Angeregt durch das Projekt „Schatten über Berlin“ begebe ich mich auf historische Spurensuche und recherchiere in den „Großstadt-Dokumenten“ (1904-1908), herausgegeben von Hans Ostwald. Hierbei handelt es sich um 51 Bände von fast 5000 Seiten, verfasst von Journalisten, Schriftstellern, Ärzten, Rechtsanwälten, Politikern oder Sozialarbeitern, die in journalistisch orientierter Schreibweise das versteckte Elend vorwiegend in Berlin schildern und einen Blick in das Milieu der Unterschicht gestatten. Die Autoren mischen sich unter die Menschen der Stadt, suchen das Gespräch und stellen ihre eigenen Beobachtungen an. Dabei entstehen Dokumente, die unbekannte Bezirke und Personengruppen beschreiben, die regelwidrig leben oder unvertraute Lebensweisen praktizieren. So entsteht eine Collage aus kurzen, informativen Reportagen, Studien und anderen kleinformatigen Texten, die seinerzeit einen hohen Verbreitungsgrad fanden und auf reges Interesse in der Bevölkerung stießen. Man schätzt, dass von 1904-1910 350.000 Exemplare verkauft wurden. Die Menschen scheinen fasziniert vom sozialen Abseits und den Assoziationen von Geheimnis und Gefahr.
Oswald knüpft dabei an die „Geheimnisvolle Literatur“ an, die Eugène Sues 1842 mit seinem Fortsetzungsroman „Les Mystères de Paris“ über die Pariser Unterwelt begründete. 1844 verfasst August Braß die „Mysterien von Berlin“ mit der Absicht, in jedem Menschen das Menschliche zu entdecken.
Brigitte Pick
Projekt „Schatten auf Berlin“: Über gefährdete und verwahrloste Jugendliche
Angeregt durch das Projekt „Schatten über Berlin“ begebe ich mich auf historische Spurensuche und recherchiere in den „Großstadt-Dokumenten“ (1904-1908), herausgegeben von Hans Ostwald. Hierbei handelt es sich um 51 Bände von fast 5000 Seiten, verfasst von Journalisten, Schriftstellern, Ärzten, Rechtsanwälten, Politikern oder Sozialarbeitern, die in journalistisch orientierter Schreibweise das versteckte Elend vorwiegend in Berlin schildern und einen Blick in das Milieu der Unterschicht gestatten. Die Autoren mischen sich unter die Menschen der Stadt, suchen das Gespräch und stellen ihre eigenen Beobachtungen an.[1] Dabei entstehen Dokumente, die unbekannte Bezirke und Personengruppen beschreiben, die regelwidrig leben oder unvertraute Lebensweisen praktizieren.[2] So entsteht eine Collage aus kurzen, informativen Reportagen, Studien und anderen kleinformatigen Texten,[3] die seinerzeit einen hohen Verbreitungsgrad fanden und auf reges Interesse in der Bevölkerung stießen. Man schätzt, dass von 1904-1910 350.000 Exemplare verkauft wurden.[4] Die Menschen scheinen fasziniert vom sozialen Abseits und den Assoziationen von Geheimnis und Gefahr.[5]
Oswald knüpft dabei an die „Geheimnisvolle Literatur“ an, die Eugène Sues 1842 mit seinem Fortsetzungsroman „Les Mystères de Paris“ über die Pariser Unterwelt begründete. 1844 verfasst August Braß die „Mysterien von Berlin“ mit der Absicht, in jedem Menschen das Menschliche zu entdecken.[6]
Der 49. Band der Großstadt-Dokumente befasst sich mit „Gefährdeten und verwahrlosten Jugendlichen“ (1908), verfasst von Alfred Lasson, über den nicht mehr bekannt ist als dass er als Schriftsteller und Redakteur arbeitete, 1867 in Berlin geboren wurde, wo er am 16.4.1946 im Alter von 69 Jahren starb.[7]
Die Lektüre des Textes ließ mich viele Parallelen zu Erfahrungen, die ich 100 Jahre später in meinem Berufsleben als Lehrerin und Schulleiterin der Rütli-Schule in Berlin- Neukölln(1969-2005) gemacht habe, entdecken. Die ausführliche Sozialreportage kann man in meinem Buch nachlesen.[8]
Zum Begriff Verwahrlosung
Der Brockhaus vermerkt unter dem Stichwort „Verwahrlosung“: „ Umgangssprachlich: äußerliche Vernachlässigung, Unreinlichkeit, Ungepflegtheit; bei Kindern und Jugendlichen auffällige Entwicklungs- und Verhaltensformen, die als Abweichen von der Norm sowie als latenter oder offener Konflikt mit den geltenden gesellschaftlichen Ordnungen erfahren werden….als Symptome gelten in der Praxis der Fürsorge u.a. Schuleschwänzen, Bandenbildung, Unzuverlässigkeit bei der Arbeit, mehrfacher unzureichend motivierter Stellen- und Berufswechsel, Eigentums- und Rohheitsdelikte, Alkohol- und Rauschmittelmissbrauch, bes. aber häufig wechselnder Geschlechtsverkehr und Prostitution.“ Der Artikel verweist zu Recht darauf, dass sich die Abweichungen immer auf die Normen der Mittelschicht beziehen, und daher die Unterschicht besonders oft mit den Forderungen in Konflikt gerät. Andererseits sieht man, wie Gesellschaft sich rasch verändert. So wird heute ein hohes Maß an Flexibilität im Berufsleben erwartet. Als Ursachen lesen wir von Milieuschädigungen durch inadäquate Erziehungspraktiken, wie Vernachlässigung, übermäßige Strenge aber auch sinnlose Verwöhnung. Psychoanalytisch wird von einem eingeschränkten Über-Ich (Gewissen) ausgegangen, da die Gelegenheit zur Identifizierung mit einem elterlichen Leitbild fehlt.[9]
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[1] Ralf Thies- Ethnograph des dunklen Berlin, Hans Ostwald und die „Großstadt-Dokumente“(1904-1908), Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2006, S. 118
[2] ders. S. 138
[3] ders. S. 152
[4] ders. S. 128
[5] ders. S. 96
[6] ders. S. 99
[7] ders. S. 307
[8] Brigitte Pick- Kopfschüsse: Wer Pisa nicht versteht, muss mit Rütli rechnen. VSA Verlag Hamburg, 2007
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Brigitte Picks Projekt „Schatten auf Berlin“?
Das Projekt befasst sich mit gefährdeten und verwahrlosten Jugendlichen, angeregt durch die "Großstadt-Dokumente" (1904-1908) von Hans Ostwald. Es ist eine historische Spurensuche, die das Elend in Berlin um die Jahrhundertwende thematisiert.
Was sind die "Großstadt-Dokumente"?
Die "Großstadt-Dokumente" sind eine Sammlung von 51 Bänden mit fast 5000 Seiten, verfasst von Journalisten, Schriftstellern, Ärzten, Rechtsanwälten, Politikern und Sozialarbeitern. Sie schildern das versteckte Elend, vorwiegend in Berlin, und geben Einblick in die Unterschicht.
Wer war Alfred Lasson?
Alfred Lasson war Schriftsteller und Redakteur, der den 49. Band der Großstadt-Dokumente zum Thema "Gefährdete und verwahrloste Jugendliche" (1908) verfasste. Er wurde 1867 in Berlin geboren und starb dort 1946.
Welche Parallelen sieht Brigitte Pick zwischen den "Großstadt-Dokumenten" und ihrer eigenen Erfahrung?
Brigitte Pick sieht viele Parallelen zwischen den Beschreibungen in den "Großstadt-Dokumenten" und ihren Erfahrungen als Lehrerin und Schulleiterin an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln (1969-2005). Ihre Erfahrungen sind in ihrem Buch nachzulesen.
Wie wird der Begriff "Verwahrlosung" definiert?
Der Brockhaus definiert "Verwahrlosung" umgangssprachlich als äußerliche Vernachlässigung, Unreinlichkeit und Ungepflegtheit. Bei Kindern und Jugendlichen äußert sich dies in auffälligen Entwicklungs- und Verhaltensformen, die als Abweichung von der Norm und als Konflikt mit den geltenden gesellschaftlichen Ordnungen wahrgenommen werden. Beispiele sind Schuleschwänzen, Bandenbildung, Unzuverlässigkeit bei der Arbeit, Eigentums- und Rohheitsdelikte, Alkohol- und Rauschmittelmissbrauch sowie häufig wechselnder Geschlechtsverkehr und Prostitution.
Worauf wird im Artikel über Verwahrlosung hingewiesen?
Es wird darauf hingewiesen, dass die Abweichungen immer auf die Normen der Mittelschicht bezogen sind und dass sich die Gesellschaft rasch verändert, weshalb ein hohes Maß an Flexibilität im Berufsleben erwartet wird. Ursachen sind Milieuschädigungen durch inadäquate Erziehungspraktiken, wie Vernachlässigung oder übermäßige Strenge, und psychoanalytisch wird von einem eingeschränkten Über-Ich ausgegangen.
Welche Bücher werden im Text erwähnt und wer sind die Autoren?
Es werden folgende Bücher erwähnt:
- "Großstadt-Dokumente" (1904-1908) von Hans Ostwald
- "Les Mystères de Paris" (1842) von Eugène Sue
- "Mysterien von Berlin" (1844) von August Braß
- "Gefährdete und verwahrloste Jugendliche" (1908) von Alfred Lasson
- "Kopfschüsse: Wer Pisa nicht versteht, muss mit Rütli rechnen." (2007) von Brigitte Pick
- "Ethnograph des dunklen Berlin, Hans Ostwald und die „Großstadt-Dokumente“(1904-1908)" von Ralf Thies
- Arbeit zitieren
- Brigitte Pick (Autor:in), 2007, Gefährdete und verwahrloste Jugendliche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152272