehen dich, Leben“ – Die Rede der Toten
5.2.1 OBEN, GERÄUSCHLOS
5.3 „O einer, o keiner, o niemand, o du“ – Der Gesprächspartner

6. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Paul Celans Gedichte zählen zu den schwierigsten moderner deutschsprachiger Ly- rik. Angesichts dieser kaum bestrittenen Tatsache ist häufig gesagt worden, dass die beliebtes- ten Schlagwörter, um diese Gedichte zu charakterisieren, Hermetik und Dunkelheit, eher die Ratlosigkeit der Interpreten verraten als zu einer produktiven Wesensbestimmung beitragen. Während die Rede von der ‚dunklen Dichtung‘ die Aura des schlechthin Nebulösen hat und zunächst wenig geeignet scheint, ein derart komplexes Gebilde wie das Celan’sche Œuvre zu beschreiben, wurde in der Forschung mit dem Begriff ‚Hermetik‘ zeitweise der Anspruch erhoben, die konstitutive Schwerverständlichkeit dieses Werks theoretisch zu untermauern.1

Doch ist diese Bezeichnung in der Literaturwissenschaft zu einem äußerst unscharfen Sam- melbegriff geworden, der die unterschiedlichsten inhaltlichen Ausprägungen erfahren hat. Ein weiterer und wichtigerer Grund, ihn nicht auf Celans Poetik anzuwenden, ist allerdings der in der Forschung mittlerweile zur Kenntnis genommene Umstand, dass der Dichter selbst seine Lyrik ausdrücklich nicht als hermetische verstanden wissen wollte.2 Celans Vorbehalte beziehen sich auf das zentrales Merkmal, das seit Hugo Friedrichs Etablierung des Begriffs in Deutschland immer wieder für hermetische Schreibweisen geltend gemacht wurde: die „Ab- schirmung gegen die äußere Welt“3, die eine buchstäblich hermetische Welt im Kunstwerk schafft und die Referenzen zur empirischen Wirklichkeit suspendiert.4 Verstand man seine Gedichte unter den Vorzeichen einer solchen Poetik, hielt der zeitlebens unverstandene Celan mit verbissenem Nachdruck entgegen: „Glauben Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirk- lichkeitsbezug geschrieben. Aber nein, das wollen und wollen sie nicht verstehen“.5 Wie passt das zusammen? Welcher Art ist der Wirklichkeitsbezug von Gedichten, die den Leser vor so große Verständnisschwierigkeiten stellen?

Freilich, es mutet fast wie ein Klischee an und muss daher umso eindringlicher betont wer- den: Der unverrückbare, oftmals traumatisch anvisierte, fast nie direkt genannte, jedoch kon- sequent bis ins dunkelste Spätwerk durchgehaltene autobiographische Fixpunkt von Celans

Schreiben ist der Holocaust, dem seine Eltern zum Opfer fielen und dem er selbst nur durch Zufall entkam. Der seither heimatlose, unter seiner Überlebensschuld6 leidende Dichter legte sich selbst die strenge moralische Pflicht auf, sich in seinen Gedichten ganz den Ermordeten zu widmen. Der entscheidende Aspekt im Hinblick auf Celans dunkle Dichtung und deren Wirklichkeitsbezug ist nun die Frage, auf welche Weise man diesen überhaupt zur Sprache bringen darf. Noch 1966 konstatiert Theodor W. Adorno in drastischer Weise:

Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll. [...] Wer für Erhaltung der radi- kal schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte.7

Was Adorno als Aporie formuliert, kann für Celan nur insofern gelten, als dieser den für Adorno im Prinzip nicht existenten Freiraum zwischen ‚Barbarei‘ und ‚Helfershelfertum‘ als – wenngleich gefährdeten und gefährlichen – produktiven Ausgangspunkt seines Dichtens begreift. Die spezifische sprachliche Form von Celans Dichtung hat ihren Grund in diesem kleinen Raum zwischen zwei moralischen Imperativen: dem ethischen Selbstanspruch, den Toten in seinen Gedichten nicht nur zu gedenken, sondern sie tatsächlich mittels Sprache zu vergegenwärtigen und der für Celan äußerst dringlichen Frage, ob eine Evokation dessen,

‚was geschah‘, im Medium einer als defizient empfundenen und vom Geschehenen kontami- nierten Sprache nicht eine unerhörte Anmaßung gegenüber den ermordeten Juden darstelle. In der Celan-Forschung findet man häufig die nahe liegende und scheinbar nichts sagende Be- merkung, die Dunkelheit der Lyrik speise sich aus der Dunkelheit der Geschichte und des Todes. Hinter dieser Pauschalität verbirgt sich jedoch eine tiefere Wahrheit als man zunächst vermutet: Nicht nur hat Celan in einem viel zitierten Satz aus der Bremer Literaturpreis-Rede die Anreicherung der Sprache von den „tausend Finsternisse[n] todbringender Rede“8 und ihr anschließendes Wieder-Zutage-Treten in einem für ihn ganz charakteristischen Umschlags- prozess beschrieben, der in dieser Studie noch ausführlich untersucht sein wird. Auch ist zu beachten, dass Celan in seinen Notizen zu dem geplanten Vortrag Von der Dunkelheit des Dichterischen9 die „Dunkelheit des Gedichts“ mit der „Dunkelheit des Todes“10 explizit gleichsetzt. Dabei ist unbedingt zu beachten, dass ‚Dunkelheit des Todes‘ hier durchaus ganz konkret verstanden werden kann, nämlich als eine von der Welt der Lebenden aus ontologi- scher Sicht grundverschiedene Sphäre der Toten, die, trotz ihrer Dunkelheit und daher kogni- tiver Unzugänglichkeit, im Gedicht kommuniziert werden soll.

Celan bezeichnete seine Gedichte also als dunkel und nicht als hermetisch, weshalb auch meine Arbeit jenen metaphorisch-unscharfen Begriff zur terminologischen Grundlage hat. Im Verlauf meiner Untersuchungen wird sich hierüber aber einiges aufhellen. Im Allgemeinen werde ich der Frage nachgehen, warum und zu welchem Zweck Celans Gedichte diese Dun- kelheit benötigen und wie sich dieses schwer greifbare Phänomen konkret in der poetischen Diktion und in der Thematik der Gedichte niederschlägt. Dass Celans dichterische Dunkelheit eine kommunikative ist, ja letztlich als intensivste Form der Kommunikation angesehen wird, kann als zentrale These meiner Arbeit gelten. Dass weiterhin der Wirklichkeitsbezug der Ge- dichte paradoxerweise der Grund ihrer Dunkelheit ist und nur in einer dunklen Weise kom- muniziert werden kann, wird zu zeigen sein. Bei der Analyse der komplexen Kommunikati- onssituationen, die Celan in seinen Gedichten und in poetologischen Äußerungen entwirft, werde ich vor allem die Relationen zwischen drei beständig variierenden, bisweilen partiell miteinander verschmelzenden und neue Konstellationen bildenden Kommunikationsinstanzen untersuchen, die zunächst heuristisch als ‚Ich‘, ‚Du‘ und ‚die Toten‘ benannt seien.

Zu Beginn erläutere ich allgemeine und grundsätzliche poetologische Bestimmungen vor allem aus dem Meridian, dem frühen Werk Celans sowie aus wichtigen Prosa-Notizen aus dem Nachlass; diese Ergebnisse werden für die weitere Untersuchung bedeutsam sein. Hier- bei wird vor allem die poetologische Metaphorik von Licht und Dunkelheit anhand dichtungs- theoretischer Texte und eines exemplarischen Gedichts erörtert. Im Rahmen des Licht- Dunkel-Komplexes soll besonders darauf eingegangen werden, wie sich die verborgene An- wesenheit der Toten in Celans Welt darstellt und auf welche Weise sie sprachlich vermittelt werden kann. Anschließend wende ich mich dem frühen Gedichtband Mohn und Gedächtnis (1952) zu. Vor allem das Gedicht CORONA wird die für diesen Band so fundamentale Verschränkung von Totengedenken und Liebesbegegnung veranschaulichen. Weist dieser erste Gedichtband11 Celans eine zwar dunkle, jedoch noch stark von lyrischen Traditionen gepräg- te, üppige und metaphernreiche Sprache auf, steht der folgende Band Von Schwelle zu Schwelle (1955) ganz im Zeichen der Sprachskepsis und poetologischen Reflexion. Die Spra- che wird nüchterner, knapper und bezieht sich nun offenkundig auf sich selbst. Hier sollen zwei Gedichte untersucht werden, welche die poetische Sprache anzweifeln und zwei, die eine positive poetologische Aussage machen. Die große Aufmerksamkeit, die gerade diesen

Gedichten zukommt, hat ihren Grund: Der Band Von Schwelle zu Schwelle spielt eine Schlüs- selrolle in Celans poetischer Entwicklung, insofern er einen Kristallisationspunkt zwischen frühem und mittlerem Werk darstellt, an dem sich die angekündigte und poetologisch unbe- dingt notwendige, dunklere und laut einem viel zitierten Wort Celans „‚grauere‘ Spra- che“12 des Bandes Sprachgitter (1959) herauszubilden beginnt. Das letzte Kapitel meiner Stu- die wird sich mit Celans wichtigstem poetologischen Text, der 1960 gehaltenen Rede zur Ver- leihung des Georg-Büchner-Preises, Der Meridian, beschäftigen. Anhand der Rede sowie der nicht veröffentlichten Vorstufen und Notizen aus deren Umfeld werde ich das theoretische Fundament der Celan’schen Poetik mit dem besonderen Fokus auf dem kommunikativen As- pekt der Dichtung rekonstruieren und kommentieren. In die Meridian-Poetik exkursorisch eingebunden ist ein Gedicht aus Sprachgitter, das Celans poetisches Gespräch und die spezifische ‚unpoetische’ und verschwiegene Sprache dieses Gedichtbandes exemplifizieren soll. Ein Resümee wird die Arbeit beschließen. Auf die Betrachtung des Spätwerks muss aus Platzgründen verzichtet werden. Im Ganzen gehe ich chronologisch vor. Dadurch erhoffe ich mir vor allem, Kontinuitäten und Entwicklungslinien innerhalb von Celans Werk anschaulich darstellen zu können. Auch die Wahl der interpretierten Gedichte erklärt sich aus der ange- strebten Kohärenz vor allem hinsichtlich motivischer und thematischer Kontinuitäten.

2. „Hell ist die Nacht“ Die Metaphorik von Dunkelheit und Licht und ihre poetologischen Implikationen

Fast immer wird in uneigentlicher Rede mit Licht Positives, mit Dunkelheit Negati- ves konnotiert. Allein in der Alltagssprache ist dieses Bildfeld überreich vertreten. Während Dunkelheit und Finsternis Unklarheit, Ungewissheit, Unzugänglichkeit, Verworrenheit, Ori- entierungslosigkeit, Unbestimmtheit, Unverständlichkeit etc.13 repräsentieren und untrennbar mit Tod, Gottesferne, Unheil und dem Bösen verknüpft sind, verbinden sich mit Licht Vor- stellungen von Lebendigem, Göttlichem und Wahrheit. Licht und Dunkelheit stellen derart grundlegende Realien des menschlichen Lebens dar, dass ihr metaphorischer Gehalt unmittel- bar einleuchtet. Ohne einer gefährlichen Verallgemeinerung aufzusitzen, lässt sich doch sa- gen, dass auch in Celans Werk das Bedeutungsspektrum der binären Opposition ‚Licht‘ –

‚Dunkelheit / Finsternis‘ durchaus mit den genannten Konnotaten korrespondiert. Zu fragen ist aber, wie sich die referenzielle mit einer auto-referenziellen, i. e. poetologischen, Metapho- rik verbindet bzw. es zu einer Überblendung beider kommt. Außerdem muss der Frage nach- gegangen werden, inwiefern die im Grunde mit negativen Werturteilen verknüpfte ‚Dunkel- heit’ zur positiven Charakterisierung von Celans Poetik fruchtbar gemacht werden kann – mit anderen Worten: inwiefern die Dunkelheit eine notwendige ist.

2.1 Abgrund und Verborgenheit

Das Wort ‚Nacht‘ ist in seiner Grundform das dritthäufigste Substantiv in Celans gesamtem Werk.14 Es verweist wie sein lokales Pendant ‚Abgrund‘ auf den unausgesprochenen Grund von Celans Dichtung, die Katastrophe des Holocaust. Obwohl vor allem in Mohn und Ge- dächtnis und Von Schwelle zu Schwelle von großer Bedeutung, tritt die Nacht im Ganzen hin- ter den räumlichen Evokationen des Abgrunds und des Gangs in eine dunkle Tiefe zurück. Auf das Bedauern des Büchner’schen Lenz, nicht auf dem Kopf gehen zu können, anspielend,

verkündet Celan in der Meridian-Rede: „Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren,

– wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.“15 Der traditionellen Vorstellung des Menschen als aufrecht gehendem Wesen mit dem Himmel als festem Bezugs- und Orientierungspunkt16 und Inbegriff metaphysischer Hoffnungen wird dabei Hohn gespro- chen. Wer „Düsterstes im Gedächtnis“17 hat und nicht ablassen kann von der traumatischen Fixierung auf eine schreckliche Vergangenheit, dem muss diese stets quälend gegenwärtig sein. Der Abgrund, der in Celans Werk als Totenreich, als Meer oder geologisch auszulotende

Tiefe18 verschiedentlich evoziert wird, stellt den produktiven Grund von Celans dichterischem Sprechen dar – „die abgründige Falte, aus der das Gedicht heute […] sprechen muß.“19 Im Meridian heißt es: „[G]eh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“20 Enge und Abgrund werden in der Rede nahezu synonym gesetzt. Beide bezeichnen Celans ganz persönlichen, mit äußerster Angst und Leid besetzten Erinnerungsort, aus dem das Ge- dicht sein Dunkel schöpft und in dem sich der Dichter und das Wort mittels der „Atemwen- de“21 freisetzen können. Diese Möglichkeit, aus der Verborgenheit und der Finsternis etwas Wichtiges und Wahres ans Licht zu bringen, ist in der abendländischen literarischen Tradition eng mit dem Symbol des Abgrunds verknüpft.22 Für Celan ist der Gang in die Tiefen der Er- innerung und die dichterische Artikulation des dort Erfahrenen Ausdruck seiner Pflicht, Zeugnis abzulegen für die vergessenen, unbestatteten Toten der Shoa. Diesen werde durch die großspurige ‚Vergangenheitsbewältigung’ in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs genüge getan. Der überlebende Jude Paul Celan, der das „[d]as Gedicht […] eine endlose Vi- gilie“23 nennt, sah sich umso mehr verwiesen auf sein einsames Los, dessen bittere Exklusivi- tät und Notwendigkeit er mit einem Wort Kafkas ausspricht: „Einer muß dasein […] einer muß wachen.“24

Wie bereits angesprochen, ist in Celans Werk der omnipräsente und nicht minder versteckte Bezug zum Holocaust allermeist als ein Bezug zu den Toten zu denken. Für den Dichter kön- nen die Toten, da sie nur geisterhaft in der Verborgenheit existieren, nur andeutungsweise und mittels einer Sprachbewegung vergegenwärtigt werden, die den mühevollen Gang in die Ver- borgenheit selbst vollzieht. In den Notizen zum Meridian heißt es mit thematisch enger An- lehnung an ‚Dunkelheit’ und ‚Abgrund’:

Das Gegenwort zu ‚scheinbar’ ist nicht, wie man zunächst denken möchte, ‚real’ oder ‚sinnfällig’; es ist im ‚Unscheinbaren’, nicht Erscheinenden, nicht zu Tage Tretenden zu suchen; es ist das Verborgene, das erst erwacht, wenn es unser Auge offen und unterwegs und dadurch auch nahe weiß.25

Das Unscheinbare als das Verborgene und nicht Hervortretende wird positiv in Opposition gebracht zum Scheinbaren, das eine Täuschung und etwas Irreales, Unwahres impliziert. Gerade dem Unscheinbaren und nicht sofort Sichtbaren wird eine höhere Existenzform zuge- schrieben als dem offen zutage Tretenden. Dieses Unscheinbare ist zwar im Verborgenen vorhanden, er-scheint aber nicht, sondern wartet auf sein Erwachen, wozu es ein Auge bedarf, das offen, unterwegs und nahe ist. In dieser peripheren Nachlass-Notiz findet sich Celans dia- logische Poetik in aller Kürze zusammengefasst: Das Verborgene – die Toten – kann nur kommuniziert werden, wenn das Auge eines aufmerksamen26 Gegenübers (Rezipient, Ge- sprächspartner) sich ihm buchstäblich öffnet. Es mag kühn erscheinen, das erwachende Verborgene mit den im Gedicht zu kommunizierenden Toten schlichtweg zu identifizieren, doch der weitere Verlauf dieser Arbeit und besonders die Ausführungen zum Meridian werden diese These hinlänglich zu beweisen suchen. Besonders bei der Meridian-Rede wird dem aufmerksamen Leser deutlich, dass Celan durchgehend von den Toten spricht, sie aber mit keinem Wort explizit erwähnt. Setzt man die Rede, ihre Vorstufen und Notizen in Relation zur Dichtung Celans, so kann sich dem gewissenhaften Leser ein äußerst subtiles Referenz- system offenbaren, dessen spärliche Koordinaten das abgründig Verschwiegene Celans um- kreisen. Solche Koordinaten wären etwa bestimmte Wörter und Wendungen wie das die Vergegenwärtigung der Toten meinende ‚Erwachen’ im oben Zitierten.27

Doch zunächst möchte ich der grundlegenderen und allgemeineren Frage nachgehen, in wel- chem Verhältnis die im Verborgenen anwesenden Toten zur Metaphorik von Licht und Dun- kelheit stehen und wie das solcherart Verborgene kommuniziert werden kann.

2.2 Die Anwesenheit der Toten

Für Celan, der äußerst ungehalten wurde, wenn man ihm eine absolute, hermetische Poesie unterstellte, war die biographische Verwurzelung seiner Dichtung Grund und Rechtfertigung seines Schreibens. Poetologische Aussagen über die „allereigenste Enge“28 und den „allerei- gensten Schmerz“29 sind aus diesem Kontext heraus zu verstehen. Doch trotzdem Celan den biographischen Ausgangspunkt seiner Gedichte so nachdrücklich betonte, war er „kein

Freund der Vergesellschaftung des Innenlebens“30 – wie man auch in Celans befremdlichen Dichtungen schwerlich eine verschlüsselte Offenbarung der Autor-Psyche vorfindet. Zum einen gründet sich die Welthaltigkeit der Gedichte nicht primär auf seine eigene Person, son- dern ist vornehmlich „[v]om Tode her bestimmt […] als Bereich der eigentlichsten Zuwen- dung des im Gedicht Sprechenden“31 ; zum andern bezieht sich das Gedicht zwar auf das his- torische Datum des Holocaust, kann aber von diesem Geschehen und den im „Totenland“32 weiterhin anwesenden Ermordeten nicht in direkter, sondern nur in verschwiegenalludierender und mitunter paradoxer Weise sprechen. Es leuchtet auch ein, dass Celans schmerzhafter Gang in eine tote Vergangenheit, deren Artikulation eine äußerste Sensibilität der Sprache erheischt und im Gedicht einem unabdingbaren Gegenüber33 erfahrbar gemacht werden soll, diesem Gegenüber, i. e. einem aufmerksamen Leser, nicht mittels mundgerechter Portionen konsumierbar gemacht werden kann und darf. Dies würde freilich die Authentizität von Celans Erfahrung korrumpieren, schließlich ist dessen Konzeption von Dichtung als an- spruchsvollem Gespräch34 das krasse Gegenteil von konsumierbarer Literatur und so genann- ter leichter Kost.

Die Crux bei Celan ist nun Folgendes: Wie können die Toten, die in Celans Welt dauerhaft präsent sind, auch für andere erfahrbar werden? Wie kann etwas prinzipiell Nichtseiendes und nicht mehr Seiendes und dennoch für den Dichter immer Gegenwärtiges aus der dunkelsten Verborgenheit ans Licht gebracht und in Sprache aufgehoben werden? In einem kaum beach- teten Prosatext aus dem Nachlass spricht Celan mit ungewohnter Deutlichkeit von der ge- spenstisch-bedrohlichen Existenz der Toten. Dort heißt es:

Die Toten: hast du denn kein Gedächtnis, in dem du sie aufbewahrst, in dem sie dir gegenwärtig bleiben, redend und schweigend, zu dir stehend und wider dich, Treue übend und Verrat, umworben und gemie- den, nah und fern und überall auf den Wegen und Stegen zwischen Fern und Nah? Die Toten: hast du denn keine Träume, die dich heimsuchen, bei Nacht und bei Tag, Träume, die dir eine Arche zimmern, in der du die Flut überstehst, die heraufbrandet aus den Abgründen des Geschehens, röter und röter, durch- schwommen von Leibern und Schatten von Leibern, durchschwommen von Rumpf und Kopf und Ge- schlecht, von Schatten von Rumpf, Kopf und Geschlecht, von Verwandt und Unverwandt, von Mensch, Halbmensch und Unmensch, von Gehenkt, Geköpft und Geschändet, durchwandert von den Schemen von

Vergast, Verascht und In-den-Wind-gestreut, Träume, die dir diese Arche zimmern, und du hockst nun darin, ein Überstehender, geborgen, ein Aug nach außen, ein Aug nach innen gekehrt, und das nach außen gekehrte versagt dir den Dienst, es fällt zu, und dem andern verdeutlicht sich nun das Geschaute, Blicke werden getauscht, du bist nicht mehr allein, mit dir geborgen sind die Entschwundenen, die Toten, d e i - n e Toten?35

Durch die rhetorischen Fragen vergewissert sich der kaum verhüllt als empirische Person Paul Celan erkennbare Erzähler, dass seine „Weggenossen [keinesfalls] verschwunden waren“36, sondern in der Erinnerung weiter existieren und mit ihm, dem Überlebenden, gleichsam sozial interagieren. Die Toten sind daher bedrückend nah, aufgrund ihres Totseins aber ebenso fern. Auch scheint der Lebende der bedrohlichen Anwesenheit der Toten nicht entkommen zu kön- nen; das Verb ‚heimsuchen’, das den „Träumen“ zugeordnet ist, lässt in seiner neutralen Se- mantik an den Besuch der Toten bei dem Lebenden denken, in seiner mitschwingenden negativen Tönung impliziert es zugleich ein unausweichliches Schicksal. Diese Träume zimmern aber auch die Arche, welche eine große Flut zu überstehen hilft: Diese wird dargestellt als gewaltiger Blutstrom, in dem die Leichen und Leichenteile der auf bestialische Weise getöte- ten Juden schwimmen. Es heißt, dass die Flut „heraufbrandet aus den Abgründen des Gesche- hens“. Diese Formulierung ist insofern zu beachten, als das konkrete ‚Geschehen’ – ein hilflo- ser Begriff der Nachkriegszeit für die Judenvernichtung – nicht veranschaulicht wird, sondern gerade das verborgen in dessen Abgründen Liegende mit unwiderstehlicher Gewalt in das Gedächtnis des Überlebenden eindringt. Nun hat die Arche hier zweierlei Funktion: Einerseits dient sie dem Überlebenden, der „Überstehender“ genannt wird, als Zuflucht vor dem An- drang der Flut, andererseits sollen in ihr ja gerade die amorph und zersprengt in der Flut treibenden Toten geborgen37 werden, wie es im letzten Satz der zitierten Passage heißt. Indem

Celan die alttestamentliche Erzählung über die Sintflut aufruft, macht er sich zum Fürsprecher des gesamten jüdischen Volkes. Dieser Totalitätsanspruch wird vor allem daran deutlich, dass er alle Toten, ob „Verwandt“ oder „Unverwandt“, ob „zu dir stehend“ oder „wider dich“, ob

„Treue übend“ oder „Verrat“, auf der Gedächtnis-Arche geborgen wissen will. Celan erwähnt bei der Beschreibung des sintflutartigen Blutstroms die Mordpraktiken der Nazis mit einer Explizitheit, die im zu Lebzeiten veröffentlichten Werk nirgends zu finden ist. Die Beschwö- rung der geisterhaften „Schemen von Vergast, Verascht und In-den-Wind-gestreut“38 und die Aufzählung nicht nur der Leichen und Teile der Leichen, sondern auch deren „Schatten“, die- nen ihm der Vergewisserung, dass beim Bergen der „Entschwundenen“ niemand verloren geht, nicht einmal die, deren unauffindbares „Grab in den Lüften“39 ist. Am Ende verharrt der

‚Überstehende’ in ausschließlicher Introspektion: „[D]as nach außen gekehrte [Auge] versagt dir den Dienst, es fällt zu, und dem andern [dem nach innen gekehrten Auge] verdeutlicht sich nun das Geschaute“. Nun sind die Toten geborgen, der Überlebende kommuniziert mit ihnen („Blicke werden getauscht“) und ist „nicht mehr allein“ – der Erinnerungsauftrag scheint vor- erst geglückt, der Überlebende verkündet im nächsten Satz selbstbewusst: „Du hast dieses

Gedächtnis, das dir die Toten aufbewahrt, du hast den archezimmernden Traum.“40 Wohl in der Ahnung, etwas vergessen zu haben, fragt er sich aber unmittelbar darauf: „Und die Le- benden?“41

Celans Poetik ist ohne diesen Adressatenbezug nicht vorstellbar. Das Totengedenken wäre verfehlt, implizierte es nicht die Möglichkeit, ein „ansprechbares Du“42 zu erreichen. Die ge- glückte Kommunikation bleibt aber ein fernes Ziel. Das Gedicht ist wie die Arche, welche die Toten birgt, „unterwegs“ auf eine „ansprechbare Wirklichkeit“43: „Das Gedicht kann […] eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht.“44 Die Nachricht einer Flaschenpost wird zumeist in größter Not und Einsamkeit aufgegeben, und gewiss ist der Abgrund der Erinnerung, in dem die schemenhaften Toten wohnen, ein solch einsamer, existentiell bedrohlicher Ort, der schwerlich eine intersubjektive Basis findet. Aber gerade um die Bewegung auf ein Intersubjektives hin geht es Celan. Bernhard Böschenstein weist im Zusammenhang der angstbesetzten Einsamkeit zurecht darauf hin, dass „das Ich des Dichters zunächst mit seiner Erinnerung allein ist, weil es die Individuation eines Sterblichen in dieser schwierigsten und wesentlichsten Situation bestehen muß, ehe an der Vermittlung dieser einmaligen Wortfindung auch andere beteiligt werden können“45. Zuvor meint er aber, dass die konstitutive Dunkelheit von Celans Dichtung „nicht vor ein menschliches Forum getragen werden muß.“46 Bei der Metapher der Dunkelheit muss man indes aufpassen, dass sie nicht der semantischen Beliebigkeit anheim fällt. Fasst man Dunkelheit als absolute Ab- wesenheit von Licht auf, so fällt es natürlich schwer zu begreifen, wie sie überhaupt vor ein menschliches Forum getragen werden soll, entzieht sie sich doch der differenzierten Wahr- nehmbarkeit. Es mutet banal an, ist aber für die semantische Opposition von Dunkelheit und

Licht bei Celan elementar: Das menschliche Auge kann nur etwas wahrnehmen, wenn Licht vorhanden ist, und es ist kein Zufall, dass das Wort ‚Aug(e)’ das häufigste Substantiv im gan- zen Werk ist.47 Bei Celan steht die Lichtmetapher für die Vermittlungsinstanz des Sprechens. Was auch immer im Abgrund, in der Sphäre des Todes, geschaut wird, es geht mit all seiner Verschwiegenheit und Dunkelheit zwar in das Gedicht ein, aufgrund der Tatsache aber, dass das „Gedicht spricht“48, wahrgenommen und verstanden werden will, kann seine Dunkelheit keine absolute sein. Um mit Hans Blumenberg zu sprechen: „Pure Finsternis wäre das Ende auch der ‚dunklen’ Poesie als Poesie.“49 Für den gelungenen Verstehensakt bzw. sein Aus- bleiben hat schließlich auch die Alltagssprache alteingesessene und fast schon verblasste Me- taphern parat, wenn sie einerseits das orientierungslose Unverständnis als ‚im Dunkeln tap- pen’, andererseits das produktive Verstehen als ‚einleuchten’ oder ‚ein Licht aufgehen’ be- zeichnet. So beschließt der Celan der Niemandsrose sein Gedicht KERMORVAN mit den Worten: „Ein Spruch spricht […] ich kann / ihn lesen, ich kann, es wird heller, / fort aus Kan- nitverstan.“50

2.3 Das Dunkel und seine Übersetzung

Die Tatsache, dass das Abgründige und Dunkle für den Überlebenden derart bedrückend ge- genwärtig ist, wird in Celans Frühwerk durch paradoxe metaphorische Fügungen ausgedrückt: Das Dunkel ist so übermächtig, dass es als Helligkeit wahrgenommen wird. Ein Text aus der

1949 veröffentlichten Aphorismensammlung GEGENLICHT lautet: „Täusche dich nicht: nicht diese letzte Lampe spendet mehr Licht – das Dunkel rings hat sich in sich selber vertieft.“51 Hier wird ein Raum vorgestellt, der nicht von einer Lampe erhellt wird, sondern vom Dunkel, welches von jener gerade nicht ausgeleuchtet wird. Somit soll nicht das Helle, das offen vor Augen liegt, sondern das Verborgene und eigentlich nicht Sichtbare die Aufmerksamkeit des Betrachters erregen.

Dem Titel der Aphorismensammlung kommt besondere Bedeutung zu. GEGENLICHT52 deutet zum einen voraus auf den gleichnamigen Zyklus des 1952 erschienenen Gedichtbandes Mohn und Gedächtnis, zum andern auf den frühesten poetologischen Text EDGAR JENÉ UND DER TRAUM VOM TRAUME aus dem Jahr 1948, der, obgleich dem Werk des surrealistischen Malers gewidmet, im Grunde Celans eigene frühe Poetik entfaltet und bereits eine Überwin- dung des Surrealismus andeutet.53 In dem Text ist vom „Gegenlicht des fremden Todes“54 die Rede. Die Fremdheit des Todes kann zweierlei meinen: Erstens ist der Tod natürlich insofern fremd, als er von den Lebenden niemals erfahren werden kann. Zweitens bezeichnet der ‚fremde Tod’ nicht den Tod schlechthin, sondern eben den Tod, der nicht der eigene ist. Für diese Lesart spricht in Celans Werk auch die auffällige Dominanz des semantischen Feldes

‚fremd’ im Zusammenhang mit den Toten.55 Im Jené-Text beginnt der Erzähler seine Ausführungen mit den Worten: „Ich soll ein paar Worte sagen, die ich in der Tiefsee gehört habe, wo so viel geschwiegen wird und so viel geschieht.“56 Ein fiktiver Freund, der für eine ahistori- sche Kunstauffassung plädiert, die mittels der Vernunft „den Worten […] ihr[en] eigentliche[n] […] Sinn“ zurückgeben soll, „indem man sie mit dem Königswasser des Verstandes“57 rein wäscht, hält ihm vor, „die Tiefe nie [zu] verlassen und immerzu Zwiesprache [zu] halten mit den finstern Quellen“58. Doch der Erzähler glaubt nicht an eine Rückkehr zu „jene[r] Ur- sprünglichkeit, die am Anfang war“ und die es möglich machte, in einem Baum wieder einen Baum zu sehen und in seinem „Zweig, an den man in hundert Kriegen die Empörer geknüpft, ein[en] Blütenzweig, wenn es Frühling würde.“59 Was geschah, mache diese ursprüngliche Sprache zu einem frommen, törichten Wunsch, der verkennt, dass „Geschehenes mehr war […] als ein mehr oder minder schwer entfernbares Attribut des Eigentlichen, sondern ein die- ses Eigentliche in seinem Wesen Veränderndes“, das nicht nur die „Asche ausgebrannter Sinngebung“60, sondern auch eine schrecklich eigentliche Asche hinterließ.

Für den Dichter also ist die Zwiesprache mit den „finstern Quellen“ unabdingbar. Er besitzt die Gabe, das Schweigen in der Tiefsee zu hören und das schlechthin Unerkennbare, die Dun- kelheit des fremden Todes, als blendendes Gegenlicht wahrzunehmen, welches wie eine tief stehende Sonne alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und die Konturen der übrigen Wirklich- keit auflöst. Wie die Mystiker ihre transzendenten Erfahrungen nur mittels Paradoxa auszudrücken vermögen, so ist auch Celans helle Dunkelheit nur eine behelfsmäßige Metapher an- gesichts eines „ganz Anderen“61. Die „Wanderung durch die Tiefsee“62 erfordert folglich eine ganz andere Wahrnehmung „jenseits der Vorstellungen meines wachen Denkens“63.

Licht steht für das Leben, Dunkelheit für den Tod. Sicher gilt diese konventionelle Symbolik auch für Celan. Wie wir gesehen haben, kommt es aber zu einer Vermischung der Sphären, weshalb der Dichter sich genötigt sieht, in Paradoxa zu sprechen: Das Leben ist vom Tod überschattet, allerdings reicht es seinerseits auch in dessen Sphäre hinein, so dass der Tod als lebendig-gegenwärtig erfahren wird. Ein Brief Celans an Diet-Kloos Barendregt aus dem Sep- tember 1949 verdeutlicht an einer Stelle die schwierige Situation eines Menschen, der das

Die dichterische Produktivität wird von Celan häufig mit der Lichtmetapher belegt. So heißt es im Jené-Text:

„Aus den entferntesten Bezirken des Geistes mögen Worte und Gestalten kommen […] und wenn sie einan- der begegnen […] und der Funken des Wunderbaren geboren wird, […] blicke ich der neuen Helligkeit ins Auge. […] ihr Licht ist nicht das Licht des Tages, und sie ist von Gestalten bewohnt, die ich nicht w i e - d e r e r k e n n e , sondern e r k e n n e in einer erstmaligen Schau.“ (ebd., S. 158) – Diese besondere Qualität des Lichts lässt an das zwei Seiten darauf erwähnte „Gegenlicht des fremden Todes denken“, und die Hellig- keit, die von erstmals geschauten Gestalten bewohnt ist, dementsprechend an eine Erweckung der Toten. Doch das sei hier nur vorsichtig angemerkt, da die Belege zu einer Verifizierung dieser These m. E. noch nicht ausreichen.

endgültig Verlorene betrauert, jedoch die Berechtigung dieser Trauer in Frage stellt, da er zugleich an die leuchtende Gegenwart des Verlorenen glaubt:

Immer weniger gleiche ich dem verspielten Knaben, der ich so gern war, und – verzeih – ich verschmer- ze das Unwiederbringliche schwerer als es einem erlaubt sein mag, der zu wissen glaubt, wie ein Auge im Dunkel strahlt.64

Man muss beachten, dass die Wahrnehmung des Todes als lebendiges Licht zwar für Celan als Überlebender der Shoa gilt, nicht aber für den ‚unbeteiligten’ Rezipienten. Dem Dichter,

„der zu wissen glaubt, wie ein Auge im Dunkel strahlt“, kommt ob dieses Wissens eine be- sondere Dignität zu, wodurch er zu einer Art Vermittler zwischen dem verborgen im Dunklen Liegenden und den Menschen, zwischen den Toten und den Lebenden, wird. Das Dunkle als Totes bedarf des Lichts als Lebendiges, um kommuniziert zu werden. Das Medium ist das lebendige Wort der von Celan im Meridian gegen die tote Kunst ausgespielten Dichtung. Das

Tote ist als „Weltfracht“65 jedoch selbst wesentlicher Bestandteil des Gedichts.

Celan empfand nicht nur die Zuwendung zu den „finstern Quellen“ als seine höchste Pflicht, sondern er hatte auch die Notwendigkeit der Rückkehr zu den Lebenden erkannt, um das un- ten Erfahrene zutage zu fördern. Nicht zuletzt die Berufung auf den „archezimmernden Traum“ im oben Zitierten und die anschließende Skepsis gegenüber der Erreichbarkeit der Lebenden deuten darauf hin, dass Celan seinen Erinnerungsauftrag als misslungen ansehen würde, schaffte er nicht den Weg zurück aus dem Abgrund ans Licht. Hierzu findet sich eine aufschlussreiche Prosa-Notiz aus dem Nachlass, in der ein Du „im Dunkel hock[s]t, in der

Finsternis, die du selbst gesponnen hast, die dein eigen Werk ist, dein ureigen Werk, der Stolz deiner Seele“66. Ein Bote, der in die dunkle Stube tritt, bringt ein Blatt mit einer offensichtlich

wichtigen Botschaft: „[D]as Blatt […] scheint auf, ein helles Flämmchen, es will leuchten, erleuchten, dich aufspüren im Dunkel […], das kleine Flämmchen, Licht spenden will es“67. Ohne den Text ausführlich zu interpretieren, wird doch klar, dass Celan hier eine ablehnende Haltung einnimmt gegenüber dem im Dunkeln Sitzenden, der eifersüchtig mit seinen „müh- sam gesponnene[n] Fäden“68 – der Faden ist ein ganz prominentes poetologisches Motiv in

Celans Werk – allein sein möchte. Schließlich zerknüllt er das Blatt und jagt den Boten fort.69

Celans Lyrik lässt sich schwerlich verstehen, versteifte man sich auf den dunklen Bezug zum Tod und blendete man den genuin kommunikativ-dialogischen Charakter seiner Gedichte aus, wie es in der älteren Forschung nicht selten geschah. In den Paralipomena der Ästhetischen Theorie charakterisiert Adorno die Lyrik Paul Celans wie folgt:

Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Subli- mierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. Ihr Wahrheitsgehalt selbst wird ein Negatives. Sie ahmen eine Sprache unterhalb der hilflosen der Menschen, ja aller organischen nach, die des Toten von Stein und Stern. […] Die Sprache des Leblosen wird zum letzten Trost über den jeglichen Sinnes verlustigen Tod.70

Abgesehen davon, dass der Stern bei Celan emphatisch für Lebendiges steht, greift Adorno hier insofern zu kurz, als er verkennt, dass die Negativität nur eine Etappe im dichterischen Prozess darstellt, der einen dialektischen Umschlag im freiwerdenden Wort anstrebt, dem all das Schweigen über das „äußerste Entsetzen“ eingeschrieben ist und welches sich auf den Weg zu einem „ansprechbare[n] Du“71 macht.

Zum Abschluss dieses Kapitels sei diese Dialektik von Licht und Dunkelheit bzw. von Le- ben und Tod und der Bezug zu einem Gegenüber beispielhaft an einem Ende 1954 entstande- nen Gedicht72 aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle gezeigt:

VON DUNKEL ZU DUNKEL

Du schlugst die Augen auf – ich seh mein Dunkel leben. Ich seh ihm auf den Grund:

auch da ists mein und lebt.

Setzt solches über? Und erwacht dabei? Wes Licht folgt auf dem Fuß mir,

daß sich ein Ferge fand?73

In 2.1 haben wir gesehen, dass das Erwachen des Verborgenen durch das Vorhandensein ei- nes offenen Auges bedingt ist. Das sprechende Subjekt erblickt sein eigenes Dunkel in den offenen Augen eines Du. Hier begegnet man wieder dem Paradoxon, dass das Dunkle als das visuell eigentlich nicht Wahrnehmbare vom Ich tatsächlich leben gesehen wird. Es ist auffal- lend, dass das Ich in dieser Tête-à-tête-Situation nichts über das Wesen seines Gegenübers aussagt. Auch das Blicken auf den Grund im zweiten Vers erscheint nicht als tiefes Schauen in die Seele etwa einer Geliebten, sondern dient dem Ich als Vergewisserung, dass das Dunkel nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in der Tiefe sein eigenes Dunkel ist und lebt (V. 3). Obwohl in dem Gedicht das Du nur als Projektionsfläche des Ich dient und im Anonymen bleibt, erscheint es doch als Bedingung der Möglichkeit, dass das Dunkel wahrgenommen werden kann. Wie ich bereits erläutert habe, ist Celans ganz persönliches Dunkel – sein Ab- grund, ‚seine’ Toten74 – für ihn in einer hellen Finsternis immer präsent, wirklich erwachen wird das Verborgene allerdings erst, wenn es von einem offenen Auge ans Licht gebracht wird. Der erste Vers der zweiten Strophe fragt: „Setzt solches [das Dunkel] über? Und er- wacht dabei?“ – Das Ich sieht sein Dunkel zwar leben, stellt aber dessen Erwachen in Frage. Das Leben des Dunkels im ersten Vers des Gedichts ist bloß subjektiv, an die Wahrnehmung des Ich gebunden und als Infinitiv grammatisch abhängig vom Verb des Satzes („seh […] leben“), wohingegen das Erwachen im vierten Vers sich in der finiten Verbform ausdrückt („erwacht“) und eher die Qualität eines objektiven oder vielmehr intersubjektiv erfahrbaren Faktums annimmt. Celan siedelt nun die subjektive Wahrnehmung des Ich im Innenraum ei- nes Du an, um die Möglichkeit einer intersubjektiven Wahrnehmung zu betonen. Für diese Möglichkeit steht das ambivalente ‚Übersetzen’, das als Partikelverb (übersetzen) wie auch als Partikelpräfixverb (übersetzen) von poetologischer Bedeutung ist. Im Mai 1954 schrieb Celan mit Bezug auf seine Picasso-Übertragung an den Verleger Peter Schifferli:

[D]er Picasso-Text will nämlich nicht nur übersetzt, sondern auch […] ü b e r g e s e t z t sein. Sie sehen: es handelt sich für mich – mitunter – um eine Art Fergendienst. Darf ich also hoffen, dass bei der Hono- rierung meiner Arbeit nicht nur die Zeilen, sondern auch die Ruderschläge gezählt werden?75

Das Gedicht handelt freilich nicht vom Übersetzen in eine andere Sprache, sondern vom ver- suchten Übersetzen des Dunkels. Dieses Übersetzen, das durch das Medium Licht (V. 5) er- folgen soll, findet seinen Ausdruck im Bild des Übersetzens („Setzt solches über?“), welches seinerseits von einem Fährmann bzw. Fergen (V. 6) geleistet wird. Ein Fährmann setzt Men- schen oder Dinge über ein Gewässer und ist somit ein Vermittler zwischen zwei getrennten Bereichen. Als archetypisch für den Topos des Fergen gilt der Fährmann Charon aus der grie- chischen Mythologie, der die Verstorbenen über den Acheron in den Hades setzt. Die implizi- te Thematik von Leben und Tod im Gedicht VON DUNKEL ZU DUNKEL legt diese Assozia- tion nahe, allerdings mit umgekehrter Übersetzungsrichtung: Das den Tod konnotierende Dunkel, welches für das Ich lebendig ist, soll mittels des Fergen und des Lichts an eben dieses gebracht werden und erwachen. Doch wie steht es um das Gelingen dieser Übersetzung, die in der zweiten Strophe des Gedichts erfragt wird? Die beiden Fragen im vierten Vers haben als Präsupposition lediglich das Vorhandensein des Dunkels und machen dazu keine implizite Aussage. Der Fragesatz der beiden letzten Zeilen jedoch lässt insofern an ein Gelingen der Übersetzung denken, als das Finden eines Fergen im Relativsatz vorausgesetzt ist. Im Haupt- satz (V. 5) ist die Existenz von Licht vorausgesetzt, es stellt sich bloß die Frage: Wessen Licht? Nun bedeutet aber die Tatsache, dass es einen Fergen gibt, nicht zwingend, dass auch die Übersetzung mit diesem glückt, insofern ist die Frage „Setzt solches über?“ (V. 4) durch- aus nicht redundant. Zu beachten ist, dass das Gedicht im Präteritum beginnt („schlugst“) und endet („fand“), der Rest steht im Präsens. Steht also das Finden des Fergen in besonderem Bezug zum Aufschlagen der Augen? Der Vermutung, dass die „Ruderschläge“ des Fähr- manns in obigem Zitat möglicherweise mit dem Augenaufschlagen korrespondieren, mag weit hergeholt klingen, hätte nicht Celan in einem seiner bekanntesten Gedichte, dem 1957 geschriebenen SPRACHGITTER, den Augenaufschlag explizit mit einer Ruderbewegung ver- knüpft: „Augenrund zwischen den Stäben. // Flimmertier Lid / rudert nach oben, / gibt einen

Blick frei.“76 Schließlich weist sich das Öffnen der Augen als Bewegung von unten (V. 2:

„Grund“) nach oben aus, wodurch sich das bei Celan zumeist unten lokalisierte Dunkel durch den Fergen verlebendigt (V. 1). Der für Celan so wichtige Dreischritt ‚Abwärtsbewegung – Innehalten im und Erkundung des Abgrunds bzw. Kommunikation mit den Toten – Aufwärts- bewegung’ wird in dessen Werk bisweilen als orphischer Gang in die Unterwelt und anschlie- ßendem Wiederaufstieg dargestellt.77 Aufgrund der verborgenen Korrespondenz zwischen

dem mittleren Vers der ersten und dem mittleren Vers der zweiten Strophe könnte man auch bei diesem Gedicht an das Motiv der Katabasis bzw. Anabasis denken. Der idiomatische Aus- druck ‚auf den Fuß folgen’, der soviel bedeutet wie ‚unmittelbar folgen’, lässt in einem so kurzen Gedicht aufmerken. Aufgrund der strukturellen Parallelität der Zeilen „Wes Licht folgt auf dem Fuß mir“ und „Ich seh ihm auf den Grund“ kommt dem phraseologisierten Lexem

‚Fuß’ ein semantischer Mehrwert zu: Im zweiten Vers nämlich könnte die geläufigere Wen- dung ‚Ich geh ihm auf den Grund’ mitschwingen, auf die der fünfte Vers mit dem „Fuß“ ant- wortet. Der zweite Vers impliziert so einen Abstieg, der fünfte dagegen einen Aufstieg („Licht“).

Resümierend lässt sich sagen, dass die Übersetzung des Dunkels folgendes bedeuten kann: Zum einen deutet es auf die Verlebendigung der Toten, die nur ‚erwachen’, wenn sie einem angeredeten Du kommuniziert werden. Es liegt auf der Hand, dass diese Kommunikation nur gelingen kann, wenn das Dunkel vom Grund der Augen des Du nach oben und außen geholt wird, damit es vom Du überhaupt wahrgenommen werden kann. Außerdem kann die ‚Über- setzung’ auch auf den Akt der poetischen Produktion bezogen werden wie Celans Anmerkun- gen zu seiner Picasso-Übersetzung nahe legen. In diesem Sinne kann das Übersetzen mittels des Lichts auch eine Wortwerdung des Dunkels meinen. Dass diese Wortwerdung selbst als überraschend empfunden wird und ganz plötzlich geschieht, ist am staunenden, fragenden Gestus der beiden letzten Zeilen abzulesen. Das Staunen und die gleichzeitige Unsicherheit über den Ursprung des Lichts findet man in ähnlicher Form auch in dem Gedicht LEUCHTEN aus dem selben Binnenzyklus wie VON DUNKEL ZU DUNKEL: „Brach sich ein Strahl / herüber zu mir? / Oder war es der Stab, / den man brach über uns, / der so leuchtet?“78

Celan hatte den Gedichtband Von Schwelle zu Schwelle seiner Frau Gisèle gewidmet, und viele der Gedichte, die ein Du ansprechen, können im Sinne einer Liebesbegegnung gelesen werden. Zahlreiche Gedichte aus dem vorangehenden Band Mohn und Gedächtnis lassen gleichfalls eine solche biographische Komponente erkennen und sind in noch höherem Maße als Liebesgedichte zu lesen. Allerdings ist ihnen zugleich auf subtile Weise die Erinnerung an die Toten eingeschrieben. Doch wie wird die Simultaneität dieser scheinbar so schwer verein- baren Bezüge in den Gedichten konkret gestaltet?

3. „Wir sagen uns Dunkles“ – Sprache der Liebe, Sprache des Lebens, Sprache des Todes

Ende November des Jahres 1947 floh Paul Celan über die rumänisch-ungarische Grenze nach Wien. Nach den Verheerungen des Völkermords in seiner Heimatstadt Czerno- witz in der Bukowina, „dieser nun der Geschichtslosigkeit anheimgefallenen ehemaligen Pro- vinz der Habsburgermonarchie“, hieß „das Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende […] Wien“79. Obwohl Celan Wien schon Ende Juni 1948 wieder verließ und erst am 16. Mai Ingeborg Bachmann kennen lernte80, blieb die in den 1950er Jahren zeitweise wiederbelebte

Liebesbeziehung und Freundschaft mit der Dichterin prägend. Wie problematisch diese Lie- besbeziehung war, das zeigt der vor kurzem edierte Briefwechsel. Es ist vielfach darauf hin- gewiesen worden, dass das Prekäre und Schwierige der von Missverständnissen, Ängsten und wechselseitigen Beschuldigungen gezeichneten Beziehung durch den unvereinbaren kulturel- len und lebensgeschichtlichen Hintergrund Celans und Bachmanns bedingt ist. Den überle- benden Ostjuden, der seine Heimat verlor, und die Österreicherin, deren Vater Mitglied der NSDAP war, verband und trennte eine durch ihre Liebe und ihr gemeinsames Dichtertum

kaum zu überbrückende „Fremdheit, die leicht zur Entfremdung werden konnte.“81 Das Problematische, wenn nicht „Exemplarische“82 der Beziehung zwischen zwei Autoren von so un- terschiedlicher Herkunft deutet bereits der erste Brief Celans an Bachmann an.83 In diesem, nur wenige Tage nach der ersten Begegnung beider geschrieben, widmet er ihr ein später in Mohn und Gedächtnis aufgenommenes Gedicht aus dem Zyklus GEGENLICHT, dessen Thematik und Kommunikationsstruktur für den gesamten Band repräsentativ ist.

3.1 IN ÄGYPTEN

IN ÄGYPTEN

Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser.

Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen.

Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noëmi! Mirjam! Du sollst sie schmücken, wenn du bei der Fremden liegst. Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden. Du sollst zu Ruth und Mirjam und Noëmi sagen:

Seht, ich schlaf bei ihr!

Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken.

Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noëmi.

Du sollst zur Fremden sagen: Sieh, ich schlief bei diesen!84

Der Titel des Gedichts benennt das Exil der Israeliten im Alten Testament. Die Form des Ge- dichts mit seiner neunmaligen „Du sollst“-Aufforderung verweist auf den Dekalog, den Gott den Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten in der Wüste durch Moses mitteilte.85 Wie es bei Celan häufig der Fall ist, kann die Du-Anrede als Selbstansprache des impliziten Ich gelesen werden, die so normative Geltung gewinnt. Das sprechende Subjekt, das nicht zuletzt auf- grund des biblischen Kontexts als Jude zu identifizieren ist, unterhält im Exil eine erotische Liebesbeziehung zu einer Fremden (V. 2), einer Ägypterin. Doch zugleich sieht er sich an- gehalten, einer vergangenen, ebenfalls erotisch grundierten Beziehung (V. 11: „Sieh, ich schlief bei diesen!“) zu gedenken, die in der Erinnerung mit drei hebräischen Frauennamen

verknüpft ist. Der Bezug zu Celans Lebenssituation 1948 in Wien drängt sich natürlich auf: Der heimatlose Jude, der in der Fremde eine Nicht-Jüdin liebt, stellt die Berechtigung dieser Liebe wegen des in der Vergangenheit Geschehenen in Frage. Natürlich darf man die „Frem- de“ nicht einfach mit Bachmann gleichsetzen, da das Gedicht schon aufgrund der normativen Sprechweise den Anspruch erhebt, auf etwas Allgemeines zu verweisen. Doch verfehlte man andererseits auch den Sinn, blendete man die biographische Referenz aus. Nicht nur hat Celan Bachmann das Gedicht gewidmet, auch schrieb er Jahre später in einem Brief an Bachmann:

„Denk an ‚In Ägypten’. Sooft ichs lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten“86 Obwohl gerade in Mohn und Gedächtnis viele Gedichte eine Liebesbegegnung thematisieren87, ist es doch

niemals nur Liebeslyrik. Ein ausschließliches Liebesgedicht ist für Celan geradezu undenkbar, dafür war er trotz aller Vorbehalte gegen Adorno doch zu sehr dessen Meinung, wenn es um die Legitimation von Lyrik nach Auschwitz ging. Nach allem, was geschah, muss Celan die einseitige lyrische Anrufung einer Geliebten, noch dazu einer ‚Fremden’, als ungebührend und nahezu moralisch verwerflich empfunden haben. Aus diesem Grunde verschränkt er in seinen Gedichten Liebe bzw. intime Kommunikation und Totengedenken miteinander, bis sie im weiteren Verlauf seiner dichterischen Entwicklung unauflöslich miteinander verschmel- zen.

Im Gedicht IN ÄGYPTEN gemahnt das sprechende Subjekt mittels des dekalogischen Impe- rativs an seine eigene moralische Pflicht, beim Anblick der geliebten „Fremde[n]“ nicht die durch die alttestamentlichen hebräischen Frauennamen Ruth, Noëmi und Mirjam88 metony- misch repräsentierten jüdischen Toten zu vergessen, sondern sie im „Aug der Fremden [zu] suchen“ (V. 2). Es heißt, das Du wisse die Toten im Wasser; man denke hier nur an den Topos der ‚Tiefsee’, nach welchem die Verschwundenen in einer schwer zugänglichen und dunklen Tiefe weiter existieren. Da sie also an der Oberfläche nicht zu sehen sind, müssen sie erst gesucht (V. 2) und geruft werden (V. 3). Wie im Gedicht VON DUNKEL ZU DUNKEL verortet der Sprecher die dunkle Tiefe bzw. hier das Wasser in die Augen des Gegenübers. Wissend, dass in Wirklichkeit das Wasser nicht in den Augen der Fremden zu finden ist, be- schwört er jenes im ersten Vers und setzt so demiurgisch zwei getrennte Entitäten im imagi- nären Raum der Poesie in eins: „Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser.“ Auf das Rufen der Toten aus dem Wasser folgen zunächst vier Verse (V. 4-7), die das Schmücken der Toten mit dem Haar der Fremden fordern und sie auf die aktuelle Liebesbeziehung mit der Fremden hinweisen: „Seht, ich schlaf bei ihr!“ Die letzten vier Verse des Gedichts, in deren Mitte die einzige strophische Zäsur liegt, haben dieselbe prädikative Struktur wie die voran- gehenden vier, mit dem Unterschied allerdings, dass hier aufgefordert wird, die Fremde zu schmücken mit einem den Toten zugeordneten Attribut („dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noëmi“), worauf in den beiden Schlussversen umgekehrt die Fremde darauf hingewiesen werden soll, dass das Du in der Vergangenheit bei den Toten schlief. Obwohl die drei Frauen im siebten Vers direkt angesprochen werden, haben sie als Tote doch nur eine imaginäre Exis- tenz, die durch die Anrufung (V. 3) in die Gegenwart des Gedichts geholt wird. Wenn es nun

heißt, dass sie mit dem Haar der Fremden geschmückt werden sollen, so mag das zunächst bedeuten, dass die flüchtigen Toten, die im Wasser des Auges leben, mit etwas Realem, Ge- genwärtigem und gleichsam Unverweslichem umgeben werden, was zur Ausstellung („schmücken“) einer neu gewonnenen Wesenhaftigkeit führt. Andererseits ist der Schmuck aber kein gewöhnliches Haar, sondern „Wolkenhaar“ und als solches zwar sicht-, aber gerade nicht greifbar. Somit greift die imaginäre Sphäre der Toten, die im Wasser des Auges leben, über in die real scheinende Sphäre der Fremden und verdichtet sich in Gestalt von Wasser- dampf als „Wolkenhaar“. Dieses deutet somit darauf hin, dass beide Bereiche, nämlich jener der im Wasser wohnenden Toten und die aktuelle Gegenwart der Geliebten, im Gedicht un- trennbar miteinander verwoben sind. Die Verse 8 und 9 haben das Schmücken der Fremden zum Inhalt. Sie soll mit dem Schmerz um die Toten „am schönsten“ geschmückt werden. Während das erste Schmücken – der Toten mit dem Haar der Fremden – als Sichtbarmachung der ephemeren Wasserwesen interpretiert werden kann, lässt sich das Schmücken mit dem Schmerz als Mahnung verstehen, beim Anblick der Geliebten stets auch der Toten eingedenk zu sein. Im Übrigen ist das Verb ‚schmücken’ etymologisch mit ‚schmiegen / eng anliegen’

verwandt89 und unterstreicht zum einen die erotische Dimension des Gedichts, zum andern die

von Celan angestrebte ‚Engführung’ der fremden Frau und der Toten.

Das Gedicht lässt sich kaum als genuine Liebeslyrik lesen. Die fremde Frau dient als Projek- tionsfläche für die Vergegenwärtigung der Toten, deren Eigenschaften die Geliebte annimmt. Das Gedicht erscheint im Zusammenhang mit Celans Lebenssituation im Wien der Nach- kriegszeit vielmehr als Versuch einer Rechtfertigung und Beantwortung der Frage, wie die Erinnerung an die jüngsten Verluste mit einer Liebesbeziehung zu einer ‚Fremden’ moralisch zu vereinbaren ist. Allerdings sagt uns das Gedicht auch mehr als das. Die eine einzelne Vers- gruppe bildenden letzten Zeilen legen eine poetologische Lesart nahe, dergestalt, dass die

‚Fremde’ wie in dem oben untersuchten Gedicht als ‚ansprechbares Du’ fungiert, dem das Vergangene erfahrbar gemacht werden soll. Wenn das Du zur Fremden sagt „Sieh, ich schlief bei diesen!“, so korrespondiert dieser letzte Vers mit dem ersten des Gedichts, wo das „Aug der Fremden“ genannt ist. Da „die, die du im Wasser weißt“ nach oben geholt und sogar aus dem Innenraum der Fremden in Gestalt des „Wolkenhaar[s]“ ausgelagert werden, ist eine Möglichkeit geschaffen, dass die Fremde tatsächlich sieht, was der letzte Vers fordert.

Ein weitaus vielschichtigeres und dunkleres Gedicht, in dem Liebesbegegnung und Totenge- denken eine unauflösliche Einheit bilden, ist das 1948 gleichfalls in Wien entstandene CORONA. Ingeborg Bachmann hat in ihrem ersten Gedichtband Die gestundete Zeit (1953)90 und in ihrem Roman Malina eindeutig auf Celans Gedicht angespielt und daraus zitiert, was zu zahlreichen biographisch inspirierten Interpretationen anregte und CORONA einen gewissen Bekanntheitsgrad einbrachte.91 Ich möchte mich bei meiner Deutung allerdings vornehmlich auf die poetologische Aussage konzentrieren, die in ihrer Komplexität bislang nur unzurei- chend untersucht wurde.

3.2 CORONA

CORONA

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde. Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:

die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,

im Traum wird geschlafen, der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an,

wir sagen uns Dunkles,

wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, wir schlafen wie Wein in den Muscheln,

wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße: es ist Zeit, daß man weiß!

Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt.

Es ist Zeit, daß es Zeit wird. Es ist Zeit.92

[...]


1 Vgl. die umfänglichste Studie zu diesem Thema, die zudem eine geistesgeschichtliche Fundierung der her- metischen Schreibweisen liefert: Thomas Sparr: Celans Poetik des hermetischen Gedichts. Heidelberg: Win- ter 1989. – Fruchtbarer und Celans Konzept der dialogischen Dichtung angemessener scheinen mir folgende Aufsätze zur Hermetik zu sein: Bernd Witte (1981): Zu einer Theorie der hermetischen Lyrik. In: Poetica 13, S. 133-148; Günter Figal: Gibt es hermetische Gedichte? Ein Versuch, die Lyrik Paul Celans zu charakteri- sieren. In: Paul Celan. „Atemwende“. Materialien. Hg. v. Gerhard Buhr und Roland Reuß. Würzburg: Kö- nighausen & Neumann 1991, S. 301-311

2 Vgl. etwa die Nachlass-Notiz in Mikrolithen, S. 23-24 und Celans Appell gegen Unverständlichkeit: „Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst.“ (zit. n. Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biogra- phie seiner Jugend. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 7) – Eine Auflistung der Abkürzungen und Siglen einiger der in dieser Arbeit häufig verwendeten Quellen fin- det sich im Literaturverzeichnis.

3 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigs- ten Jahrhunderts [1956]. Hamburg: Rowohlt 2006, S. 179

4 Celan spricht in der Meridian-Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises in einem verschwiegenen und anspielungsreichen Diskurs über die moralische Legitimation von Kunst nach Auschwitz sein Verdikt über Hermetik und absolute Dichtung in Form einer – von der Forschung bisweilen missverstandenen – rhe- torischen Frage aus: „Dürfen wir [...] Mallarmé konsequent zu Ende denken?“ (GW III, S. 193).

5 Zitiert nach Arno Reinfrank (1971): Schmerzlicher Abschied von Paul Celan. In: Die Horen 83, S. 72-75. hier: S. 73 – Das sagte Celan 1968 im Kontext seines Gedichtbands Fadensonnen.

6 Da Quellen fehlen, muss mit Aussagen über die Pathographie des in den 1960er Jahren psychisch schwer kranken Celan natürlich äußerst vorsichtig umgegangen werden. Ein Hinweis auf die ‚Überlebensschuld‘ sei nicht zuletzt mit Blick auf eine unveröffentlichte Notiz Celans zum Meridian erlaubt: vgl. Meridian, S. 123.

7 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik [1966]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 359-360. Einige Seiten zuvor findet sich Adornos halbherzige Relativierung seines berühmten Diktums über Lyrik nach Ausschwit- ze: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“ (ebd., S. 355)

8 GW III, S. 186

9 Meridian, S. 84-95 Außerdem mit einigen im Meridian fehlenden Notizen in Mikrolithen, S. 130-152. Der Vortrag wurde nie gehalten. Die Notizen gingen teilweise auch in die Meridian-Rede ein und stellen deren älteste Textschicht dar. vgl. Meridian, S.XI [Vorwort] und Bernhard Böschenstein (2008): Der Meridian. In: Celan-Handbuch, S. 167-175. hier: S. 167

10 Meridian, S. 89

11 Celans 1948 in Wien erschienener, bald wegen allzu vieler Druckfehler zurückgezogener Band Der Sand aus den Urnen, aus welchem 26 Gedichte in Mohn und Gedächtnis übernommen wurden, berücksichtige ich bei der Bandzählung nicht.

12 GW III, S. 167 (Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris; 1958)

13 Aus dem Gedicht WASSER UND FEUER aus Mohn und Gedächtnis (GW I, S. 76-77)

14 Karsten Hvidtfelt Nielsen, Harald Pors: Index zur Lyrik Paul Celans. München: Fink 1981, S. 289 – Bemer- kenswert ist die augenfällige Dominanz des Grundworts im frühen Werk (vgl. ebd., S. 161).

15 GW III, S. 195

16 Vgl. in den Notizen zum Meridian: „Wenn es wahr ist, daß es auch vom Himmel her eine Beziehung zum Menschen gibt, so kann ihm diese neue Zuwendung ja nur willkommen sein – als Abgrund des Menschen lebt er ja fort.“ (Meridian, S. 89)

17 Vgl. Anm. 12

18 Dieser geologische Abgrund in Gestalt einer eisigen Gletschertiefe findet seine wohl eindrucksvollste Dar- stellung in Celans späterem Gedicht WEGGEBEIZT (GW II, S. 31).

19 Aris Fioretos: Finsternis. In: Lesarten. Beiträge zum Werk Paul Celans. Hg. von Axel Gellhaus und Andreas Lohr. Köln: Böhlau 1996, S. 153-177. hier: S. 175.

20 GW III, S. 200

21 Vgl. ebd., S. 195: „Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.“ – Auch der Komplex Abgrund (Enge) - Dunkelheit - Atemwende wird im Meridian-Kapitel gründlich behandelt.

22 Abgrund / Tiefe. In: LLS, S. 3-5 (Artikel von Almut-Barbara Renger)

23 Meridian, S. 91 – Eine Vigilie ist eine Nacht- bzw. Totenwache.

24 Ebd.

25 Meridian, S. 92

26 Vgl. das Malebranche-Zitat: „Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele.“ (GW III, S. 198)

27 In dem Gedicht IN DER LUFT aus dem Band Die Niemandsrose wird in der vorletzten Strophe mit brutaler Deutlichkeit auf die Leichenberge in den Konzentrationslagern verwiesen: „die Leiber / zu Schwellen ge- türmt, zu Dämmen“. Diese eine einzige lange Parenthese bildende Strophe, die ganz Wesen und Gestalt der Toten gewidmet ist, wird von den Versen eingerahmt: „der Kuß, nächtlich, / brennt einer Sprache den Sinn ein, zu der sie erwachen, sie […] die / Furtenwesen“. (GW I, S. 290-291) Ein weiteres Gedicht, welches mit dem Verb ‚erwachen’ die Erweckung der Toten beschreibt, ist bspw. DIE SILBE SCHMERZ aus demselben Band. Hier heißt es: „In Särgen, / Urnen, Kanopen / erwachten die Kindlein / Jaspis, Achat, Amethyst – Völ- ker, / Stämme und Sippen“. (GW I, S. 281)

28 Vgl. Anm. 20

29 Meridian, S. 127

30 Zit. n. Hugo Huppert: „Spirituell“. Ein Gespräch mit Paul Celan. In: Hamacher / Menninghaus, S. 319-324. hier: S. 219. – Das Interview wurde am 26. Dezember 1966 geführt.

31 Meridian, S. 99

32 Ebd.

33 Vgl. GW III, S. 198

34 Vgl. in der Büchnerpreis-Rede: „es [das Gedicht] wird Gespräch – oft ist es verzweifeltes Gespräch.“ (GW III, S. 198) oder in den Meridian-Notizen: „Gespräche nehmen in Anspruch, sie strengen an.“ (Meridian, S.

35 Mikrolithen, S. 77. Der Text entstand wohl zwischen 1955 und 1957. Vgl. zu diesem Thema auch Gerhart Baumanns Ausführungen in: Gerhart Baumann: Erinnerungen an Paul Celan. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 12: „Der Moralist Celan hütete nichts so eifersüchtig wie sein Gedächtnis; darin zeigte sich seine Verletzlichkeit, denn er sah sich von ihm unablässig bedroht. In jedem Vergessen erblickte er einen Akt der Gewissenlosigkeit.“ Außerdem ebd., S. 14: „Celan lebte derart unbedingt in der Gegenwart seiner Erinnerun- gen, daß er nicht selten darüber das unmittelbar Gegenwärtige vergaß, vergessen mußte.“

36 Mikrolithen, S. 77

37 Die Arche als etwas Bergendes, Aufbewahrendes und Gedächtnisstiftendes kann bei Celan durchaus poeto- logisch als Metapher für die Dichtung gelesen werden. In manchen Gedichten wird diese bewahrende Funktion von Dichtung an besonderen Gefäßen veranschaulicht. vgl. etwa Celans allerersten Gedichtband Der Sand aus den Urnen oder das seinem Sohn Eric gewidmete Gedicht ICH HABE BAMBUS GESCHNITTEN aus der Niemandsrose: „du / weißt nicht, in was für / Gefäße ich den / Sand um mich her tat, vor Jahren“ (GW I, S. 264).

38 Ein ‚Schemen’ meint ein Gespenst oder ein Schatten(bild). Er verweist als etwas Abbildhaftes und nicht Greifbares auf eine zumindest mentale Repräsentation der spurlos Verbrannten.

39 So in der berühmten TODESFUGE (GW I, S. 41)

40 Mikrolithen, S. 78.

41 Ebd.

42 In der Bremer Rede: GW III, S. 186

43 Ebd.

44 Ebd.

45 Bernhard Böschenstein: Die Toten von Auschwitz und Treblinka als Grund von Celans Dichtung. In: Ästheti- sche und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Hg. v. Wolfgang Braungart. Paderborn [u.a.]: Schö- ningh 2000, S. 19-29. hier: S. 25

46 Ebd.

47 Nielsen; Pors 1981, S. 289: Die beiden Wortformen ‚Aug’ und ‚Auge’ kommen in allen Gedichtbänden ins- gesamt 95-mal vor.

48 In der Meridian-Rede (GW III, S. 196): „Aber das Gedicht spricht ja! Es bleibt seiner Daten eingedenk, aber

– es spricht.“

49 Hans Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik. In: Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Hg. v. Wolfgang Iser. München: Fink 1966, S. 145-157. hier: S. 151

50 GW I, S. 263

51 GW III, S. 165 (Die Aphorismen wurden erstmals in der Züricher Zeitschrift Die Tat gedruckt). – Ein weite- rer Aphorismus, der das paradoxe Verhältnis von Licht und Dunkelheit illustriert, zwar zum selben Textkor- pus gehört, jedoch nicht zu Lebzeiten in Gegenlicht abgedruckt wurde, lautet: „Nichts ist schwärzer als der leuchtende Morgen der Erinnerung.“ (Mikrolithen, S. 17 und S. 293; Kommentar) Vgl. auch ein kurzer Pro- satext (vielleicht erste Hälfte der 1950er Jahre) aus dem Nachlass, der in einer für Celan ganz untypischen Textsorte den Sprachgestus einer präzisen erkenntnistheoretischen Untersuchung nachahmt. Hier geht es um ein Zimmer mit einer „tief herabhängende[n] Lampe“, die es „nicht leicht“ hat, als „jenes im Dunkel der Stu- be gekauerte Dunkel seinen Standort verläßt und aufrecht auf die […] Lampe zuschreitet“ und meist „nicht aus einer einzigen Ecke vor[rückt], sondern gleichzeitig aus allen vier.“ (Mikrolithen, S. 68 und S. 460; Kommentar). Dieser kaum untersuchte Prosatext ist im Zusammenhang mit der poetologischen Licht- Dunkel-Metaphorik gewiss interessant, kann aber hier nicht eingehend erörtert werden. Zur Möglichkeit des Vergleichs sei trotzdem auf ihn hingewiesen.

52 In der Prosa aus dem Nachlass bezeichnet Gegenlicht außerdem ab etwa 1960 eine eigene aphoristische Gat- tung, die Widerstand gegen die Infamitäten der sich zuspitzenden Goll-Affäre bieten will: „Gegenlichter: Gegen das Gelichter“ (Mikrolithen, S. 37 und S. 239; Editorisches Nachwort) – In der hier verwendeten pejo- rativen Semantik meint ‚Gelichter’ (das mit ‚Licht’ etymologisch nichts gemein hat) ‚Gesindel’, ‚Pack’, ‚Sippschaft’.

53 Vgl. Peter Goßens (2008): Edgar Jené und der Traum vom Traume. In: Celan-Handbuch, S. 154-158. hier: S. 157

54 GW III, S. 160

55 Bspw. heißt es in dem Gedicht INSELHIN aus dem Band Von Schwelle zu Schwelle: „Inselhin, neben den Toten […] // so rudern die Fremden und Freien“ (GW I, S. 141). Und das Gedicht IN DER LUFT (vgl. Anm. 27) bezeichnet die Toten als „die lebenslang Fremden“ (GW I, S. 291). Zudem ist das Fremde wesentliches Konstituens der im Meridian entfalteten Poetik, was zu zeigen sein wird.

56 GW III, S. 155

57 Ebd., S. 156

58 Ebd., S. 157

59 Ebd., S. 156

60 Ebd. und S. 157

61 In der Meridian-Rede (GW III, S. 196)

62 GW III, S. 158

63 Ebd. – vgl. auf der vorangehenden Seite: „Hol dir lieber ein paar Augen aus dem Grund deiner Seele und setze sie dir auf die Brust: dann erfährst du, was sich hier [in der Tiefsee] ereignet!“

64 DKB, S. 73

65 An mehreren Stellen, z.B. Mikrolithen, S. 139

66 Die Notiz stammt aus der ersten Hälfte der 1950er Jahre (Mikrolithen. S. 72-73 und S. 464; Kommentar) – Die Bezeichnung des selbstgesponnenen Dunkels als „Stolz deiner Seele“ ist insofern aufschlussreich, als sie auf die schon erwähnte Dignität anspielt, die Celan wegen seiner Fühlung zu einem ‚anderen Bereich’ zu- kommt. Diese Dichterwürde wird im dem kurzen Prosatext freilich kritisiert, da sie in der Dunkelheit versponnen anscheinend mit sich allein sein möchte und das Licht nicht an sich heran lässt. Allerdings gibt es weitere interessante Äußerungen Celans, die eine merkwürdige egozentrische Verabsolutierung seines eige- nen Leidens nahe legen. Im August 1949 etwa rechtfertigt sich Celan bei seiner Geliebten Ingeborg Bach- mann für sein seltenes Briefeschreiben und verleiht seinem eigenen Schweigen eine existentiell begründete Bedeutung: „Nur sage ich mir manchmal, daß mein Schweigen vielleicht verständlicher ist als das Deine, weil das Dunkel, das es mir auferlegt, älter ist.“ (IB, S. 13) Weitaus krasser und befremdlicher nimmt sich ei- ne Passage aus einem unveröffentlichten Gedicht von 1962 aus, in dem Celan seine Freundin Nelly Sachs scharf angreift, indem er ihre ebenfalls den ermordeten Juden verpflichtete Dichtung als „Anerlebte[s]“ ne- giert, da Sachs nicht seine schmerzlichen Erfahrungen und Verluste während der NS-Zeit erlitten habe. Die- ser Affront ist wohl nur durch Celans schwere psychische Krankheit zu erklären, die im Zuge der sich zuspit- zenden Goll-Affäre zu Beginn der 1960er Jahre, ausbricht: „Es war / niemals / dein Rauch, hörst du. Schweig, / hol Atem bei dir, laß mir / die Toten.“ (GA, S. 767-768)

67 Mikrolithen, S. 72

68 Ebd.

69 Vgl. ebd. und S. 73

70 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [1970]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 477

71 Vgl. Anm. 42

72 Die Entstehungsdaten der in dieser Arbeit angeführten Gedichte entnehme ich der Kommentierten Gesamt- ausgabe von Barbara Wiedemann (KG).

73 GW I, S. 97 (Wo in meiner Abschrift die Seite umbricht, beginnt eine neue Strophe.)

74 Vgl. Anm. 35

75 Zit. n. KG, S. 626

76 GW I, S. 167

77 Vgl. Giuseppe Bevilacqua (1987): Celans Orphismus. Einführende Worte zu einer Celan-Diskussion in Ber- lin. In: Celan-Jahrbuch 1, S. 127-139; Bernd Auerochs (2007): Katabasis. Zu Paul Celans Gedicht „Sprich auch du“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 57, Heft 3, S. 333-355

78 GW I, S. 87

79 In der Bremer Rede: GW III, S. 185

80 Vgl. IB, S. 362

81 Wolfgang Emmerich: Paul Celan. Reinbek: Rowohlt 1999, S. 77

82 IB, S. 25. Celan greift im Brief vom 7. Juli 1951 die von Bachmann in einem Brief zwar „sorgfältig durchge- strichene[n], aber doch nicht bis zur Unleserlichkeit getilgte[n] Stelle“ (ebd.) auf, an welcher sie vom Exem- plarischen ihrer Beziehung spricht. Allerdings wehrt er sich gegen eine solche Zuschreibung, da sie seine In- dividualität untergrabe (vgl. ebd. und S. 26).

83 Vgl. IB, S. 7

84 GW I, S. 46. Das Gedicht weicht in der Werkausgabe, außer dem Fehlen der Widmung ‚Für Ingeborg’, kaum von der Brieffassung ab. Lediglich Interpunktion und die Schreibung einzelner Wörter wurden von Celan ge- ringfügig verändert.

85 Es bleibt unklar, wieso Celan in dem Gedicht nur neun Gebote nennt. Felstiner spekuliert: „Vielleicht mußte er einfach irgendwie seine Distanz zum religiösen Dogma wahren.“ (John Felstiner: Paul Celan. Eine Bio- graphie. München: Beck 1997, S. 91) Diese Frage soll hier nicht weiter interessieren.

86 IB, S. 64

87 Celan hat später 22 Gedichte aus Mohn und Gedächtnis seiner Freundin Ingeborg Bachmann nachträglich gewidmet. (vgl. Christine Koschel: „Malina ist eine einzige Anspielung auf Gedichte“. In: Ingeborg Bach- mann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn Beiträge. Hg. v. Bernhard Böschenstein und Sigrid Weigel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 17-23)

88 Alle drei Namen sind mit Frauen aus dem Alten Testament verknüpft und gewinnen aus dieser Quelle einen je besonderen Bezug zum im Gedicht dominanten Problem von Fremde und Heimat. Außerdem lassen laut Wiedemann die Namen Ruth und Noëmi Reminiszenzen an Celans enge Jugendfreundin Noëmi Ruth Lackner (später: Ruth Kraft) erkennen (vgl. KG, S. 610). Ruth Lackner überlebte allerdings den Holocaust, weshalb diese biographische Lesart der Namen nicht problemlos mit der Thematik des Gedichts zur Kon- gruenz gebracht werden kann.

89 Schmücken. In: Kluge, S. 816

90 In den Gedichten Dunkles zu sagen und Die gestundete Zeit

91 Vgl. Barbara Wiedemann: Fermate im Herbst. In: Interpretationen, S. 28-42. hier: S. 29-30. – Wiedemann kritisiert zurecht die Fixierung vieler Interpreten auf die Celan-Bachman-Korrespondenz, zumal die intertextuellen Verweise in Bachmanns Werk zum Verständnis von CORONA im Grunde nichts beitragen. Trotzdem muss der biographische Kontext berücksichtigt werden, zumal das Gedicht im Briefwechsel sowohl von Ce- lan als auch von Bachmann erwähnt wird (vgl. IB, S. 11).

92 GW I, S. 32 (Bei der Strophenzählung zähle ich den abgesetzten Schlusssatz „Es ist Zeit“ nicht mit.)

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Kommunikative Dunkelheit - Untersuchungen zur Poetik von Paul Celan
Hochschule
Universität des Saarlandes
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
115
Katalognummer
V152021
ISBN (eBook)
9783640655380
ISBN (Buch)
9783640656097
Dateigröße
1461 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dunkelheit, Hermetik, Poetik, Dialog, Holocaust
Arbeit zitieren
M.A. Ruven Karr (Autor:in), 2009, Kommunikative Dunkelheit - Untersuchungen zur Poetik von Paul Celan, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152021

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