Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A Einleitung
B Einführung in die Sicherungsverwahrung und Art. 7 EMRK
I. Die Sicherungsverwahrung im Überblick
1. Ursprung der Sicherungsverwahrung und des Maßregelrechts
2. Zweck und Legitimation der Sicherungsverwahrung
3. Die Ausweitung der Sicherungsverwahrung
a) Einführung und Wegfall der zehnjährigen Höchstfrist
b) Gesetzesänderungen seit
c) Entwicklung in Zahlen
II. Art. 7 EMRK im Überblick: Bedeutung und Ausprägungen
C Sicherungsverwahrung als Strafe im Sinne von Art. 7 EMRK
I. Bestimmung des Anwendungsbereichs des Rückwirkungsverbots
1. Enge Auslegung des Rückwirkungsverbots
a) Deutsche Rechtsprechung und Literatur
b) Bisherige Rechtsprechung des EGMR
2. Weite Auslegung des Rückwirkungsverbots
a) Rechtsprechung des EGMR
b) Deutsche Literatur
3. Bewertung
4. Zwischenergebnis
II. Annährung zwischen Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafe
1. Die Bedeutung der sog. Anlasstat
2. Vorwurf des Etikettenschwindels
3. Vorwurf des Verwahrvollzugs
4. Sozialethisches Unwerturteil
5. Weitere Gemeinsamkeiten
6. Ergänzend zum Zweck: Sicherungsverwahrung als Strafe im Sinne des StGB?
7. Zwischenergebnis
D Zusammenfassung und Ausblick
I. Zusammenfassung: Sicherungsverwahrung als Strafe iSd Art. 7 EMRK
II. Ausblick: Auswirkungen des EGMR Urteils im Fall M./D
1. Bindungswirkung des EGMR Urteils M./D
2. Entlassung von M. sowie anderen Betroffenen
a) Derzeitiger Entlassungsstand
b) Entlassungsperspektiven
3. Auswirkungen auf andere Formen der Sicherungsverwahrung
4. Völkerrechtskonforme Auslegung
5. Gesamtreform der Sicherungsverwahrung
6. Ergebnis
Literaturverzeichnis
A. Einleitung
Das Rückwirkungsverbot in Art. 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie Art. 103 II GG verbietet die Verhängung einer schwereren Strafe, als zur Zeit der Tat angedroht. Ob in einem zweispurigen Sanktionensystem auch die Maßregel der Sicherungsverwahrung als Strafe umfasst wird, ist seit jeher umstritten. Die Streitfrage hat nun besondere Bedeutung erlangt durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vom 17. Dezember 2009 im Fall M./D.[1] Die Sicherungsverwahrung des M. war verlängert worden, nachdem der deutsche Gesetzgeber im Jahr 1998 die bis dahin geltende zehnjährige Höchstfrist der erstmaligen Sicherungsverwahrung rückwirkend aufgehoben hatte. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat diese Neuregelung 2004 als verfassungskonform erachtet, auch im Hinblick auf Art. 103 II GG. Die 5. Kammer des EGMR urteilte hingegen einstimmig, die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung des M. verstoße gegen Art. 5 I und Art. 7 I EMRK. Der Antrag der Bundesregierung auf Verweisung an die Große Kammer wurde abgelehnt, das Urteil ist seit dem 10. Mai 2010 nach Art. 44 II lit. c und Art. 46 EMRK endgültig.
Die Reaktionen auf das Urteil fielen seither unterschiedlich aus. Einerseits werden Ängste in der Bevölkerung geschürt, es könne nun zur Freilassung von mindestens 70 hochgefährlichen Straftätern kommen.[2] Von Seiten der Politik wird das Urteil als „Fiasko“ kritisiert.[3] Die Gewerkschaft der Polizei stellt klar, sie könne sämtliche zu entlassende Täter nicht rund um die Uhr überwachen.[4] Die Sorge der Bevölkerung erscheint verständlich, ist doch die kriminelle Karriere des M. typisch für viele Sicherungsverwahrte.[5] 1957 geboren, wurde er seit seinem 15. Lebensjahr vielfach verurteilt und befand sich seither nur wenige Wochen in Freiheit.[6]
Anderseits wird das Urteil als Erfolg für den Rechtsstaat und überfällige Eingrenzung der ausufernden Sicherungsverwahrung begrüßt.[7] Deutschland müsse sich endlich vom „Sicherheitswahn“ verabschieden.[8]
Nach einem Überblick (B.) über die Geschichte und Ausweitung der Sicherungsverwahrung als Maßregel sowie die Bedeutung und Ausprägungen des Art. 7 EMRK soll im Folgenden die Frage beantwortet werden, inwiefern die Analyse des EGMR überzeugt und die Sicherungsverwahrung eine Strafe im Sinne des Rückwirkungsverbots der Art. 103 II GG sowie Art. 7 EMRK darstellt (C.). Sodann soll ein Ausblick auf mögliche Auswirkungen des EGMR Urteils gewagt werden (D.).
B. Einführung in die Sicherungsverwahrung und Art. 7 EMRK
I. Die Sicherungsverwahrung im Überblick
Im deutschen Strafrecht wird auf der Rechtsfolgenseite einer Straftat zwischen Strafen (§§ 38 f. StGB) sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61 f. StGB) unterschieden.[9] Während sich die Strafe auf die Schuld des Täters bezieht und diese vergelten soll, stellen Maßregeln allein auf die Gefährlichkeit des Täters ab und sollen die Allgemeinheit vor diesem schützen.[10] Auch die Sicherungsverwahrung der §§ 66 f. StGB ist eine Maßregel, im Gegensatz zu § 63 StGB richtet sie sich jedoch gegen schuldfähige Täter.
1. Ursprung der Sicherungsverwahrung und des Maßregelrechts
Die Geschichte der Sicherungsverwahrung ist eng mit der Geschichte der sog. Zweispurigkeit des Sanktionensystems verknüpft und verdeutlicht ihre grundlegenden Probleme.
Der erste Versuch einer klaren Trennung zwischen Strafe und präventiven Sicherungsmitteln findet sich nach Ernst Ferdinand Klein im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794.[11] Er wurde allerdings nach fünf Jahren zugunsten einer Sicherungsstrafe wieder aufgegeben, denn beide Sanktionen wurden gleich vollstreckt.[12]
Der Ursprung des Maßregelrechts wird letztendlich aber als ein Produkt des Schulenstreits zwischen der modernen und der klassischen Schule angesehen.[13] Das Marburger Programm Franz v. Liszts 1882 benannte das spezialpräventive Ziel der Maßregeln, den Weg dahin wies sodann Carl Stooss mit der Unterscheidung zwischen Strafen und sichernden Maßnahmen in seinem Vorentwurf zum Schweizer Strafgesetzbuch im Jahr 1893.[14] Hervorzuheben sind die hohen Voraussetzungen, welche Stooss für eine sichernde Verwahrung rückfälliger Straftäter forderte, unter anderem eine Höchstbegrenzung auf 20 Jahre und ein eigenes Gebäude.[15]
Zwar sah sich die Sicherungsverwahrung seit ihrem Ursprung erheblicher Kritik ausgesetzt.[16] Auch der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch von 1909 forderte stattdessen eine Strafschärfung wegen Rückfalls, da praktische Unterschiede nicht gegeben seien.[17] Dennoch enthielten sämtliche weitere Entwürfe für ein deutsches Strafgesetzbuch den Wunsch nach einer Sicherungsverwahrung und einem zweispurigen Sanktionensystem.[18] Dem Wunsch kam der nationalsozialistische Gesetzgeber 1933 mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ nach.[19] Diese sind in Anbetracht ihres Ursprungs aber nicht als nationalsozialistisches Unrecht anzusehen.[20]
Nach 1945 wurden die Maßregeln der Besserung und Sicherung im Wesentlichen unverändert in das Strafgesetzbuch übernommen, 1969 wurde die Sicherungsverwahrung erstmals geändert, um nicht mehr bloß „gemeinlästige“ Täter zu erfassen.[21]
2. Zweck und Legitimation der Sicherungsverwahrung
Als kriminalpolitisch notwendig werden Maßregeln wie die Sicherungsverwahrung insbesondere im Hinblick auf die Bindung der Strafe an das Schuldprinzip erachtet.[22] Das Schuldprinzip kommt in § 46 I StGB zum Ausdruck und ist im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) und der in Art. 1 I GG geschützten Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person verankert.[23] Da sich Schuld und Gefährlichkeit eines Täters nicht unbedingt entsprechen, kann durch Maßregeln dennoch ein umfassender Rechtsgüterschutz gewährleistet werden.[24]
[...]
[1] EGMR M./D, Urt. v. 17.12.2009, Nr. 19359/04, unv. (im Folgenden: EGMR M./D). Auf Deutsch wird zitiert aus EuGRZ 2010, 25; Auszüge des Urteils finden sich auch bei StV 2010, 181; NStZ 2010, 263.
[2] Bild v. 19.12.2009,„Wer schützt uns vor diesen Richtern?“, abgerufen am 20.5.2010 unter www.bild.de.
[3] Bayerische Justizministerin Merk, FAZ v. 12.5.2010, „Zustand nicht hinnehmbar“, S. 6.
[4] GdP-Bundesvorsitzender Freiberg am 12.5.2010, abgerufen am 30.5.2010 unter www.gdp.de.
[5] Kinzig, NStZ 2010, 233 (233).
[6] So prägnant EGMR M./D, § 7; BVerfGE 109, 133 (141).
[7] So u.a. Kinzig, SZ v. 15.1.2010, „Strafe nach der Strafe“, S. 2; Staatsrechtler Darnstädt, SPIEGEL Online v. 19.1.2010, „Das Böse und die Sühne“, abgerufen am 12.5.2010 unter www.spiegel.de.
[8] Kreuzer, FAZ v. 11.3.2010, „Soforthilfe in jedem Fall“, S. 8.
[9] Krey, AT I, § 3, Rn 78.
[10] Strathenwerth/Kuhlen, AT I, § 1 Rn 37f.
[11] Milde, S. 5. Vgl. etwa § 5 II 20 ALR, nach welchem dem gemeinen Wesen gefährlich werdende Diebe nicht eher entlassen wurden „als bis sie ausgewiesen haben, wie sie sich auf eine ehrliche Art zu ernähren im Stande sind“.
[12] Kinzig, S. 9 m.w.N.
[13] Mushoff, S. 9, die Maßregeln als „Nebenprodukt“ der herrschenden Straftheorie bezeichnend; ebenso Frisch, ZStW 102, 343 (347): „pragmatische Auflösung des Schulenstreits“. Für einen Überblick über die Straftheorien vgl. Mushoff, S. 99-201.
[14] Frisch, ZStW 102, 343 (345f.), nach V. Liszt sollte das Ziel durch eine einspurige Sicherungsstrafe erfüllt werden.
[15] Vgl. Art. 23 des Vorentwurfes zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch von 1893, näher Kinzig, S. 10f.
[16] Eingehend Kinzig, S. 11 und 15.
[17] Mushoff, S. 16.
[18] Für die einzelnen Entwürfe vgl. Milde, S. 8f.
[19] RGBl. I 1933, S. 995.
[20] Finger, S. 28; Kinzig, S. 27; jedoch mit Hinweis auf eine über die Gesetzesentwürfe erheblich hinausgehende Ausgestaltung und Anwendung der Sicherungsverwahrung im Nationalsozialismus.
[21] Näher Mushoff, S. 25.
[22] Roxin, AT I, § 3, Rn 63.
[23] BVerfGE 20, 323 (331); 86, 288 (313).
[24] Finger, S. 104 m.w.N.