Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Europa und die Türkei – die Langwierigkeit der Beitrittsverhandlungen
3. Umsetzung der Kopenhagener Beitrittskriterien in der Türkei
3.1 Das Politische Kriterium - Institutionelle Stabilität
3.1.1 Die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung in der Türkei
3.1.2 Wahrung der Menschenrechte in der EU und der Türkei
3.2 Das Wirtschaftliche Kriterium
3.2.1 Die wirtschaftliche Situation in der Türkei
3.2.2 Wirtschaftliche Folgen für die Europäische Union
3.3 Aqcuis Communautaire
3.3.1 Die Umsetzung der Acquis Communautaire in der Türkei
4. Die Identitätsfrage
5. Schluss
6. Anhang
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union1 mit der Türkei laufen seit nunmehr fast 50 Jahren. Von Anbeginn gilt die Türkei als „der am schwersten zu integrierende Staat“2. Die Gründe dafür sind vielgestaltig. Unzulänglichkeiten im Bereich von Demokratie- und Menschenrechten gelten als Hauptursache für die Beitrittsskepsis. Die zu erwartende schwere Belastung für den EU-Haushalt auf Grund des wirtschaftlichen Defizits der Türkei entfachen weitere Bedenken. „Zum dritten schließlich tritt eine unterstellte kulturelle Andersartigkeit ins Bild“3. Dieser Punkt ist, entgegen aller Beteuerungen, ein verunsichernder Faktor für derzeitige Mitgliedstaaten4. Diese Hausarbeit untersucht, ob die Europäische Union und die Türkei bereit sind für einen Beitritt. Basierend auf den angeführten Argumenten wird analysiert, wo zu erwartende Schwierigkeiten liegen und wie diese zu bewerten sind. Einleitend werden die Langwierigkeit der Beitrittsverhandlung und deren Auswirkungen untersucht. Als Ausgangspunkt für den analytischen Hauptteil dienen die Kopenhagener Beitrittskriterien. Diese sind seit den Beschlüssen von Helsinki alleinige Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union5.
Das erste Kopenhagener Kriterium ist die institutionelle Stabilität. Anhand der Parteien und des Militärs wird das Demokratiedefizit in der Türkei beleuchtet. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Menschenrechte in der Europäischen Union und der Türkei. Die wirtschaftliche Lage der Türkei und die zu erwartenden finanzielle Auswirkungen im Falle eines Beitritts stellen den nächsten Punkt dar. Wichtig im Rahmen der Beitrittsfrage ist die Haltung der Türkei zum gemeinschaftlichen Besitzstand der Europäischen Unionsstaaten. Dem dritten Argument soll die hier ausgeführte Identitätsdebatte Rechnung tragen. Abschließend werden die wichtigsten Punkte zusammengefasst. Es steht fest, dass ein Beitritt sich positiv für die Situation der Menschenrechte und den Wohlstand der Bevölkerung auswirken würde. Auch Unternehmen der EU-Staaten würden sehr von einem Beitritt profitieren. Dennoch nimmt diese Arbeit eine kritische Perspektive ein und versucht die Vorteile gegen drohenden Überlastungskollaps abzuwägen. Die verwendete Literatur setzt sich auf Grund der Aktualität sehr stark aus einzelnen Beiträgen zusammen. Ich habe den aktuellsten Stand der Debatte eingefangen um ein weites Spektrum von Positionen einzubeziehen.
2. Europa und die Türkei - langwierige Beitrittsverhandlungen
Bereits am 12. September 1963 unterzeichnete die Türkei das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft6. Befürworter eines EU-Beitritts der Türkei merken an, dass seit dem die Möglichkeit zu einer Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union besteht und man die Türkei nicht noch länger hinhalten dürfe. Kritiker hingegen argumentieren, dass sich aus der Aussicht auf eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht automatisch das Recht auf eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union ableiten lässt7. Vielmehr entstamme dieses Argument dem vagen Feld der politischen Diplomatie und Psychologie und sei keineswegs juristisch abgesichert8.
1999 wurde der Türkei in Helsinki der Status eines Kandidaten für die Vollmitgliedschaft in der EU eingeräumt. Dieses Zugeständnis der Politik hatte allerdings weniger mit „Veränderungen innerhalb der Türkei zu tun, als vielmehr mit sicherheitspolitischen Einschätzungen“9. Im Herbst 2005 nahmen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei auf. Da diese sich über einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren erstrecken werden, liegt der frühste mögliche Beitrittstermin im Jahr 201510. Allerdings können die Beitrittsverhandlungen im Falle eines Verstoßes gegen die Kopenhagener Beitrittskriterien wieder ausgesetzt werden11. Es lässt sich feststellen, dass die Türkei selbst erst seit 2001 ernsthaft und nachhaltig versucht, die Bedingungen für einen Beitritt zu erfüllen.
Auch die Europäische Union verfolgt keine konsequente Linie im Beitritt der Türkei12. Vielmehr schimmert eine semantische Ebene durch die Verhandlungen, die die Frage nach dem generellen Entwicklungsstand und Integrationspotential der Europäischen Union13 Dass eine unzureichend geklärte Finalität der EU das Verhalten der Entscheidungsträger erschwert, ist nicht zu leugnen. Jedes handlungsfähige politische System bedarf einer starken Identität als Bezugsrahmen seines Handelns14. Der Integrationsprozess ist daher seit jeher von kontroversen Debatten und Stimmungsschwankungen geprägt. In der EU unterscheidet sich die Zustimmung von Land zu Land erheblich. Griechenland, Slowenien und Polen erweisen mit jeweils 72% bis 74% die höchste Zustimmung. Luxemburg, Frankreich und Deutschland stehen einem Beitritt abgeneigt gegenüber. Österreich lehnt einen solchen völlig ab15. Auch in der Türkei zerrt die Langwierigkeit der Verhandlungen am Stimmungsbarometer. Während sich noch zu Beginn des Jahrtausends teilweise über 90% der türkischen Bevölkerung für einen Beitritt aussprachen, stieg die Skepsis enorm an. Im Januar 2005 lag die Zustimmung bei 74,1% und im Juni 2005 nur noch bei 52,3%16. In der Türkei entstehe der Eindruck, sie werde von der Europäischen Union nicht fair behandelt und mit anderen Maßstäben gemessen. Peter Scholl-Latour17 rät der Türkei von einem EU-Beitritt ab. Die Europäische Union erlege der Türkei mit ihren Forderungen eine Menge Demütigungen auf18. Er führt an, dass die Türkei eine Großmacht ist und sich als solche auch wahrnimmt. Als Staat sei die Türkei mächtiger als die ganze EU zusammen.
Die zentrale Rolle des starken Staates ist ein prägendes Merkmal für das politische System der Türkei19. Das Spannungsverhältnis zwischen nationalem Selbstvertrauen und dem Gefühl, von der EU nicht anerkannt zu werden, führte im Jahre 1999 zum Wahlsieg der kemalistisch nationalistischen MHP-Partei20. Im Zuge der Gesetzesreformen zugunsten eines EU-Beitritts äußerte sich das türkische Militär dahingehend, dass die Türkei in ihrem Kampf gegen den Terrorismus geschwächt worden sei21. Es herrscht Angst vor einem „Ausverkauf türkischer Interessen und dem Verlust der nationalen Souveränität zu Gunsten der Forderungen der EU“22, wenn die Kopenhagener Beitrittskriterien23 erfüllt werden. Dabei sind gerade die „Relativierung der nationalstaatlichen Souveränität und die Überwindung aller weltmachtpolitischen Ambitionen“24 Grundideen der Union Europas. Besonders religiöse Kräfte in der Türkei suchen nach einer Alternativlösung für den EU- Beitritt und eine stärkere Anbindung an die islamische Welt. Aber auch liberale Kräfte sind desillusioniert in Anbetracht der anhaltenden Kritik seitens der EU. Immer wieder werden der Mangel an Menschenrechten und das Demokratiedefizit als noch nicht den Kopenhagener Kriterien entsprechende Punkte angeführt25. Auch wenn die anfängliche Euphorie einer realeren Einschätzung der Situation gewichen ist, hält die Mehrheit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Elite an einer Vollmitgliedschaft fest.
3. Die Umsetzung der Kopenhagener Beitrittskriterien in der Türkei
3.1 Das Politische Kriterium - Institutionelle Stabilität
3.1.1 Die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung in der Türkei
Laut Art. 2/I der Verfassung ist die Türkei ein „nationaler, demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat“26, der auf dem Prinzip der Gewaltenteilung beruht. 2006 bescheinigte die Europäische Kommission in ihrem Bericht an den Europäischen Rat der Türkei die Erfüllung der institutionellen Kopenhagener Kriterien. Obwohl der Bericht der Kommission gravierende Mängel in der Wahrung der Menschenrechte aufführt, erkennt er formal die „Existenz stabiler demokratischer Strukturen und einer menschenrechtskonformen Gesetzeslage“27 in der Türkei an. Die letzten zwei Jahrzehnte brachten eine wesentliche Verbesserung der demokratischen Rechtsordnung in der Türkei mit sich. Dennoch existiert ein enormer Abstand zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Die Europäische Kommission empfiehlt daher die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nur unter strikten Auflagen28. Die sogenannte Drei- Säulen-Strategie29 soll helfen, Demokratiedefizite in der Türkei zu überwinden. Neben der Wahrung von Menschenrechten besteht ein starkes Defizit in der innerparteilichen Demokratie. Die willkürlichen Entscheidungen der Parteien werden in „engen und exklusiven Kreisen“30 getroffen und entziehen sich fast jeder Ahndung bei Verstößen gegen die Verfassung und das Parteiengesetz.
Anders ist der Sachverhalt bei den pro-kurdischen Parteien. 2009 verbot das Verfassungsgericht zuletzt die Kurdenpartei DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft) auf Grund des Vorwurfes „der politische Arm der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein“. Der Gerichtspräsident Hasim Kilic begründete sein Urteil damit, dass die Partei sich als Organisation nicht ausreichend von Gewalt distanziert habe31. Dieses Urteil wurde von den USA und der EU scharf kritisiert, stellt aber keine Ausnahme in der Parteiengeschichte der Türkei dar. Bis 1995 waren Parteienverbote kurdischer Parteien an der Tagesordnung. Umstritten ist auch die Zehn-Prozent-Klausel für Parteien.
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1 Bis 1993 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
2 Riemer (2003), S. 40
3 Steinbach (2002), S. 307
4 Vgl. Wetter (2006), S. 2
5 Vgl. Wedel (2006), S. 201
6 Vgl. Kreiser/Neumann (2006), S. 433
7 Vgl. Winkler (2004), S. 156
8 Vgl. König/Sicking (2005), S. 13
9 Steinbach (2002), S. 311
10 Vgl. Cremer (2006), S. 1
11 Vgl. König/Sicking (2005), S. 9
12 Vgl. Wetter (2006), S. 2
13 Vgl. Richter (2005), S. 171 f
14 Vgl. Weidenfeld (2003), S. 15
15 Vgl. Steinbach/Cremer (2006), S. 1
16 Vgl. Kizilyaprak (2006), S. 1
17 dt. Autor, Journalist und Auslandskorrespondent
18 Scholl-Latour (2006), S.1
19 Vgl. Steinbach (2002), S. 24
20 Vgl. Steinbach (2002), S. 22
21 die Verfassungsänderung vom 03.10.2001 beschränkte das Antiterrorgesetz von 1991
22 Kizilyapark (2006), S. 2
23 Siehe Anhang I
24 König/Sicking (2005), S. 12 f
25 Vgl. Steinbach (2002), S. 310
26 Vgl. http://www.cap-lmu.de/themen/tuerkei/politisches-system/index.php (06.05.2010)
27 Dietert (2006), S. 1
28 Vgl. Dietert (2006), S. 1
29 Siehe Anhang II
30 Kreiser/Neumann (2006), S. 473
31 Vgl. Zeit online (2009), S. 1