Diskriminierung psychisch Behinderter durch Exklusion am Beispiel des Sportschießens


Bachelorarbeit, 2010

74 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Einleitung

3. Begriffsklärungen
3.1 Die Behinderung
3.2 Die Psychische Störung
3.3 Die Psychische Behinderung

4. Gesetzliche Regelungen für Menschen mit Behinderungen
4.1 Das Gleichheitsprinzip Behinderter
4.1.1 Der Begriff der Teilhabe
4.1.2 Gesellschaft und Gemeinschaft
4.2 Gesetze der Antidiskriminierung und der Gleichstellung
4.3 Die Behindertenrechtskonvention – BRK
4.3.1 Zur Entstehung
4.3.2 Bedeutung
4.3.3 Die Situation in Deutschland

5. Exklusion psychisch Behinderter
5.1 Begriffsklärung
5.2 Stigmatisierung psychisch Kranker
5.3 Exklusion als gesellschaftliches Problem
5.4 Exklusion psychisch Kranker und Behinderter im Arbeitsleben
5.5 Diskriminierung durch die Hilfesysteme selbst

6. Psychische Erkrankung als gesellschaftliches Erklärungsmodell für Unfassbares – aufgezeigt am Beispiel des Amoklaufs
6.1 Der Amoklauf
6.2 Die Rolle der Medien
6.3 Kriminalstatistische Gesichtspunkte

7. Die Rolle des Sports in der Psychiatrie

8. Kompetenzförderung durch den Sport

9. Das Sportschießen
9.1 Allgemeines über den Schießsport
9.2 Kompetenzen im Schießsport
9.2.1 Die Technik
9.2.2 Mentales Training
9.3 Alternativen zu scharfen Waffen

10. Resümee

11. Quellenverzeichnis
11.1 Literaturverzeichnis
11.2 Internetquellen

1. Vorwort

Ich arbeite als Pädagoge in einer Wohngruppe für psychisch kranke und seelisch behinderte Jugendliche und junge Erwachsene bei einem freien Träger. Die Krankheitsbilder und Behinderungen der Bewohner reichen von Psychosen über Asperger Autismus bis zu Retardierungssyndromen. Die Sozialkontakte lassen sich nur mühsam verbessern und die Akzeptanz in vielen Bereichen der Gesellschaft ist gering. Viele leiden an Ängsten, leben sehr zurückgezogen und sind introvertiert.

Als Sportschütze installierte ich eine Trainingsgruppe mit interessierten Jugendlichen. Das Interesse war groß, die Genehmigung des Trägers erteilt. Die Mitglieder des Vereins, anfangs etwas skeptisch, zeigten sich offen. Nachdem alle sicherheitsrelevanten Belehrungen sehr akribisch durchgeführt wurden, begannen wir mit dem Training. Die Jugendlichen waren sehr diszipliniert und die Rückmeldung von den Vereinsmitgliedern durchweg positiv. Nach einer anfänglichen Durststrecke bei den Ergebnissen der Schießleistungen, stellten sich erste Erfolge ein. Das sofortige Feedback ob und wie getroffen wurde, kam den Besonderheiten einiger Krankheitsbildern sehr entgegen. Die Jugendlichen freuten sich darauf, ihren Träger in einer eigenen Mannschaft bei Wettkämpfen überregional vertreten zu können und dem oft negativen Image durch sportliche Leistungen entgegenzutreten. Die Vereinsmitglieder waren derart über ihre eigenen unbegründeten, anfänglichen Vorurteile verblüfft, dass sie spontan Patenschaften anboten um die Kluft der Sozialkontakte zu beseitigen. Die Jugendlichen erlebten eine durchweg positive Erfahrung. Das führte dazu, dass die Kriterien der Teilnahme von mir noch enger gefasst wurden und die Jugendlichen nur bei Einhaltung der Gruppenregeln am Training teilnehmen durften. Die Motivation zum Sport wurde als erzieherisches Mittel erfolgreich genutzt.

Dann geschah ein bedeutendes Ereignis in Form eines Amoklaufes, das viele Leben kostete. Ein junger Mann entwendete eine unverschlossene Waffe des Vaters und tötete mehrere Menschen und sich selbst. Die Trauer und das Unverständnis waren verständlicherweise groß. Schnell wurde davon gesprochen, dass das Waffengesetz nicht ausreicht und der Täter psychisch krank oder behindert sein müsste. Politiker standen unter starkem Druck. Nur wenige versuchten eine Objektivität zu gewährleisten. Der Fakt, dass der Vater des jugendlichen Täters ganz massiv gegen das bereits bestehende Waffenrecht verstoßen hatte, indem er die Unterbringungsvorschriften für Waffen missachtete, wurde kaum erwähnt.

Die Reaktion meines Arbeitgebers bestand darin, die Trainingsgruppe zu verbieten. Als Begründung nannte man mir die Angst, falls ein Mitglied meiner Gruppe ähnliches täte, dies niemand verantworten kann und die Nachfolgeschäden für den Träger unübersehbare Folgen haben würden. Als ich dies meinen Jugendlichen mitteilte waren die Enttäuschung und die Unverständlichkeit groß. Keiner der Sportler hatte sich negativ verhalten. Es wurden alle Sicherheitsaspekte genauestens beachtet. Erste Patenschaften bestanden. Die Frage, warum gerade sie ausgeschlossen wurden und Nichtbehinderte diesen Sport weiter ausüben dürfen, konnte ich leider nicht befriedigend beantworten. Selbst Professionelle, die ihre Schutzbefohlenen vertreten sollen, lassen sich anscheinend von einer geschürten Hysterie der Medien in ihrer Urteilsfähigkeit massiv beeinflussen und verlieren dabei ihren Auftrag, die Anwaltschaft für ihre Klientel, oft die Schwachen der Gesellschaft, aus den Augen und diskriminieren sie.

2. Einleitung

Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 bis 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist ein Grundbestandteil der Verfassung und gilt als rechtsstaatliches Prinzip in allen Rechtsbereichen. In Artikel 3 heißt es hierzu: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“[1]

Es stellt sich die Frage, inwieweit dies in der Praxis umgesetzt wird. Reichen die gesetzlichen Vorgaben aus, um dem Artikel 3 des Grundgesetzes gerecht zu werden? Darüber besteht Uneinigkeit. Anlässlich der ersten Beratung der Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen Union im Bundesrat forderte Bayerns Bundesratsminister Dr. Markus Söder die Bundesregierung auf, im Europäischen Rat ihr Veto gegen die Richtlinie einzulegen. Söder: „… Die Richtlinie ist überflüssig, bürokratisch und lebensfern.“ Nach den Worten Söders bestehen auf nationaler Ebene bereits ausreichende Regelungen zur Verhinderung von Diskriminierungen. Der Vorschlag der Kommission greife massiv in die Vertragsfreiheit ein und schaffe in der Praxis unnötige Rechtsunsicherheit. Söder: „Die Kommission schießt mit ihrer Regelungswut weit über ihr Ziel hinaus. Mit ihrem Entwurf reduziert die Kommission auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für diejenigen, die das Gesetz zu schützen vorgibt. Der beste Diskriminierungsschutz liegt in einer toleranten, vorurteilsfreien Gesellschaft, nicht aber in einem Maximum an Verboten.“[2]

Was bedeutet dies für den Psychisch Erkrankten?

Psychisch erkrankt zu sein ist in unserer Gesellschaft mit negativen Vorurteilen behaftet. Das Stigma „psychische Krankheit“ wird zum bestimmenden Merkmal, hinter dem das Individuum verschwindet. Psychische Krankheit ist ein Tabuthema, über das häufig nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.[3] Als Folge der negativen Vorurteile leiden psychisch Kranke so stark wie kaum eine andere Minderheit unter Stigmatisierungen und Diskriminierungen. Die Reaktion der Umwelt führt oft dazu, dass sich psychisch kranke Menschen und ihre Angehörigen zurückziehen oder sich zurückgestoßen fühlen. Stigmatisierungen können einen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben. Dies fand in den letzten Jahren immer mehr Beachtung in psychiatrischer Fachliteratur. Angermeyer spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „Boom der Stigmaforschung“.[4] Die Exklusion psychisch Kranker und Behinderter ist trotz vielfältiger Bemühungen fortgeschritten. Therapie und Rehabilitation müssen näher an die Lebenswelt der Betroffenen heranrücken. Zeitgleich mit den Psychiatriereformen hat sich die moderne Gesellschaft in einer Weise gewandelt, die es für die von einer schweren psychischen Krankheit betroffenen Menschen immer schwieriger macht, sich erfolgreich zu integrieren.[5]

In der vorliegenden Arbeit soll exemplarisch am Beispiel des Schießsports untersucht werden, wie die Integration bzw. das Konzept der Inklusion psychisch kranker Menschen umgesetzt wird. Wie integriert fühlen sich psychisch kranke Menschen wirklich und wie können sie aus sozialpädagogischer Sicht sinnvoll und effektiv unterstützt werden? Welche notwendigen Veränderungen politischer und gesellschaftlicher Art müssten eintreten, um Rechtsansprüche umzusetzen und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für alle zu ermöglichen? Welchen Beitrag kann, soll und muss soziale Arbeit dabei leisten?

Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Arbeit mit der Klärung einiger Begriffe begonnen, um die Unterscheidung von Behinderung, Krankheit und Störung im psychischen Kontext zu erleichtern.

Anschließend folgt ein Abriss der verschiedenen Gleichstellungsgesetze auf nationaler und internationaler Ebene und deren Entstehung.

Im nachfolgenden Kapitel werden Exklusion und Stigmatisierung psychisch Kranker und Behinderter in den verschieden Lebensbereichen aufgezeigt.

Ein weiterer Punkt stellt dar, wie schnell psychische Erkrankungen als Erklärungsmodell der Gesellschaft für extreme und oft unfassbare Situationen missbraucht werden. Dabei werden kriminalstatistische Aspekte mit einbezogen.

Die folgenden Ausführungen befassen sich mit der Rolle des Sports in der Psychiatrie im Allgemeinen, um anschließend auf die Kompetenzförderung beim Schießsport im Besonderen einzugehen.

3. Begriffsklärungen

3.1 Die Behinderung

Im Folgenden wird der Begriff der Behinderung definiert. Dieser Begriff geht weit über die Vorstellung, Behinderung sei das Fehlen von Gesundheit, hinaus und lehnt sich an die Vorgaben des „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (nachfolgend ICF genannt) der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organisation – WHO) an. Der prinzipielle Ansatz der ICF ist der Begriff der funktionalen Gesundheit.[6] Funktionale Gesundheit umfasst nach ICF die Aspekte der Körperfunktionen und -strukturen des Organismus sowie die Aspekte der Aktivitäten und Teilhabe einer Person an allen Lebensbereichen vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren.[7] Funktionsfähigkeit soll vor allem den negativ verstandenen Begriff „Schädigung“ ausschließen.

Die recht komplexe Definition von Funktionaler Gesundheit nach ICF ist folgende: Eine Person gilt als funktional gesund, wenn sie vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der Kontextfaktoren) ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des psychischen, mentalen und seelischen Bereichs) und ihre Körperstrukturen, denen eines gesunden Menschen entsprechen (Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen) und sie nach Art und Umfang das tut oder tun kann, was von einer Person ohne Gesundheitsprobleme erwartet wird (Konzept der Aktivitäten ), und sie ihr Dasein in allen ihr wichtigen Lebensbereichen in dem Umfang entfalten kann, wie es von einer Person ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen, der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen).[8]

Eine Behinderung liegt vor, wenn es in nur einem Aspekt der funktionalen Gesundheit eine Beeinträchtigung gibt: eine Funktionsstörung, ein Strukturschaden, eine Einschränkung der Aktivität oder eine Beeinträchtigung bei der Teilhabe. Das bedeutet, die funktionalen Auswirkungen von Krankheiten werden in der ICF zusammengefasst und klassifiziert.

Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen einschließlich psychologischer Funktionen. Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. Beeinträchtigungen dieser Komponenten (Körperfunktionen und/oder Körperstrukturen) werden als Schädigung bezeichnet.[9]

Der Denkansatz der funktionalen Gesundheit ist auf dem Normalitätskonzept aufgebaut. Es wird die Abweichung von der Norm an Menschen ohne Behinderung bzw. gesundheitlicher Beeinträchtigung gemessen. So sieht man Menschen mit Behinderung leicht als zu normalisierende, zu integrierende Gruppe und somit als gesellschaftliches Problem.[10]

Hier liegt der Kritikpunkt der Behindertenbewegung die den Normalisierungsdruck kritisieren und ein anderes Verständnis davon haben.[11] Dort heißt es: ,,Das Normalisierungsprinzip bedeutet, dass man richtig handelt, wenn man für alle Menschen mit Behinderung, Lebensmuster und alltägliche Lebensbedingungen schafft, welche den gewohnten Verhältnissen und Lebensumständen ihrer Gemeinschaft oder ihrer Kultur entsprechen oder ihnen so nahe wie möglich kommen“.[12] Die funktionalen Auswirkungen von Beeinträchtigung sind nach dem Konzept der ICF einfach beschreibbar und eventuell auch behebbar.

Kontextfaktoren stellen den gesamten Lebenshintergrund eines Menschen dar, die Umweltfaktoren (Förderfaktoren und Barrieren) und personenbezogene Faktoren. ,,Wenn es zu einer negativen Auswirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren, sowie auf ihre Teilhabe an einem oder mehreren Lebensbereichen kommt, liegt eine Behinderung vor.“[13] Die Komponenten der Kontextfaktoren bestehen aus Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren.

Umweltfaktoren sind Faktoren der materiellen, sozialen und einstellungsbezogenen Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten: z.B. Unterstützung und Beziehungen; Einstellungen (einschließlich Werte und Überzeugungen) in der Gesellschaft; Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze können als Förderfaktoren oder Barrieren für die funktionale Gesundheit wirken.[14]

Personenbezogene (persönliche) Faktoren beinhalten alle Einflussfaktoren, die mit der Person selbst, nicht aber direkt mit der Funktionsfähigkeit assoziiert sind. Dazu gehört der spezielle Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen. Diese Faktoren können Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Lebensstil, Bewältigungsstile, Erziehung, Beruf, Fitness, Art des Charakters, sozialer Hintergrund und weitere Merkmale umfassen. Nur Faktoren die nicht Teil des Gesundheitsproblems der Person sind, gehören zu den personenbezogenen Faktoren. In der ICF sind sie nicht klassifiziert, um den unterschiedlichen Lebensbedingungen gerecht zu werden.[15]

Durch die Einbeziehung der Kontextfaktoren in das Modell der funktionalen Gesundheit wird

sichtbar, welche Kontextfaktoren sich positiv (Förderfaktor) und welche sich negativ (Barrieren) auf die funktionale Gesundheit einer Person auswirken. So kann sich eine Person beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen noch waschen, aber sie braucht wesentlich länger Zeit oder vielleicht Assistenz. Das hat bisher der Partner (Förderfaktor) übernommen, so dass die Person funktional gesund ist, denn ihre Teilhabe ist gewährleistet.[16]

Um Funktionsfähigkeit und Behinderung zu erklären, wurden verschiedene Konzepte vorgeschlagen. Sie können in einer Dialektik von medizinischem und sozialem Modell beschrieben werden. Bei dem medizinischen Modell gilt das Interesse der Krankheit, die der medizinischen Versorgung bedarf. Die Behandlung zielt maßgeblich auf eine Heilung, einer Anpassung oder einer Verhaltensänderung ab, denn Behinderung wird als ein Problem in der Person gesehen. Bei dem sozialen Modell hingegen wird Behinderung hauptsächlich als ein vom gesellschaftlichen Umfeld verursachtes Problem gesehen. Das Konzept der ICF beruht auf einer Integration dieser beiden gegensätzlichen Modelle. Dies gelingt mit dem biopsychosozialen Ansatz. Daraus folgt, dass der Zustand der funktionalen Gesundheit einer Person betrachtet werden kann als das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren, auf ihre Körperfunktionen und -strukturen, ihre Aktivitäten und ihre Teilhabe an Lebensbereichen.[17]

Die ICF verfolgt einen biopsychosozialen Ansatz, der als Wechselwirkung zwischen den Einflussgrößen

- Körperfunktionen und -strukturen,
- Aktivitäten,
- Partizipation

wirksam wird, auf die wiederum die Komponenten Umweltfaktoren und personale Faktoren als Kontextfaktoren wirken.[18]

Man ist sich in der Fachwelt weitgehend einig, dass die ICF in der aktuellen Fassung Grenzen

zeigt, so dass zunächst Diskussions- und Forschungsbedarf besteht. Die aktuellen Funktionen und Grenzen können wie folgt zusammengefasst werden:

- Die ICF ist keine Klassifikation funktionaler Diagnosen, sondern mir ihr „können funktionale Befunde und Symptome angegeben werden“.[19]
- Die ICF kann nicht als Assessmentinstrument genutzt werden, da es noch keine standardisierten Instrumente zur Beurteilung der einzelnen Körperfunktionen/-strukturen, der Aktivitäten oder der Umweltfaktoren gibt. Mittels der Strategie der so genannten Core Sets soll dieses Ziel angestrebt werden, was jedoch in der wissenschaftlichen Diskussion unterschiedlich positiv beurteilt wird.[20]

Einigkeit besteht darin, dass es ein großer Verdienst der ICF ist, eine einheitliche Sprache bereit zu stellen, der eine „hohe kommunikative Bedeutung“[21] zugemessen wird. Die WHO will mit der ICF, so weit möglich, die funktionale Gesundheit für alle Gesundheitsprobleme abbilden können.

Ein Schwerpunkt der Anwendung liegt in dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF, das eine erweiterte Betrachtung von Krankheit bzw. Gesundheit ermöglicht. Mit diesem Modell wurde zwar ein bedeutender Paradigmenwechsel vollzogen, es wird aber beklagt, dass die theoretischen Grundlagen weitgehend unterentwickelt sind.[22] Ein zentrales Problem betrifft dabei den Begriff Teilhabe, denn diese kann im Grundsatz nur von der betroffenen Person beurteilt werden. Die Leistung/Leistungsfähigkeit, die im ICF als Maßstab für den Bereich der Aktivitäten und Teilhabe steht, hat einen objektiven Charakter und wird in der Regel von anderen beurteilt.

Diese zwei Konzepte passen nicht zusammen und eine theoretische Lösung ist hierbei momentan nicht in Sicht.[23] Die ICF stellt dennoch dem pathogenetisch ausgerichteten biomedizinischen Krankheitsmodell, in welchem die Abwesenheit von subindividuell lokalisierbarer Krankheit gleich Gesundheit ist, ihr Verständnis von funktionaler Gesundheit gegenüber, in denen der Mensch als selbst bestimmtes handelndes Subjekt in Gesellschaft und Umwelt gesehen wird.[24]

Für die WHO ist das ICF ein Instrument, welches dazu dienen soll, das Menschen mit Behinderungen ermächtigt statt ihrer Rechte beraubt und diskriminiert werden. Ein deutliches Ziel der ICF ist es daher, die Chancengleichheit von Menschen vor allem mit Behinderungen bzw. Funktionseinschränkungen zu erhöhen. Daher stellt die ICF ein geeignetes Instrument für die Umsetzung internationaler Aufträge bezüglich der erklärten Menschenrechte und für die nationale Gesetzgebung zur Verfügung.

Chancengleichheit, ­ also das Recht auf eine gerechte Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen und das Verbot von Diskriminierung, beispielsweise aufgrund des Geschlechtes, der Religion oder der Herkunft, wird in der Umsetzung des ICF nicht aufgenommen. In der Regel ist dort von Teilhabe am Leben und/oder von der Vermeidung von Benachteiligung die Rede, was einer Abschwächung des Konzepts der Chancengleichheit entspricht. Ein Beispiel dafür findet sich auch im SGB IX: „Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen ..., um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.“[25]

Chancengleichheit vollzieht sich immer in einem gesellschaftlichen System, daher ist es wichtig die ICF darin einzuordnen und auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu beachten. Es ist nicht verwunderlich, dass in der Behindertenbewegung teilweise eine Reserviertheit gegenüber der ICF vorhanden ist. Problematisiert wird ein „naives Maß-Nehmen am Maßstab störungsfreier Normalität“[26], was die ICF mit ihrem Begriff der ,,Funktionalen Gesundheit“[27] nahe legt und von Behindertenaktivisten kritisiert wird.

3.2 Die Psychische Störung

Ein zunehmender Teil der Bevölkerung leidet unter psychischen Störungen. Bei einem Teil davon besteht die Gefahr, chronisch zu erkranken und dadurch von dauerhaftem gesellschaftlichen Ausschluss bedroht zu sein. Mit chronisch psychisch kranken oder psychisch behinderten Menschen sind in der vorliegenden Arbeit die Menschen gemeint, die aufgrund psychischer Störungen längerfristig und schwerwiegend in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens beeinträchtigt sind und deshalb ganz massiv von Exklusion bedroht sind. Der Begriff der psychischen Störung hat heute in der Psychiatrie, der klinischen Psychologie und der Psychotherapie die älteren Begriffe der psychischen Krankheit oder psychischen Erkrankung abgelöst. Der Begriff psychische Störung wird vielfach als wertneutraler angesehen als die älteren Begriffe und berücksichtigt stärker, dass noch kein ausreichendes Wissen über die Ursachen und ihre Beseitigung besteht. Es existiert keine einheitliche Definition des Begriffes psychische Störung, da sich psychische Auffälligkeiten wie andere Störungsbilder auch durch eine Vielzahl von Merkmalen auszeichnen und es daher schwer fällt, die für die psychischen Störungen charakteristischen Merkmale von vornherein festzulegen. Manche Definitionsversuche sind daher sehr umfangreich in ihrem Bemühen, möglichst vielen Aspekten Rechnung zu tragen. Folgende Elemente sind für die Definition einer psychischen Störung von Bedeutung:

-Persönliches Leid
-Abweichung von Normen (statistisch, gesellschaftlich, individuell)
-Funktionseinschränkung und/oder Behinderung
-Selbst- oder Fremdgefährdung

In DSM-IV, dem diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen, wird jede psychische Störung als ein klinisch bedeutsames Verhaltensyndrom oder psychisches Muster aufgefasst, „das bei einer Person auftritt und das mit momentanem Leiden (z.B. einem schmerzhaften Symptom) oder einer Beeinträchtigung (z.B. Einschränkung in einem oder in mehreren wichtigen Funktionsbereichen) oder mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchtigung oder einen tief greifenden Verlust an Freiheit zu erleiden. Zusätzlich darf dieses Syndrom oder Muster nicht nur eine verständliche und kulturell sanktionierte Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis sein, wie z.B. den Tod eines geliebten Menschen. Unabhängig von dem ursprünglichen Auslöser muss gegenwärtig eine verhaltensmäßige, psychische oder biologische Funktionsstörung bei der Person zu beobachten sein. Weder Norm abweichendes Verhalten (z.B. politischer, religiöser oder sexueller Art) noch Konflikte des Einzelnen mit der Gesellschaft sind psychische Störungen, solange die Abweichung oder der Konflikt kein Symptom einer oben beschriebenen Funktionsstörung bei der betroffenen Person darstellt.“[28]

Die Beschreibung der psychischen Störungen und ihrer Symptome ist traditionell der Gegenstand der Psychopathologie, einer psychiatrischen Unterdisziplin. Noch vor wenigen Jahrzehnten stellte die Psychopathologie keine allgemein anerkannten Beschreibungen einzelner Störungsbilder bereit. Vielmehr existierten viele verschiedene Auffassungen darüber, welche Verhaltens- und Erlebensmuster beispielsweise eine Schizophrenie oder eine Depression darstellen. Daraus resultierten zahlreiche Nachteile. So herrschte eine mangelhafte Übereinstimmung von Psychiatern, ob bei einer Person eine psychische Störung vorliegt und welches sie genau ist. Es konnten zwei Psychiater zu sehr unterschiedlichen Diagnosen gelangen, die jede für sich durch die psychopathologische Forschung gestützt werden konnte. Die Weltgesundheitsorganisation und die American Psychiatric Association haben sich auch vor diesem Hintergrund bemüht, die Beschreibung einzelner Störungsbilder zu vereinheitlichen. Aus diesen Bemühungen entstanden die beiden großen, heute weltweit genutzten Klassifikationssysteme, das ICD-10 und das DSM-IV, in denen einzelne psychische Störungen anhand von Kriterien definiert und näher beschrieben werden.[29] Die beiden Klassifikationssysteme stellen den aktuellen Stand der psychiatrischen und klinisch-psychologischen Forschung dar. Ihre Definitionen und Beschreibungen sind Ergebnis eines Konsenses zwischen den führenden Experten auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie.

Eine Reihe psychischer Störungen sind nicht heilbar. Heilung setzt voraus, dass durch Behandlung die Ursache der Störung beseitigt wird. Eine Beseitigung kann zur Folge haben, dass der Gesundheitszustand, wie er vor dem Ausbruch der Erkrankung bestand, wiederhergestellt wird.[30] Die Situation, keine Heilung erzielen zu können, ist nicht auf das Gebiet psychischer Störungen begrenzt. Auch bei vielen nicht-psychischen Störungen ist Heilung nicht erreichbar (z.B. Diabetes mellitus; M. Parkinson; Migräne).

Die meisten psychischen Störungen sind aber therapierbar. Durch Therapie ist bei vielen psychischen Störungen eine Verminderung der Symptome bis zur „scheinbaren Heilung“ möglich, was als Remission bezeichnet wird. Eine Teilremission liegt vor, wenn der Gesundheitszustand wesentlich gebessert ist, aber trotzdem noch Symptome vorhanden sind oder gar von einer Vollremission, wenn keine Symptome mehr nachweisbar sind und sich der Patient gesund fühlt. Besteht eine psychische Störung länger als sechs Monate ist, zumindest in Deutschland, von einer seelischen Behinderung die Rede.[31] Bosshard / Ebert / Lazarus definieren psychische Behinderungen als individuelle Beeinträchtigungen, die mehrere psychische Funktions-, Verhaltens- und Leistungsbereiche umfassen und die voraussichtlich in einem Zeitraum von zwei Jahren nicht dem Regelbereich anzugleichen sind.[32]

3.3 Die Psychische Behinderung

Als behindert im Sinne des Gesetzes definiert das Sozialgesetzbuch IX Behinderung folgendermaßen: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“[33] In dieser Definition wurden wesentliche Aspekte des neuen Behinderungskonzeptes der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1998 aufgenommen. In diesem ressourcenorientierten Konzept gilt als funktional gesund,

- wenn der körperlich, geistige und seelische Gesundheitszustand allgemein anerkannten (statistischen) Normen entspricht (Schädigung/impairment)
- wenn ein Mensch alles tun kann, was von einem gesunden Menschen erwartet wird (Aktivität/activity)
- wenn ein potentieller Zugang zu allen Lebensbereichen besteht und in diesen Bereichen die gleichen Teilhabemöglichkeiten bestehen wie es von Menschen ohne Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes und ohne Beeinträchtigung der Aktivitäten erwartet wird (Teilhabe/participation)

Eine psychische Behinderung bedeutet eine Beeinträchtigung in allen drei Bereichen, d.h. dass zugleich eine Schädigung vorhanden ist, sowie die Aktivität eingeschränkt und die Teilhabe beeinträchtigt sind.[34] Chronisch psychisch kranke Menschen sind mehr als andere Menschen abhängig von einem unterstützenden sozialen Netzwerk. Ist das nicht gewährleistet sind professionelle Unterstützungsangebote nötig, um eine psychische Dekompensation und lange Klinikaufenthalte zu verhindern. Anders als körperliche Behinderungsarten ist die psychische oder seelische Behinderung nicht so klar zu definieren. Während Körperbehinderte durch Mobilitätseinschränkungen Schwierigkeiten im physischen Raum haben, fällt psychisch Behinderten vor allem die Anpassung im sozialen Umfeld schwer. Ihre Behinderung ist nicht sichtbar, aber für die Umwelt spürbar, nämlich durch Probleme im zwischenmenschlichen Bereich. Das Erleben und Handeln der Betroffenen ist durch Störungen der Wahrnehmung, des Fühlens, des Denkens, des Wollens und der Erlebnisverarbeitung verändert. Muster eines solchen ‚Anderssein’ finden sich in der einen oder anderen Form und in unterschiedlich starker Ausprägung bei jedem Menschen. Problematisch werden sie erst dann, wenn sie sich bis hin zu einem Krankheitsbild verfestigen. Die Grenzen zwischen ‚Normalität’ und psychischer Krankheit, deren Ursache oft auch unbekannt ist, sind daher fließend.

Psychische Behinderungen dürfen nicht mit einer geistigen Behinderung verwechselt werden, unter der vor allem intellektuelle Defizite oder Einschränkungen auf dem Hintergrund einer organischen Schädigung des Gehirns verstanden werden. Der Umfang psychischer Erkrankungen, die seit Jahren zunehmen, wird daran deutlich, dass sich allein in Deutschland jährlich 6 Mio. Menschen wegen psychischer Probleme in ärztliche Behandlung begeben. Stationär in Kliniken werden etwa 200.000 aufgenommen.[35] Zwei grundlegende Krankheitsformen sind zu unterscheiden: Neurosen und Psychosen.

Neurose ist ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche psychische Auffälligkeiten und Erkrankungen. Eine entscheidende Rolle bei Neurosen spielt dabei die Angst. Einerseits ist Angst ein wichtiges Signal beispielsweise bei Risiken und Gefahren. Andererseits kann übermäßige Angst die natürliche Entwicklung blockieren. Zu den wichtigsten Krankheitsbildern gehören bestimmte Zwänge, Phobien (Ängste), Depressionen, Abhängigkeit und Sucht.

Die schwerere Form der psychischen Erkrankung ist die Psychose, die den Oberbegriff einer Reihe von Krankheitsbildern wie Schizophrenie, endogene Depression und manisch-depressive Erkrankung bildet. Im akuten Stadium der Erkrankung sind die psychischen Funktionen (Denken, Fühlen, Handeln, Wahrnehmung, Orientierung) erheblich beeinträchtigt. Ein wesentliches Kennzeichen ist ihr phasenhafter Verlauf. Relativ gesunde Lebensabschnitte können abrupt oder schleichend durch Phasen akuter Krankheit unterbrochen werden.

Im Gegensatz zu Körperbehinderten, bei denen es zum Ausgleich ihrer Behinderung vor allem auf technische Arbeitshilfen ankommt, spielen persönliche Hilfen und eine überschaubare Arbeitsorganisation im Arbeitsleben psychisch Behinderter eine entscheidende Rolle. Beeinträchtigungen bestimmter Funktionen wie Antrieb, Konzentration, Belastbarkeit - auch als Folge einer medikamentösen Behandlung - kann durch klare und übersichtliche Gestaltung des zwischenmenschlichen Bereiches, der Verantwortlichkeit am Arbeitsplatz und der Arbeitsorganisation begegnet werden. Damit können insbesondere die Schwierigkeiten im Leistungs- und Kommunikationsbereich deutlich gemindert werden. Hierzu gehören vor allem Kenntnisse der Anforderungen am Arbeitsplatz und der Fähigkeiten des Betroffenen. Ein Schonklima kann sich ebenso schädlich auswirken wie eine Überforderung.

Nicht jede psychiatrische Erkrankung führt zu seelischer Behinderung und viele psychiatrisch erkrankte Menschen werden nicht in einer psychiatrischen Klinik behandelt.

Angelehnt an das Konzept der Weltgesundheitsorganisation werden 3 Wirkfaktoren unterschieden:

- Störungen einer oder mehrerer psychischer Funktionen eines Menschen, die direkt aus der Erkrankung resultieren - also andauernde psychiatrische Symptome. Gestört können zum Beispiel sein: Antrieb, Aufmerksamkeit, Kontrolle des Denkens, emotionale Stabilität, Merkfähigkeit, Motivation, Orientierung, Wahrnehmung.
- Behinderungen, die auf die persönlichen Bewältigungsstrategien der Erkrankung zurückgehen - also die Art und das Ausmaß einer zielgerichteten Aktivität einer Person. So können Selbstversorgung, die Kommunikation mit Anderen, Ausbildungs- oder Arbeitsanforderungen, das sich im öffentlichen Raum bewegen, gestört sein.
- Behinderungen, die aus den sozialen Benachteiligungen bestehen - also die Folgen der Störung von Beziehungen mit der Umwelt (gesellschaftlicher Partizipation) und die sich aufhäufenden Unterversorgungslagen (z.B. Verlust von Arbeit, Vermögen und sozialen Kontakten durch die lange Erkrankung ).[36]

Dies sind wechselseitig, sich beeinflussende Prozesse.

Es gibt infolgedessen drei mögliche Gruppen von Menschen mit einer psychischen Behinderung:

- die ‚alten Langzeitpatienten’ oder ‚Heimbewohner’, also diejenigen, die bereits sehr lange in psychiatrischen Krankenhäusern oder in Dauerwohn- oder Pflegeheimen leben und dort alt geworden sind
- die ‚neuen Langzeitpatienten’ die gegenwärtig von Aufnahmestationen oder sozialpsychiatrischen Diensten mangels Alternativen in Wohn- oder Pflegeheime verlegt werden. Sie sind die ‚alten Langzeitpatienten’ der Zukunft. Wie klein diese Gruppe ist und wie langsam sie wächst ist ein wichtiges Merkmal der Güte von regionaler psychiatrischer Versorgung.
- die ‚neuen Dauerklienten’ - diese Menschen können nicht Langzeitpatienten genannt werden, weil sie nicht oder nur sehr kurzfristig in Kliniken versorgt werden. Üblicherweise sind sie in Aufnahmestationen, Tageskliniken, Übergangsheimen, Rehabilitationseinsrichtungen, Betreutem Wohnen oder in der Familie zu finden und wechseln auch zwischen diesen Orten.[37]

Diese drei Gruppen haben ähnliche und unterscheidbare Muster von Integrationsproblemen. Jeweils individuell sind andauernde Beeinträchtigungen durch psychiatrische Symptome und Funktionseinbußen in den Lebensfeldern Selbstsorge/Wohnen, Arbeit/Tätigsein, sowie bei Sozialkontakten und der Teilhabe an gesellschaftlichem Leben vorhanden. Auffällig in allen Gruppen sind die hohe soziale Isolation, die hohe Arbeitslosigkeit und der Mangel an tragfähigen oder noch belastungsfähigen Beziehungen im engeren Lebenskreis.

4. Gesetzliche Regelungen für Menschen mit Behinderungen

4.1 Das Gleichheitsprinzip Behinderter

4.1.1 Der Begriff der Teilhabe

Teilhabe ist die deutsche Übersetzung des international gebräuchlichen Begriffs der Partizipation. Etymologisch zurückzuführen ist das lateinische participatio und das englische sowie französische participation auf die lateinischen Wörter pars (Teil) und cipere (nehmen). Vor diesem Hintergrund kann der Begriff Teilhabe auch mit Teilnahme, sowie Partizipation übersetzt werden. Allerdings hat allein der Begriff Teilhabe eine doppelte Bedeutung. Zum einen kann jemand an etwas teilnehmen, zum anderen hat er von etwas einen Teil. Partizipation kann als eine universelle Kategorie aufgefasst werden, Teilhabe ist hingegen eine Kategorie des Verhältnisses, der Zuteilung und der Zugehörigkeit und somit eine erkenntnistheoretische Kategorie und kann als rechtlicher, politischer und sozialer Begriff für die Verbindung des einzelnen Menschen zur Herrschaft, zum Staat und zur Verteilung ideeller und materieller Güter verwendet werden.[38]

Für Platon stellte die Teilhabe (metexis) das Verhältnis der Dinge zu ihren Ideen und der Ideen zueinander dar. Aristoteles hingegen verwendete ihn politisch wie auch logisch. Zum einen war der Bürger der Teilhaber an der Rechtssprechung und Herrschaft, und zum anderen sah Platon das Individuum allein als Teilhaber an der Art, so am Menschsein. Thomas von Aquin ging von der Partizipation als Teilhabe in der Form einer eigenen Erkenntniskraft der Vernunft aus. Diesen Ansatz unterstrich Emmanuel Kant mit seiner Einordnung der individuellen Vernunft in die Fähigkeit der Menschheit zum Vernunftgebrauch, aus dem schließlich auch die Erkenntnis der sozialen Einbindung von Selbstbestimmung, wie auch der Gedanke der Gleichheit folgte. In der politischen und philosophischen Diskussion des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff der Teilhabe zunächst kaum noch benutzt. Es gab andere Begriffe, wie Brüderlichkeit oder auch Menschheit, welche im ähnlichen Sinne verwendet wurden. Erst Hegel beschäftigte sich eingehender mit dem Begriff und sah in der Möglichkeit der Teilnahme das besondere Vermögen der einzelnen Menschen, Teil an dem allgemeinen Vermögen zu haben und setzte außerdem diese Teilnahme besonders in das Verhältnis zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung.[39] Angesichts dieser sozialen Ungleichheit, verstanden als konstitutives Moment der bürgerlichen Gesellschaft, müsse es, so Hegel, zur Aufgabe des Staates gehören, das erforderliche Maß an Gleichheit zu besorgen. Dies beschreibe das Grundproblem der modernen Gesellschaft und Rechtsordnung: Es existiere eine abstrakte Gleichheit der Freiheiten allerdings bei einer ungleichen Teilhabe am Vermögen.[40] Hegel war der erste, der eine begriffliche Unterscheidung zwischen Staat, Bürgerlicher Gesellschaft und Familie einführte und damit den Grundstein einer Theorie funktionaler Differenzierung moderner Gesellschaften damit legte. Diese Theorie wurde insbesondere durch Talcott Parsons und Niklas Luhmann zu einer der bedeutendsten Paradigmen moderner Gesellschaftstheorien. Ihre Ansätze, besonders Luhmanns ´Allgemeine Systemtheorie` und das Konzept der ´Autopoiesis`, sowie seine ´Theorie sozialer Systeme` zu beschreiben ist in dem Umfang dieser Arbeit nicht möglich.[41]

[...]


[1] http://www.bundestag.de/dokumente/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01.html

[2] Pressemitteilung der Bayerischen Staatsregierung vom 18.09.2008 in http://www.bayern.de/Pressemitteilungen-.1255.6440969/index.htm, (28.12.2009)

[3] Mayer, K.C. in: http://www.neuro24.de/vorurt.htm

[4] Angermayer, M. C.; Holzinger, A.: „Erlebt die Psychiatrie zurzeit einen Boom der Stigmaforschung?“ Psychiatrische Praxis 205, S.401

[5] Richter, D.: Psychisches System und soziale Umwelt: Soziologie psychischer Störungen in der Ära der Biowissenschaften. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2003 In: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=46718

[6] Meyer, A.: Kodieren mit der ICF: Klassifizieren oder Abklassifizieren?, Memmingen 2004, S.64f.

[7] Schuntermann, M.F.: Einführung in die ICF. Grundkurs, Übungen, offene Fragen. Landsberg/Lech 2005, S.9

[8] Oberholzer, D.: Das Konzept der Funktionalen Gesundheit, Grundlagen und Anwendung in der Praxis, Institut für Professionsforschung und kooperative Wissensbildung, 2009 in http://www.insos.ch/de/dok/Praesentation_Grundlagen_und_Anwendung_Oberholzer.pdf

[9] Schuntermann, M.F.: „Einführung in die ICF. Grundkurs, Übungen, offene Fragen.“ Landsberg/Lech 2005, S.9

[10] Wacker, E.: „Budgets für Menschen mit Behinderungen ­ Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven.“, München 2005, S.6

[11] Puschke, M.: „Die Internationale Klassifikation von Behinderung der Weltgesundheitsorganisation.“ In: Weiber Zeit 7/2005, Zeitung des Projektes ,,Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“ des Weibernetz e.V. http://weibernetz.de

[12] Sindermann, L.: „Spezielle Aussagen zur Gesundheitsreform“, 2003 in:

http://www.lutzsindermann.de/navigation/Arbeit/navigation/Eckpunkte/06Integration.html

[13] Rahn, E; Mahnkopf, A: „Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf“, Bonn 2005, S.84

[14] Weltgesundheitsorganisation (ICF). Workshop des Diakonisches Werkes, Berlin 2005, S.17

[15] Ebd, S.22

[16] Schuntermann, M.F.: Einführung in die ICF. Grundkurs, Übungen, offene Fragen. Landsberg/Lech 2005, S.24

[17] Ebd, S.27

[18] Biermann, A.; Goetze, H.: Sonderpädagogik, Eine Einführung, Stuttgart 2005, S.18

[19] Schuntermann, M.F.: Einführung in die ICF. Grundkurs, Übungen, offene Fragen. Landsberg/Lech 2005, S.13

[20] Bartmann, P. et al.: Funktionale Gesundheit. Gesundheit und Behinderung im neuen Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (ICF). Workshop des Diakonisches Werkes, Berlin 2005, S.11

[21] Schliehe, F.: Tätigkeitsbericht 2005 der Arbeitsgruppe ICF der DGRW ­ Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften. http://www.uke.uni-hamburg.de/extern/dgrw/index.htm

[22] Ebd.

[23] Schuntermann, M.F.: ICF: Allgemeine Informationen. In: DRV ­ Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 4. ICF-Anwenderkonferenz am 15. März 2006 an der Universität Bayreuth. In: http://www.deutscherrentenversicherungbund.de/nn_7130/SharedDocs/de/Inhalt/Zielgruppen/01_sozialmedizin_forschung/04_klassifikationen/dateianh_C3_A4nge/icf_dokumentation_anwenderkonferz.html

[24] Schliehe, F.: Tätigkeitsbericht 2005 der Arbeitsgruppe ICF der DGRW ­ Deutsche Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften. http://www.uke.uni-hamburg.de/extern/dgrw/index.htm

[25] http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbix/1.html

[26] Bartmann, P. et al.: Funktionale Gesundheit. Gesundheit und Behinderung im neuen Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (ICF). Workshop des Diakonisches Werkes, Berlin 2005, S. 9

[27] Wehrli, P.: ICF ­ Brauchen wir Betroffene das? In: SozialAktuell April 2006

[28] Saß, H./Wittchen, H.-U./Zaudig. M.: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, DSM IV-TR, Textrevision, 2003, S.979

[29] ICD-10, International Classification of Diseases, 10.Revision von 1993 der Weltgesundheitsorganisation WHO, Die psychischen Störungen sind in Kapitel V (F) zu finden. In Deutschland ist dieses System seit 1998 rechtlich weitgehend verbindlich.

DSM-IV Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4.Revision, 1994, deutsch 1996; Textrevision DSM-IV-TR 2000, deutsch 2003 wurde von der American Psychiatric Association herausgebracht und enthält Beschreibungen, statistische Angaben und Kriterien für 395 Störungen. Aufgrund seiner genaueren Definitionen der einzelnen Störungen wird dieses System im Psychologie-Studium an den deutschen Universitäten der ICD vorgezogen.

[30] Walter, O. In: http://www.verhaltenswissenschaft.de/Psychologie/Psychische_Storungen/psychische_storungen.htm

[31] Schlichte, G.. Betreutes Wohnen - Hilfen zur Alltagsbewältigung, Bonn 2006, S.25

[32] Bosshard, M. / Ebert, U./ Lazarus, H.: Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie, Lehrbuch, Bonn 2001, S.31

[33] SGB IX, §2, Abs. 1, Gesetze für Sozialwesen 2004

[34] Schlichte, G.: Betreutes Wohnen - Hilfen zur Alltagsbewältigung, Bonn 2006, S.25/26

[35] Gromann, P.: Eine Einführung zum Konzept psychischer Behinderung und psychiatrischer Rehabilitation – Zusammenfassung und Bearbeitung eines Textes von G. Shepherd, Fulda 2002, S.1

[36] Gromann, P.: Eine Einführung zum Konzept psychischer Behinderung und psychiatrischer Rehabilitation – Zusammenfassung und Bearbeitung eines Textes von G. Shepherd, Fulda 2002, S.1

[37] Ebd.:S.4

[38] Welti, Felix: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen, Tübingen 2005, S. 535

[39] Welti, Felix: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Freiheit, Gleichheit und Teilhabe behinderter Menschen, Tübingen 2005, S. 536

[40] Kaufmann, F.-X.: Sozialpolitik zwischen Gemeinwohl und Solidarität, In: Münkler/Fischer (Hg.) (2002) S. 536

[41] Weiterführende Literatur u. a. Kneer, G.; Nassehi, A. (2000), sowie: Wansing, G. (2004)

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Diskriminierung psychisch Behinderter durch Exklusion am Beispiel des Sportschießens
Hochschule
Hochschule Koblenz (ehem. FH Koblenz)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
74
Katalognummer
V153865
ISBN (eBook)
9783640662258
ISBN (Buch)
9783640662609
Dateigröße
936 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Diskriminierung, Behinderter, Exklusion, Beispiel, Sportschießens
Arbeit zitieren
Burkhard Schröter (Autor:in), 2010, Diskriminierung psychisch Behinderter durch Exklusion am Beispiel des Sportschießens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/153865

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