L'Esprit essentiel

Vorbilder für die französische Moralistik


Essay, 2010

96 Seiten


Leseprobe


Inhalt

0. Essayistische Einleitung zur Frage „Was ist Moralistik?“

1. Griechische Antike
1.1 Theophrast
1.2 Aristoteles
1.3 Menander

2. Römische Antike
2.1 Horaz
2.2 Cicero
2.3 Seneca
2.4 Sallust

3. Wegbereiter der französischen Moralistik
3.1 Michel de Montaigne
3.2 Francis Bacon
3.3 Baltasar Gracián
3.4 William Shakespeare

4. Französische Moralistik
4.1 La Rochefoucauld
4.2 La Bruyère
4.3 Vauvenargues
4.4 Nicolas Chamfort

Literaturverzeichnis

0. Essayistische Einleitung zur Frage „Was ist Moralistik?“

Omnis enim, quae ratione suscipitur de aliqua re institutio, debet a definitione proficisci, ut intellegatur, quid sit id, de quo disputetur. Cicero

Allzuoft wurde ich, nachdem ich den Plan gefaßt hatte, eine Arbeit über dieses Thema zu verfassen, gefragt, was denn Moralistik überhaupt sei. Ich weiß nicht, welche Vorstellung sich darüber in den Köpfen der Fragenden entwickelte, meine jedoch ist eine schier grenzenlose. Es gab zu viel, als daß ich mit einem Beispiel hätte antworten können. Grenzenlos schien es mir anfangs, da man in fast jedem Text etwas Moralistisches, bzw. etwas Ermahnendes finden kann. Aber ist das Moralistik? In Deutschland ist wohl der erhobene Zeigefinger das Symbol schlechthin für Ermahnung. Da unsere Nation nun für dieses Symbol bekannt ist, begann ich, einige Ausgaben der Moralisten – vor allem der französischen – sowohl in deutscher Übersetzung als auch in Originalsprache zu suchen. Die Auswahl war bescheiden: Eine deutsche Ausgabe der „Caractères“ und im modernen Antiquariat ein relativ dickes Buch, das verschiedene französische Moralisten, die es auch im Titel trägt, in deutscher Auswahl enthält. Selbst als ich nach Knigge fragte, wurde mir die Gegenfrage gestellt, ob ich denn einen für ein Geschäftsessen oder für eine Konferenz wolle.

Fast verwirrt ging ich nach Hause und fragte mich, was denn aus all den Namen wurde, die man schon sooft als zentrale Personen gehört hatte: LaRochefoucauld, Chamfort, Vauvernargue, Hazlitt, usw.

„Über den Umgang mit Menschen“ ließ sich noch am einfachsten beschaffen, und ich mußte feststellen, daß der erhobene Zeigefinger mehrmals auf einer Seite vorhanden war: das Ausrufezeichen, das schon sehr dem Zeigefinger ähnelt, wie Adorno feststellte.

Als ich mir die französischen Moralisten letzten Endes teilweise in Frankreich bestellte, mußte ich sehen, daß sie gar nicht so moralisch sind, wie man es scheinbar von der deutschen Lebensart kennt, was man bei Knigge manchmal auch bestätigt zu finden glaubt. Hier nun wurde mir bewußt, daß das Moralische und Moralisierende keineswegs etwas mit der Moralistik in ihrer Vorgehensweise zu tun haben.

Als ich La Bruyère aufschlug, fühlte ich mich nicht bevormundet oder ermahnt, sondern eher erfrischt und erfreut. Nachdem ich das Buch über die Charaktere nach der xten Lektüre wieder einmal beiseite legte, fragte ich mich, woher die Frische und Kurzweile kommen, die sich bei jedem der französischen Moralisten in so unterschiedlicher Art und Weise finden lassen, wie es Autoren gibt.

Hier, im Gegensatz zu unserem deutschen Beispiel, fehlt das Ausrufezeichen fast gänzlich. Kein erhobener Zeigefinger wartet am Anfang oder Ende einer Seite, in der Mitte einer Zeile oder gar am Schluß einer einsätzigen Beitrags auf den Leser, um ihm zu sagen, wie er etwas anders hätte machen können und wie er es in Zukunft anders machen soll. Anders als beim Ausrufezeichen lege ich den Text nicht zur Seite und bin mir auch für einen kurzen Moment nicht bewußt, welch regelloser Mensch ich doch bin, da allerlei Regeln auf mich kamen, die ich zuvor nie beachtet hatte, sondern lese den oftmals zwei- bis dreisätzigen Absatz und – muß ihn erneut lesen. Kann das denn wahr sein, was ich dort lese? Wenn es wahr ist, trifft es immer zu? Fällt mir vielleicht doch ein Gegenbeispiel ein? Verhält sich das Beschriebene auch in unserer heutigen Zeit noch so? Woher kommt mir das alles bekannt vor? Ist das nicht letztens einem Nachbarn, einem Verwandten oder sogar mir selbst so, und wenn nicht so, dann ähnlich, passiert? War alles schon einmal da? Ändern sich die Menschen nie?

Diese teilweise 350 Jahre alten Texte haben Aktualität. Manch einer könnte sich über das Umfeld, also über die „Szene“ beschweren, da sie ihm veraltet scheint, aber ist das denn die Hauptsache? Wenn er weiter liest, wird er merken, daß sich die „Szene“ permanent ändert oder auch gar nicht vorhanden ist und sie nur anhand der Wortwahl abgelesen werden kann. Was aber immer wieder auftaucht, ist der Mensch. Der Mensch in allen Lebenslagen und Situationen, ja, teilweise sogar der Leser selbst als angesprochenes Du.

Die Sprache, in der mir all das meist dargeboten wird, ist eine ironische, zynische und manchmal auch sarkastische. Auch wird sie nicht von Imperativen dominiert. Obwohl die Ironie ein Mittel ist, das sich meist sehr schwierig verschriftlichen läßt – im Dialog löst man es oft durch die erhobene, teils zu lachen scheinende Stimme aus –, wird es hier immer wieder geschafft, die Ironie im Text durchschimmern zu lassen. Schaut man sich die Sprache an, die mit so einfachen Mitteln arbeitet und schlicht angelegt ist, und fragt sich, wie diese Ironie oder dieser Zynismus möglich ist, scheint man vor einem Rätsel zu stehen. Aber oft ist die einfachste Sprache auch die wirkungsvollste.

Eines der wichtigsten Stilmittel, dessen sich diese einfache Sprache bedient, ist die Hyperbel. Die französischen Moralisten übertreiben gern, nicht in diesem Sinne, wie man es für gewöhnlich kennt, daß sie von tausend Menschen sprechen oder gar von einer ganzen Stadt, wenn sie nur viele meinen, sondern im Sinne einer Karikatur. Die verschiedenen Gestalten – und die Spannbreite ihrer Eigenschaften reicht von Übervorsicht bis hin zu Geiz und Gier – werden bis zur Kenntlichkeit entstellt. Ich meine, daß dieses Mittel so wunderbar funktioniert und vom Leser gut aufgenommen wird, liegt daran, daß wir, die Leser, auch ständig in unseren Gedanken und alltäglichen Gesprächen übertreiben, meist aber nur beiläufig und längst ncht so pointiert, wie es bei den Moralisten geschieht. Wie oft denken wir denn, wenn wir zum Beispiel bei Tisch einen ziemlich gierigen Menschen sehen: „Es fehlt noch ein bißchen, dann geht er sofort mit der Gabel in den Topf.“? Oder wie oft sagen wir in derselben Situation zu unserem Tischnachbarn: „Gleich steckt er den Kopf in die Schüssel.“? In unserem Leben werden diese Aussprüche fast nie real, bei den Moralisten ist dies die Realität. Dort hängt der Gierige möglicherweise mit dem Kopf in der Schüssel, während seine rechte Hand mit der Gabel nach weiteren Kartoffeln sucht.

Wie diese Schilderung schon erkennen läßt, handelt es sich u.a. um Portraits. Hier haben wir die erste Form dieser Texte. Diese Portraits bilden mit wenigen Seiten Umfang wohl die längste Form der ohnehin sehr kurzen Texte. Belebt und ausgeschmückt wurde diese Gattung in der Moralistik hauptsächlich durch La Bruyère in seinen „Caractères“, als deren Vorbild er die „Charaktere“ des Theophrast nimmt. Das Portrait ist also keine moralistische Entwicklung, auch das ironische Portrait nicht, jedoch ist wörtlich zu nehmen, was ich zu Beginn des letzten Satzes sagte: Er belebte sie. Wenn Theophrast Portraits schreibt, beschreibt er die verschiedenen Eigenschaften der Charaktere. Es sind eigentlich wahre Portraits, wahre Bildnisse. Diese Charaktere stehen wie antike Statuen bewundernswürdig vor uns, La Bruyère jedoch scheint einen Film über sie zu machen. Er lernt den Bildern das Laufen. Er zeichnet die Charaktere nicht mehr, sondern setzt die Menschen, denen sie innewohnen, in Handlungen und damit in Bewegung. Mißgeschicke werden nicht mehr als Beispiel statuiert, sondern durchgeführt. Der einzelne Charakter ist nicht mehr eine Person, deren Eigenschaft es ist, dies und das zu vergessen oder sich in einer bestimmten Art zu verhalten, sondern er tut es. Wir sehen einen kleinen Ausschnitt aus seinem Leben, zum Bespiel die morgendliche Toilette, bzw. Ankleiden und den Gang zur Straße.

Eine weitere Form, die wir finden, ist der Essay. Es handelt sich nicht um lange Essays, die ein philosophisches Thema haben, sondern eine Situation. Im Gegensatz zum Portrait steht hier nicht mehr der Charakter, der diverse Situationen erlebt, als einzelner im Vordergrund, sondern die Situation selbst, an der auch verschiedene Menschen beteiligt sein können. Die konkrete Unterscheidung fällt hier schwer, da sich in der Praxis oft nicht unterscheiden läßt, ob es nun um den oder die Charaktere geht oder um die Situation selbst. Aber ist diese Unterscheidung bei jedem einzelnen Text wichtig?

Wichtig ist der Essay als Form, der in seiner freien Gestalt Fragen aufwirft, die er überhaupt nicht stellt und auch nicht beantworten muß. Der Essay ist, wie sein Name schon sagt, ein Versuch, sich Themen unterschiedlichster Art zu nähern. Er hat nicht den Anspruch, diese Themen, bzw. das zentrale Thema vollständig zu erläutern, sondern regt den Leser zum Nachdenken an. Daher wurde diese literarische Form lange nicht angemessen beachtet, da sie nicht wissenschaftlich genug schien und sich auf der anderen Seite auch nicht exakt literarisch verorten läßt, da er, wie gesagt, keinem strengen Schema folgt. Genausowenig folgt sein Thema einem strengen Ablauf. Würde es das tun, läge ein Traktat vor. Der Traktat ist das Gegenteil des Essays, er beschäftigt sich mit einem Thema, das er dem Leser zu erklären versucht. Bewußt benutze ich auch hier das Verb „versuchen“, denn ein Traktat kann auch nur so gelehrt sein wie sein Verfasser, bzw. auch wie sein Leser, der sich gegebenenfalls interpretatorisch mit dem Thema auseinandersetzt und somit den Text bereichern kann, was sich nun aber zu weit von der literarischen Form entfernt und eher ein Thema der Hermeneutik darstellt.

Der Unterschied zwischen Traktat und Essay läßt sich womöglich am besten durch deren Absicht darstellen. Der Essay hat im Gegensatz zum Traktat niemals die Absicht zu belehren, er will von vornherein den Leser zur eigenen Reflexion anregen, anstatt ihm eine Wahrheit zu verkünden.

Oben erwähnten wir die Handlung, die den Texten der französischen Moralisten zugrunde liegt. Daran können wir auch sehen, wie gut die Form des Essays zum Inhalt paßt. Die Handlung schildert einen Ablauf von Ereignissen, die den Leser zum Nachdenken anregen; der Inhalt besteht nicht darin, den Leser zu ermahnen und zu bevormunden. Da der Essay auch nicht belehren mag, gehen in dieser Art der Moralistik Form und Inhalt einher. Es ist auch keineswegs so – um das Argument sofort zu entkräften –, daß sich der Essay durch die französische Moralistik entwickelte und somit die aus dem Schreibstil entstandene Form sei. Der Essay findet seinen Ursprung bei Michel de Montaigne, den keiner gänzlich als Moralisten einstufen würde. Zwar befaßt er sich mit menschlichen Themen – man bedenke nur die Rolle des Ichs in seinen Texten –, tut dies aber eher auf gedanklicher Ebene, wobei die Moralisten praktische, alltägliche Situationen anführen. Bei ihm geht es weniger um das Zusammenspiel von Mensch und Mensch wie in der Moralistik, sondern um das Ich und das Außen.

Eben haben wir uns die beliebtesten Langformen der Moralistik angeschaut, nun die Kurzform. Wie der Essays dem ebenfalls längerem Traktat gegenübersteht, so gibt es auch in der Kurzform einen Gegensatz: Aphorismus und Sprichwort. Den Aphorismus, der immer mehr zum Sammelbegriff für jeden kurzen Ausspruch wurde, egal, ob es sich um ein Apercu, eine Reflexion oder eine Maxime handelt, könnte man als kurzes Pendant zum Essay verstehen. So das Sprichwort als Pendant zum Traktat, denn es will, wie der Traktat, seinen Hörer belehren und hat den Anspruch eine Wahrheit zu verkünden. Ob es nun eine ist, ist ein anderes Thema. Im Gegensatz zum Traktat ist der Verfasser unbekannt, da sich das Sprichwort meist volkstümlich entwickelt. Kurz und prägnant behandelt es einen Aspekt eines Themas. Oft ist die Form, damit es wohl einfacher zu merken ist, gereimt. Der Aphorismus ist nicht gereimt, sein Reiz liegt sowohl in einer ebenso knappen und prägnanten Form als auch in einer treffend gesetzten Pointe, was es auch schwierig macht, den Aphorismus angemessen zu übersetzen. Die Pointe des Aphorismus kann sogar absichtlich eine Unwahrheit thematisieren und hervorheben, um eben, wie der Essay die Frage gebraucht, den Leser zum eigenen Denken zu bewegen. Es liegt auf der Hand, warum der knappe Aphorismus keine expliziten Fragen aufwerfen kann.

Der Name des Aphorismus leitet sich vom griechischen Verb ἀφορίζειν ab, was „abgrenzen“, „trennen“ und „aussondern“ bedeutet. Diese Beispiele sollten genügen, um die dem Wort eigene Bedeutung darzustellen. Schon die griechische Vorsilbe α macht deutlich, daß etwas von etwas anderem getrennt wird, bzw. sich selbst distanziert, wie es in der medialen Bedeutung des Verbs möglich ist. Der ursprüngliche Aphorismus war wohl ein medizinischer, da die Studenten gezwungen waren – sie konnten schließlich nicht Wort für Wort mitschreiben –, prägnant und pointiert zu formulieren, ähnlich unseren Stichworten. Sie haben also das Essentielle vom Unwesentlichen getrennt, das Wesentliche ausgesondert und aufbewahrt. Bis hin zur französischen Klassik entwickelt sich der Aphorismus immer mehr zu einer literarischen Erscheinung. Er will also über ein essentielles Thema zum Denken anregen, von Unwichtigem berichtet er gar nicht. Da sich der literarische Aphorismus meist mit dem menschlichen Leben selbst oder der Philosophie beschäftigt, scheint er im doppelten Sinn „aphoristisch“. Nicht nur bringt er Wichtiges auf den Punkt, oder besser gesagt, auf einen Punkt, sondern ist auch von der Zeit, in der er geschrieben wurde, in besonderer Weise getrennt. Wegen seines Themas, was meist der Mensch selbst ist oder von menschlichen Verhältnissen handelt, ist er auch von seiner Zeit getrennt. Es gibt wenig oder fast gar keine Punkte, die den Aphorismus der französischen Klassik oder Aufklärung fest an seine Zeit binden, sodaß der heutige Leser völlig entfremdet wäre und sich nicht darin erkennen könnte.

Selbstverständlich würde dieses Argument auch auf das Portrait oder den Essay zutreffen, jedoch besteht bei diesen beiden Formen eine größere Möglichkeit, sich in ihrer Zeit zu verlieren. Indem das Portrait, wie oben schon gesagt, nunmehr laufen lernte und wir uns meist in einer Handlung wiederfinden, wird auch etwas benötigt, das den Rahmen der Handlung schafft. Jeder Schriftsteller, sofern er weder historische Texte noch Utopien schreibt, wird auf seine Zeit als Rahmen zurückgreifen. Dieser Rahmen ist z. B. im Falle La Bruyères die französische, besser gesagt die Pariser Gesellschaft zur Zeit der Klassik. Nun könnte ein Gegner einwerfen, daß uns die Texte heute nicht mehr interessierten, da schon ihr Rahmen veraltet sei, und wie könnte da der Rest der Handlung für unsere heutige Zeit noch zutreffen. Schließlich gebe es ja sogar für die Figuren einen Schlüssel, der erläutert, um welche Personen es sich damals handelte.

Unser Gegner mag nicht Unrecht haben, insofern ich schon seinen eingeschränkten Blickwinkel billige. Er klammert sich an den einzelnen Charakter, seine größte Erfüllung findet er darin, zu erfahren, wer nun die von La Bruyère beschriebene Person ist. Hat er es nun endlich erfahren, weiß er nichts damit anzufangen und macht sich auf die Suche nach der realen Person, die er manchmal noch nicht einmal in einem Lexikon finden kann. Wenn er also bei den „Charakteren“ nur von einer Beschreibung der Zeitgenossen La Bruyères ausgeht, wird er auch jeden anderen Moralisten, besonders wohl die Aphoristiker, auf ihre Zeit beschränken. Dann werden in seinen Augen schnell aus den zeitlosen Aphorismen Anweisungen für Zeitgenossen. Wenn er nur so vorgeht, ist die gesamte Moralistik für ihn wertlos, geradezu überflüssig, denn er hat keinen Berührungspunkt mit dem Text, der vor ihm liegt. Für ihn sind es kurze Texte über Menschen, die schon lange tot und größtenteils vergessen sind. Er kann oder will sich darin nicht erkennen, was auch immer mit, wenn auch nur kleinen, Eingeständnissen verbunden ist.

Genau diese Eingeständnisse sind ein weiterer wichtiger, vielleicht der wichtigste Aspekt bei der Moralistik. Es läßt sich also sagen, daß die Moralistik durch das Interagieren zwischen Autor, bzw. Text und Leser zustande kommt. Die Formen eines Texts lassen sich fast immer bestimmen, falls das überhaupt wichtig ist. Die Inhalte hingegen lassen sich schon schwieriger festlegen. Wenn eine Person eine andere, anwesende oder abwesende, reale oder irreale liebt und die Form eines Gedichts für den Ausdruck ihrer Gefühle wählt, sprechen wir von Liebeslyrik. Ähnlich verhält es sich bei Dinggedichten, Tragödien, Komödien uvm. Hier steht schon der Inhalt mit der Form in Verbindung. Ein Text, der sich mit Liebe befaßt, muß keine Lyrik sein, und Lyrik muß sich nicht mit Liebe befassen. Kommt jedoch beides zusammen, nennen wir es Liebeslyrik. Was ist es nun aber, was Moralistik ausmacht, da wir gesehen haben, daß sie sich vieler Formen bedient?

Die Bereitschaft des Lesers, sich selbst zu erkennen, ferner die Interaktion zwischen Leser und Autor durch den Text machen die Moralistik aus. Der historische Text, wie man die moralistischen Texte auch lesen könnte – gleich, ob es sich dabei um einen Text von La Bruyère handelt, dem mittlerweile ein sogenannter Schlüssel beigegeben wird, um Aphorismen von Chamfort oder um Maximen von La Rochefoucauld, denn der Leser kann jeden Text dieser und anderer Moralisten auf die Zeit beziehen, in der sie geschrieben wurden –, ist nicht moralistisch. Sicherlich kam mancher Leser aus der Geschichte im besten Fall etwas lernen, aber ist deshalb der historische Text moralistisch? Spielt dabei die Bereitschaft des Lesers, persönlich und individuell zu sein, eine so große Rolle?

Die Identifikation des Zuschauers mit dem Protagonisten ist doch schon ein altes Prinzip. Wenn ich den Abstieg eines Jünglings in einer griechischen Tragödie wahrnehme – der Aufstieg ist in den meisten Fällen nicht zu sehen, bzw. war schon durch Geburt des Jünglings in eine adelige Familie gegeben –, kann ich dann nicht einen Teil von mir darin erkennen? Das alte Publikum schaute dennoch interessiert zu, obwohl es sich nicht mehr mit dem fallenden Jüngling identifizieren konnten. Es wußte, daß der Held tief fallen wird, womöglich waren sie froh darüber, daß es den meisten in ihrem Leben bisher nicht so ergangen war. Aber egal, zu welcher Spekulation wir kommen, die Identifikation mit dem Helden und die Differenzierung vom ihm spielten immer eine große Rolle. Ein persönlicher Gewinn, hier vielleicht die Freude, sich zu unterscheiden, oder ein Zittern aus persönlichen Gründen, womöglich die Angst, sich in einer ähnlichen Lage zu sehen, können nur durch eine einsichtige Bereitschaft zu sich selbst entstehen. In der Antike schien diese Bereitschaft beim Publikum selbstverständlich gewesen zu sein, sonst hätte sie Aristoteles in seiner „Poetik“ nicht als Standart für die Tragödie definiert. Was er über die Komödie schrieb, wissen wir leider nicht.

Kann sich heute denn noch der, den Virginia Woolf den common reader, also vielleicht den gewöhnlichen Leser nennt, mit der Literatur identifizieren, die er liest? Der breiten Masse wird Literatur als Flucht vor dem Alltag angeboten. Zwischen Gebrauchsartikeln im Supermarkt findet man Bestseller, die den Leser in die Welt der politischen Verschwörungen oder ins Zeitalter der Ritter, wie es nie gewesen ist, mitreißen. Wer mit seinem wöchentlichen Einkauf überfordert ist, kann sich hier für einen verhältnismäßig kleinen Preis bedienen, während er seinen Wagen zur Kasse schiebt. Zu Hause angekommen verstaut er seine gekauften Artikel und läßt sich in eine fremde Welt entführen: Welche? Das ist gleich. Dieser Leser will sich nicht mehr identifizieren, nichts läge ihm ferner. Er will aus seinem Alltag, der ihm entweder viel zu stressig oder zu monoton erscheint, fliehen. Eingegarnt wird er mit Worten, von denen keines sein eigenes sein könnte. Gerade über etwas will er sich Gedanken machen, um an sein Leben und seinen Alltag nicht erinnert zu werden.

Auf der anderen Seite haben wir heute den wissenschaftlichen Leser. Er durchforstet Texte nach Fakten, will Ursache und Wirkung eines Textes oder eines Ereignisses, das dieser Text beschreibt, entdecken und herausarbeiten. Möglichst oft muß für ihn ein Faktum bestätigt werden, er will seine Meinung oder Theorie bestätigt wissen.

Daß ein Autor auch ein Mensch ist, wird meist dabei völlig vergessen und auch daß er ein Individuum ist, das denkt, vor allem fühlt und nach seinen Gefühlen womöglich handelt. Wie man sich normalerweise im Gespräch mit einem Menschen nach allen Seiten öffnen sollte, um möglichst viel von seinem Anliegen zu verstehen, so sollte man mit einem Text umgehen. Hier kann nun – und das völlig zu recht – die Kritik angebracht werden, daß die Betrachtungsweise immer, durch verschiedene Texte veranlaßt, wechseln muß. Ich sage, diese Kritik geschehe völlig zu recht, da sie uns nun wieder an den Anfang bringt, daß ich also einen moralistischen Text, der durch die Betrachtung des Lesers erst zu Moralistik wird, nicht wie z. B. einen historischen lesen kann. Was bei einer historischen Betrachtung eines moralistischen Texts passiert, haben wir gesehen; was bei der Betrachtung eines gewöhnlichen Lesers geschieht, können wir uns denken. Er will aus seinem Alltag herausgerissen werden und findet sich allerdings nur in einer vergangenen Zeit wieder, der Alltag ist geblieben. Hierin liegt wohl der Grund für das, was mich bei meinem Spaziergang von Antiquariat zu Antiquariat so verwundert hat, daß nämlich die Moralistik kaum mehr erhältlich ist. Für den wissenschaftlichen Leser ist sie zu unwissenschaftlich, für den gewöhnlichen Leser zu alltäglich oder, was leider seit den letzten Jahren als ein ausschlaggebendes Kriterium – ob man nun ein Buch liest, sich einen Film anschaut, usw. – gewertet wird, zu alt und mit nicht genug, wie es heute heißt, Action. Sicherlich könnte man jetzt noch die (einzelnen) Wissenschaften – vorrangig Geisteswissenschaften – voneinander trennen und sie, bzw. ihre Leserschaft betrachten. Das aber würde an dieser Stelle, die sich vorrangig mit einer Beschreibung von Moralistik beschäftigen wollte, zu weit führen und die Frage aufwerfen, ob es für unsere Zwecke überhaupt wichtig ist, warum sich einzelne Geisteswissenschaften nicht, vielleicht vorrangig, mit Moralistik beschäftigen.

Abschließend ließe sich sagen, daß die Bereitschaft des Lesers, sich selbst zu erkennen und mit sich selbst zu disputieren, eine der Hauptvoraussetzungen für Moralistik ist. Daher sollte man es mir bitte nachsehen, wenn in der folgenden Arbeit manche Stellen als allzu subjektiv erscheinen. Objektivität kann nie erreicht, sondern nur ansatzweise versucht werden.

1. Griechische Antike

1.1 Theophrast

Ein Werk, das für die französischen Moralisten wichtig werden sollte, sind die „Charaktere“ des Theophrast. Aber schon der eigentliche Titel dieser Sammlung verschiedener Charakterskizzen ist nicht eindeutig. Frühe Ausgaben und Übersetzungen von Pirckheimer, der eine dieser Ausgaben seinem Freund Dürer widmete, tragen verschiedene Titel. So nennt er seine Ausgabe mit lateinischer Übersetzung, die 1527 in Nürnberg erschienen ist, „Theophrastu charakteres“, seine Übersetzung in Deutsche hingegen „Characteres ethici: Das ist, Merckzeichen oder eigentliche Beschreibung der Sitten“ (erschienen in Nürnberg 1606). Ob das Werk nur „Charakteres“, demnach wohl „Χαρακτηρες εθικοι“ hieße, ist weiter nicht wichtig, da sich erster Titel metonymisch auffassen ließe und somit ebenfalls mit den „Charakterzügen“, wie der zweite Titel lautet, gleichbedeutend ist. Unausweichlich begegnet uns aber bei beiden Titeln der Begriff „Charakter“. Was ist ein oder der Charakter einer Person oder einer Sache? Da es sich um einen griechischen Text handelt, greife ich auf das „Greek-English Lexicon“ von Henry George Liddell und Robert Scott zurück und finde folgende Grundbedeutung: mark engraved, impress, stamp. Im metaphorischen Sinn heißt es ferner: type or character (regarded as shared with others) of a thing or person, rarely of an individual nature und distinctive mark or token impressed (as it were) on a person ort hing, by which it is known from others. Der Charakter ist also seiner Grundbedeutung nach etwas, das eine Sache, wie z.B. einer Münze eingeprägt wurde. Diese Prägung macht das beliebige Stück Metall zu etwas Unverwechselbarem im Vergleich zum bloßen Metall.

Aber nicht nur das, denn das Unverwechselbare der Münze liegt nun in ihrem Wert, den sie mit der Prägung erhalten hat. Das gleiche oder ein ähnliches Stück Metall kann einen unterschiedlichen Wert, das heißt hier also Tauschwert bekommen. Per se ist das eine Stück Metall von demselben Wert wie das andere, jedoch unterscheidet sich der ihnen zugestandene Tauschwert vom eigentlichen Wert des Materials wie auch vom Tauschwert einer anderen Münze. Die eine Münze mag im Tausch für einen Laib Brot gelten, die andere vielleicht für einen Esel. Der Wert und Tauschwert einer Sache ist eine gesellschaftliche Übereinkunft. Eine Einheit einer Währung bekommt einen Tauschwert, mit dem alle Güter und Dienstleistungen beschrieben werden können. Wichtig dabei ist, daß die Gesellschaft den Tauschwert anerkennt. Denken wir uns den schier absurden Fall, daß eine Gesellschaft geschlossen den Tauschwert ihres Geldes ablehnt, daß Münzen also nur noch ihren materiellen Wert hätten, so wäre das Geld als solches wertlos. Aber warum gehe ich, wenn es sich doch um Charakterzüge eines Menschen bzw. um Charaktere bei Menschen handelt, derart ins Detail beim Tauschwert des Geldes? Komischweise verhält sich der Charakter, oder differenzierter gesprochen, verhalten sich die Charakterzüge eines Menschen hinsichtlich der Gesellschaft ähnlich. All das darf als normal und unauffällig geilten, was von den meisten praktiziert und anerkannt wird. So gibt es auch in der Sprache der Gesellschaft eine Auffassung, die mit einer Wertung oder Norm verbunden ist. Jeder von uns hat eine Vorstellung, auch wenn er sie vielleicht nicht sofort klar in Worte fassen kann, was z. B. ein sparsamer Mensch ist. Genauso auch die Vorstellung von einem Geizigen und die vom damit verbundenen Unterschied.

Demnach läßt sich sagen, daß das, was wir als Charakter bezeichnen, gesellschaftlich festgelegt ist. Nicht das Geizige per se ist festgelegt, denn dies entwickelt sich unter bestimmten Umständen, sondern daß diese Züge als geizig bestimmt und damit auch gewertet werden. Die Vorstellung von einem Strebsamen erscheint uns viel positiver als die von einem Unpünktlichen. Die Gesellschaft gibt den einzelnen Menschen, aus denen sie besteht, Werte, so wie sie es mit Münzen macht, und damit auch sich selbst. Meist wird das Geflecht aus Charakterzügen das ein Mensch besitzt auf einen einzigen Charakterzug, der in einer bestimmten Situation vorrangig erscheint, reduziert.

Die ebenerwähnten Umstände, unter denen sich Geiz, Strebsamkeit, Unpünktlichkeit usw. entwickeln, entstehen ebenfalls durch Prägungen, die jeder einzelne seit seiner Geburt durchlebt. Es gibt darüber weit verbreitete Auffassungen, daß z. B. der, der in großer Armut aufgewachsen ist, als Erwachsener, wenn er etwas Geld verdient haben wird, geizig sein wird oder daß ein Angeber sich selbst aufwerten muß, jedoch ich nehme davon Abstand, da die menschliche Psyche weit verzweigter ist, als jene kurzen Beschreibungen es fassen können. Es gibt so viele Gründe für Geiz, wie es Geizige gibt. Dies gilt natürlich auch für jede andere Charaktereigenschaft.

Die erste Definition der metaphorischen Bedeutung enthält zwei wesentliche Aspekte, die notwendig sind, um einen Charakter oder dessen Züge zu bestimmen. Hier wird der Charakter als Phänomen dargestellt, das bei mehreren Personen zu finden ist. In Parenthese wird darauf hingewiesen, daß der Charakter oder Typus als shared with others anzusehen ist. Ein Typus wird also einer Gruppe dieser Typen zugeordnet. Ferner heißt es an selber Stelle, daß diese Art von Charakter, wie sie hier beschrieben wird, rarely of an individual nature ist. Diese Aussage scheint im Widerspruch mit der nächsten Definition zu stehen, die wir im Wörterbuch finden. Denn dort ist der Charakter etwas Eingeprägtes einer Person oder Sache, by which it is known from others. Anhand dieser Definitionen sieht man, daß der „Charakter“ wohl schon im antiken Griechenland hinsichtlich zweier Bedeutungen auf Menschen übertragen wurde. Die erste Art des „Charakters“ hat nur selten eine individuelle Natur. Dies entspricht dem Charakter als gesellschaftlicher Norm. Die Gesellschaft ordnet einem Individuum eine bestimmte Charaktereigenschaft zu und reiht es damit in die Klasse seiner „Gleichgesinnten“ ein, bzw. in die Klasse derer, die die Gesellschaft auch mit solch einem Charakterbild belegt hat. Was übrig bleibt, ist ein Mensch, der durch seine ihm beigeordnete Eigenschaft gesehen wird und der dadurch in den Augen anderer jede Individualität verliert. Diese Art von Charakter werden wir später in Theophrasts Werk wiederfinden, wobei es bei ihm wohl nicht von der Oberflächlichkeit abhängt, die es nicht gibt, sondern vom antiken Schreibstil und der freien Form der Texte.

Die andere Definition des Charakters, die Individualität betont, kommt unserer umgangssprachlichen Verwendung des Wortes nahe. An ihr kann man also eine Person oder Sache erkennen, es ist ihre Beschaffenheit. Hier bildet der Charakter das Gegenteil zur griechischen ἄρητη, die im Deutschen gerne mit „Tugend“ übersetzt wird, was aber bei weitem nicht die Spannbreite des griechischen Wortes erfaßt, jedenfalls nicht in unserer heutigen Verwendung des Wortes „Tugend“. Vergleicht man die Verwendung dieses Wortes in griechischen Texten, wird schnell klar, daß es sich hierbei um die Beschaffenheit einer Sache handelt, die zur Zweckerfüllung führt. Eine Sache muß demnach so geschaffen sein, daß sie problemlos das erfüllt, wofür sie geschaffen wurde. Wenn ich versuche, die Bedeutung der ἄρητη annähernd greifbar zu machen, merke ich, daß mir kein deutsches Wort dafür einfällt. Falls es sich um die ἄρητη einer Sache handelt, könnte ich sie beinahe mit „Zweckerfüllung“ wiedergeben. Was aber mache ich, wenn sie sich, was wohl die meisten Fälle ausmacht, auf einen Menschen bezieht? Hier ist es weitaus schwieriger, ein treffendes Wort zu finden. Natürlich kann ich, wenn es sich um Menschen handelt, das Wort „Tugend“ verwenden, die Frage aber ist, ob es immer dem Sinn des Originals entspricht. Denken wir daran, wie Sokrates in Platons „Apologie“ vor Gericht das Gespräch mit einem Vater wiedergibt, der sich unsicher ist, von wem er seine Kinder erziehen lassen soll, damit sie möglichst große ἄρητη erlangen. An dieser Stelle wäre die Übersetzung „Tugend“ verständlich, allerdings sollte man sich überlegen, ob es um das geht, was wir als Tugend bezeichnen. Würden wir denn das richtige Handeln in einer πόλις als Tugend bezeichnen? Bei uns spielen schon äußere Einflüsse eine Rolle, warum diese Wortbedeutungen nicht identisch sind, was bei Übersetzungen generell schwierig zu finden ist. Der Staat gilt in Deutschland nicht mehr als eine der höchsten moralischen Instanzen, für die sich jeder engagiert und für die er auch den Schierlingsbecher austrinkt, ohne auch nur eine Sekunde am Urteil des Staates zu zweifeln. In unserer Gesellschaft steht das Individuum und dessen Entfaltung im Mittelpunkt, was man gar nicht näher belegen muß, es reicht aus, einen Blick auf die heutige Werbung zu werfen, die eben mit dieser Entfaltung wirbt.

Insofern ist der Charakter als Summe der Eigenschaften (Eigen-schaften im wörtlichen Sinn) meist nicht identisch mit der ἄρητη und daher ihr Gegenteil. Der Charakter beschreibt einen Ist-Zustand, während die ἄρητη den Idealzustand eines Gemüts meint. Eine Ausnahme bildet der Fall, wenn die ἄρητη zum Status quo wird, sofern sie überhaupt je vollständig erreicht werden kann. Ist aber eine völlig erreichte ἄρητη dennoch ἄρητη oder einfach nur Charakter einer Person? Daher können sie ein sich ergänzendes Gegenteil sein. Wo keine ἄρητη ist, ist Charakter und wo der Charakter sein und das staatliche Ideal erreicht, wird er ἄρητη. Die damit in Verbindung stehende Frage ist, wenn man auch nur ein wenig griechische Literatur gelesen hat, ob bei Sokrates schon der Charakter zur ἄρητη überging. Man darf diese Frage und die obige Polarisierung nicht insofern mißverstehen, daß ich Charakter und ἄρητη als zwei konkurrierende Instanzen der menschlichen Psyche sehe, sondern die ἄρητη als Status des Charakters, nach griechischer Auffassung wohl der höchste, den es für einen Menschen zu erreichen gilt, wie es noch viele andere gibt.

Eine bestimmte Menge dieser anderen beschreibt Theophrast in seinem Werk, das wir von nun an „Charaktere“ nennen wollen. Später möchten wir noch auf die Frage eingehen, ob der Schüler des Aristoteles und Leiter der Akademie nach dessen Tod eine Anlehnung an dessen Ethiken schrieb. Zuerst aber will ich mich mit Theophrasts „Charakteren“ separat beschäftigen, um von ihnen einen Umriß zu zeichnen.

Die „Charaktere“ sind das wohl bekannteste Buch des Theophrast, der eigentlich als universeller Naturgelehrter galt. So kennen wir auch Texte wie die „Pflanzenkunde“ von ihm. Warum aber die „Charaktere“ derart bekannt wurden, darüber läßt sich streiten. Vielleicht erreichte er mit den komischen Charakterskizzen ein größeres Publikum als mit der „Pflanzenkunde“, denn jeder hat schließlich mit Menschen zu tun, es handelt sich um ein populäres Thema. Oder es liegt möglicherweise daran, daß die „Charaktere“ den einzigen Text des Theophrast bilden, den wir vollständig besitzen. Die Entstehungszeit sowie der Anlaß, weshalb der kleine Text überhaupt geschrieben wurde, sind unklar.

Der Text selbst gliedert sich in dreißig Absätze, die jeweils einen Charaktertypus behandeln. Dabei fällt auf, daß Theophrast bei einem Thema teilweise noch differenziert. So gibt es beim Thema „Sprechen / Reden“ nicht nur die ἀδολεσχία, die man mit Redseligkeit übersetzen könnte, sondern auch die λαλία, die der Schwätzerei gleichkommt. Der einzelne Text jedoch beginnt mit einer kurzen Definition der Eigenschaft und geht dann zur Person über. Diese Einleitungssätze sind in den einzelnen Abschnitten ähnlich aufgebaut. Als Beispiel können wir uns den der besagten Redseligkeit anschauen: Ἡ δὲ ἀδολεσχία ἐστὶ μὲν διήγησις λόγων μακρῶν καὶ ἀπροβουλεύτων, ὁ δὲ ἀδολέσχης τοιοϋτός τις, οἴος, ὃν μὴ γινώσκει, τούτῳ παρακαθεζόμενος πλησίου πρῶτον μὲν τῆς αὑτοῦ γυναικὸς εἰπεῖν ἐγκώμιον· Im Deutschen mögen die Einleitungssätze etwas langweilig und stereotyp wirken, was ein grundlegendes Problem bei Übersetzungen aus antiken Sprachen ist, jedoch meine ich, daß dieser Satztyp zu Beginn eines Absatzes wohl nicht so auf Muttersprachler gewirkt haben mag. In der mir vorliegenden Übersetzung von Wilhelm Plankl haben diese Anfangssätze folgendes Muster (wieder die „Redseligkeit“ als Beispiel): Die Redseligkeit ist ein Daherreden von langweiligem und alltäglichem Zeug, der Redselige aber ungefähr folgendermaßen: Er setzt sich ganz nahe an einen Unbekannten heran und beginnt eine Lobrede auf seine eigene Frau zu halten,… Dieser Teil des Satzes entspricht dem oben zitierten griechischen Teil. Gegen diese Übersetzung selbst läßt sich überhaupt nichts sagen. Es wird jedoch schwierig im Deutschen die Modalpartikel, die die Griechen in ihrem Alltag wohl permanent gebrauchten (man denke nur an die Nachahmung des gesprochenen Sprache bei Platon, der sogar soweit geht und verschachtelte AcI-Konstruktionen nicht mehr auflöst, usw.), ohne jeden Abhub wiederzugeben. Wenn also die Modalpartikel wie hier mit „aber“ wiedergegeben werden, was durchaus weit verbreitet ist, dann wirkt es auf unsere Umgangssprache etwas fremd, da wir diesen Wörtern (wie aber, auch, usw.) eine feste Position im Satz gegen haben. Allerdings wird so eben auch der fremde Aspekt einer Übersetzung beibehalten. Wie stark aber der Lehrbuchcharakter dieses ersten Satzes im Altgriechischen war, kann ich nicht sagen.

Der jeweilige Absatz wird damit fortgesetzt, daß er die Taten des besprochenen Charaktertypen exemplarisch aufzählt, als wolle der Autor belegen, was zu Beginn als Definition aufgestellt wurde. Dies bestätigt in dieser Reihenfolge wieder das Lehrbuch, wobei es nicht ernst gemeint gewesen sein muß. Bei seiner witzig geistvollen Art, die bis hin zur Parodie eines Lehrbuchs reichen könnte, würde oder müßte sich der Autor ebenfalls der Form der Vorlage bedienen, um eine Verbindung zu schaffen und gegebenenfalls sein Vorhaben deutlich zu machen. Theophrast schafft dies anscheinend schon im ersten Satz. Auch hat der Rest der Schilderung belehrenden Charakter. Die These, die zu Beginn aufgestellt wurde, wird durch Beispiele zu belegen versucht. Die einzelnen Abschnitte enden manchmal mit einer Pointe oder ohne jeden Abschluß, die Beispiele hören lediglich auf, nachdem sie sich bis zum Ende meist gesteigert haben. Bei der „Redseligkeit“ findet sich die Handlung z. B. im Rahmen einer Mahlzeit. Der Redselige, ohne jegliche andere Eigenschaft, setzt sich beim Essen zu einem Unbekannten, der wiederum überhaupt keine Eigenschaft hat, als daß er dem Redseligen völlig unbekannt ist und daß er „leer“ ist, das heißt er dient technisch nur dazu, daß der Redselige erzählen kann. Weder antwortet, noch widerspricht er dem Redseligen. Alle Nebenpersonen haben diese „Leere“, außer wenn sie durch ihr Handeln oder Reden dazu beitragen, die behandelte Charaktereigenschaft bei der Hauptperson zu verdeutlichen. Gibt es jedoch eine wörtliche Rede, die nicht von der Hauptperson ausgeht, so ist sie meist unpersönlich oder wird passivisch formuliert. Wir finden so eine Stelle zu Beginn des Abschnitts Αὐθάδειας: ...ὁ δὲ αὐθάδης τοιοûτός τις, οῖος ἐρωτηθείς· ὁ δεîνα τοû ἐστιν᾿; (Nebenbei sollte man hier auch auf den Klang achten. Zumindest legen die drei anlautenden Tau eine Alliteration nah.) Die wörtliche Rede, also die gesprochene Sprache selbst, dient entweder zur Steigerung und Konkretisierung des Geschehens oder ist um ihrer selbst willen da und dient zur Verdeutlichung. Letzteres findet sich vor allem in Texten, in denen es um das Reden selbst geht. So kann zum Beispiel der Schwätzer nicht erst gegen Ende des Abschnitts anfangen zu reden und zu schwätzen, sondern muß es als Charakteristikum sofort tun.

Gehen wir nun am Beispiel der Λαλιάς davon aus, daß wörtliche Rede eine Fokusierung eines bestimmten Aspekts darstellt, damit eben Situationen verlebendigt, sie dem Leser deutlicher vor Augen geführt und somit die Handlung zugespitzt werden kann. Bei der „Redseligkeit“ sieht das folgendermaßen aus: Der Autor, kein Teil des Geschehens, faßt auch teilweise ganze Reden mit indirekter Rede zusammen, weil deren Inhalt für den Leser wohl nicht wichtig ist. Der Redselige hält zuerst eine Lobrede auf seine Frau, erzählt dann seinen Traum der vergangenen Nacht und geht schließlich das Menue bei Tisch durch. Im Griechischen werden diese Handlungen auch nicht weiter ausgeführt, als ich es eben im Deutschen getan habe. Dort heißt es: ἐγκώμιος, ἐνύπνιον und δείπον, also Lobrede, Traum und Mahlzeit. Als nächstes werden Themen und Fragen referiert und nicht mehr bloß als Überbegriff vorgestellt. So redet er darüber, ὡς πολὺ πονηπρότεροι εἴσιν οἱ νûν ἄνθρωποι τῶν ἀρχαίων, καὶ ὡς ἄξιοι γεγόνασιν οἱ πυροὶ ἐν τῇ ἀγορᾷ, καὶ ὡς πολλοὶ ἐπιδημούσι ξένοι, καὶ τὴν θάλατταν ἐκ Διονυσίων πλώιμον εἶναι· Hier wird nun schon jedes Thema in einem referierenden Satz dargestellt. Er redet eben darüber, daß die Menschen früher besser gewesen seien, daß die Weizenpreise angemessen seien, daß der Fremdenverkehr zugenommen habe und daß man ab März wieder das Meer zu Schiff bereisen könne.

Gesteigert wird die Erzählweise dadurch, daß Theophrast von diesen referierenden Sätzen weitere Nebensätze und Konditionen abhängig macht. Sie geben also der Rede mit jedem Satz mehr Plastizität. ὁ Ζεὺς ὕδωπ πλεῖον, τὰ ἐν τῇ γῇ βελτίω ἔσεσθαι,…

Zugleich sieht man daran, daß der einzelne Charakter nicht jedem Kulturkreis angehören kann, sondern sich fest im griechischen befindet. Diesem Satz, daß, wenn Zeus es regnen ließe, das Getreide besser wüchse, folgen wieder kurze, referierende Teile, in denen der Autor aber mehr über die Kultur preisgibt, in der sich die Charaktere, bzw. jedenfalls dieser Charakter befindet. So heißt es ferner: …καὶ ὡς Δάμιππος μυστηρίοις μεγίστην δᾷδα ἔστησεν, καὶ πόσοι εἰσὶ κίονες τοῦ Ὠιδείου,…In diesen beiden Sätzen bezieht sich Theophrast auf ein Gebäude, auf eine wohl reale Person und auf die Mysterien. Da es sich bei allen Angaben bisher um reale Kulte, Orte und Veranstaltungen handelt, warum sollen wir nicht davon ausgehen, daß gewisser Damippos nicht auch real ist? An dieser und an anderen Stellen haben Altphilologen wohl versucht, die Entstehungszeit der Texte zu rekonstruieren, und es fiel ihnen auf, daß sich manche der erwähnten Ereignisse im Jahr 319 v. Chr. zugetragen haben, was aber weiter für unsere Betrachtung nicht wichtig sein soll.

Was in diesem Zusammenhang auch auffällt, ist der Dialekt, in dem der Taxt verfaßt wurde. Für gewöhnlich bezeichnen wir ionisch als „das Altgriechsche“. Jeder, der griechisch lernt, beginnt mit dem ionischen Dialekt. Wenn wir uns nun um die Authenzität der Charaktere Gedanken machen, fällt auch spätestens hier die Art des Dialekts auf. Wir haben gelesen, daß Damippos die größte Fackel bei den Mysterien trägt. Sofort fällt das iota subscriptum beim Akkusativ δᾷδα ins Auge. Welch eine Akkusativ-Form sollte das sein, da wir, die wir klassisches Ionisch gelernt haben, den Akkusativ als δαῖδα zum Nominativ δαῖς kennen? Im Ionischen suchen wir diese Form vergebens, finden sie aber im attischen Griechisch als Akkusativ zu dem dortigen Nominativ δᾷς.

Im letzten Viertel des Absatzes finden wir nun auch eine Mischung aus wörtlicher und referierender Rede. Die wörtliche bricht mit …καὶ ᾿χθὲς ἤμερα, καὶ ᾿τίς ἐστιν ἡμέρα σήμερον ein und endet wieder referierend: …καὶ ὡς Βοηδρομιῶνος μέν ἐστι τὰ μυστήρια, Πυανοφιῶνος δὲ τἀπατούπια, Ποσιδεῶνος δὲ <τὰ> κατ᾿ αγροὺς Διονύσια·… Die wörtliche Rede scheint hier eine Zuspitzung im Sinne einer Pointe darzustellen. Das schier nie enden wollende Gerede wird durch den prägnanten und den im Gegensatz zu dem Gesagten Ausspruch, der fast schon wie ein Ausruf anmutet, χθὲς ἤμερα unterbrochen. Bisher redete der Redselige über andere, wie Damippos oder auch seine Frau, nun geht es aber kurz um ihn. Gestern habe er also erbrochen. Sofort rundet danach Theophrast den Absatz ab und läßt ihn nicht auf dem Höhepunkt offen enden.

Nach dem Höhepunkt gibt es noch einen Schlußsatz, der den Absatz in ironischer oder sarkastischer Weise beendet: κἂν ὑπομένῃ τις αὐτόν, μὴ ἀφίστασθαι. Wenn wir uns nun noch unter diesem Aspekt der Verwendung von wörtlicher Rede den Absatz über den Schwätzer ansehen, wird uns am Ende Ähnliches begegnen.

Da Theophrast die Schwätzerei als eine „Maßlosigkeit im Sprechen“ definiert, wird uns im Absatz über den Schwätzer nicht gerade wenig wörtliche Rede begegnen. Hier, wo die wörtliche Rede aus dem Mund des Schwätzers fast nichts mehr zuspitzen kann – von Konkretisierung abgesehen, denn seine Rede konkretisiert nicht, sondern plappert –, wird seinen Kindern, die bis dahin noch nicht erwähnt wurden, der pointierte Abschlußsatz als wörtliche Rede in den Mund gelegt. Denn sie können sich die Geschwätzigkeit ihres Vaters zu Nutze machen, worin auch der Witz liegt. Jeden stört, belästigt oder enerviert der Schwätzer, seine eigenen Kinder jedoch ziehen ihren Vorteil daraus, wenn es heißt: καὶ σκωπτόμενος ὑπομεῖναι καὶ ὑπο τῶν αὐτοῦ παιδίων, ὅταν αὐτὸν ἤδη καθεύδειν βουλόμενα κελεύῃ λέγειν· ᾿ἄττα, λαλεῖν τι ἡμῖν, ὃπως ἂν ἡμᾶς ὕπνος λάβῃ᾿.

Dieser einzige Satz seiner Kinder, in dem sie ihren Vater bitten, er möge weiterreden, damit sie schlafen könnten, ist womöglich nicht nur wegen der Pointe so knapp formuliert, sondern auch um ein gegensätzliches Bild der Rede zu zeichnen. Worum es mir also bei dieser kleinen Betrachtung der Rede geht, ist der bewußte Einsatz von wörtlicher und indirekter Rede im Kontext von knappen Charakterzeichnungen der Antike, die man durchaus als „Skizzen“ bezeichnen könnte.

1.2 Aristoteles

Wie schon erwähnt, ist es vielleicht möglich, daß Theophrast durch Aristoteles’ Ethiken zum Aufbau und zur Gestaltung dieses Textes mit dreißig verschiedenen Charaktertypen angeregt wurde. Diese Charakterskizzen sind von ihrer Menge ein durchaus überschaubares Werk, die Ethiken hingegen viel umfangreicher. Zum einen gibt es mehrere Ethiken, zum anderen ist die jeweilige Ethik bei weitem umfangreicher als der Text des Theophrast. Die Frage, die sich nun stellt, ist, wo man also bei Aristoteles beginnen soll, um einen passablen Vergleich ziehen zu können. Wir haben uns den Aufbau eines einzelnen Absatzes angeschaut und festgestellt, daß die Charaktereigenschaft den Text eröffnet. Viel ausführlicher finden wir in der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles im dritten Buch auch Charaktereigenschaften, denn das achte Kapitel bildet ein Zwischenstück und besagt, daß bisher die Charaktereigenschaften im allgemeinen behandelt worden seien und deren Bestimmung nach Gattung und Umriß angelegt worden sei. Das neunte Kapitel eröffnet mit der Zuwendung des Autors zu den einzelnen Tugenden und der Angabe dessen, was sie zum Gegenstand hätten, wie sie geübt würden und woraus sie sich ergäben. Dieser Vorsatz für die folgenden Kapitel erinnert schon an den Aufbau, den Theophrast konzipiert. Aber schauen wir und die behandelten Tugenden an: Mut, Mäßigkeit, Freigebigkeit (daraus resultiert der Charakter des Verschwenders), Hochherzigkeit, Seelengröße, der Mann niederen Sinnes, Sanftmut, Scham, Gerechtigkeit, usw. Ich meine, daß schon dieser Auszug an Themen mehrerer Kapitel und Bücher reicht, um zu verdeutlichen, mit welcher Thematik Aristoteles sich hier befaßt.

Der Aufbau der einzelnen Sinnabschnitte, denn nicht in jedem Kapitel wird eine Eigenschaft vollständig behandelt, wirkt denen Theophrasts sehr ähnlich. Was allerdings sofort auffällt, ist ihre Länge. Die „Nikomachische Ethik“ allein ist schon ungefähr zehnmal umfangreicher als die „Charaktere“. Jede besprochene Charaktereigenschaft wird ausführlicher behandelt. Auch sind es, wenn wir uns den obigen Auszug an Eigenschaften anschauen, die Themen, mit denen sich die antike Philosophie ausgiebig beschäftigt. Keine der antiken Schulen (ich spreche nur von den großen) ist von einer dieser Eigenschaften unberührt. Was sich allerdings bei ihnen unterscheidet, ist die Definition und der Stellenwert im moralischen Gefüge der jeweiligen Lehre.

[...]

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
L'Esprit essentiel
Untertitel
Vorbilder für die französische Moralistik
Autor
Jahr
2010
Seiten
96
Katalognummer
V154071
ISBN (eBook)
9783640662944
ISBN (Buch)
9783640663101
Dateigröße
779 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Essay befaßt sich mit diversen Vorbildern für die französische Moralistik. Beginnend mit der griechischen Antike, geht er über die römische bis hin zu den direkten europäischen Wegbereitern. Mit französischen Moralisten selbst schließt der Text. Eine Fortsetzung über die Rezeption ist geplant.
Schlagworte
Esprit, Vorbilder, Moralistik
Arbeit zitieren
Udo Sell (Autor:in), 2010, L'Esprit essentiel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/154071

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: L'Esprit essentiel



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden