Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Dr. Watsons Funktion innerhalb der Erzählungen
2.1 Die Watson-Perspektive
2.2 Dr. Watson versus Sherlock Holmes
2.3 Die falsche Lösung
3 Dr. Watson und der Leser
3.1 Sympathieträger und Identifikationsfigur
3.2 Zwischen Ver- und Bewunderung
3.2.1 Sympathielenkung und Charakterisierung des Detektivs
3.2.2 Sympathielenkung und Charakterisierung der übrigen Figuren
3.3 Mehr als nur Fiktion?
4 Schlussbetrachtung
5 Bibliographie
1 Einleitung
Der Autor Hesketh Pearson schreibt in einem seiner Werke, das das Leben Arthur Conan Doyles behandelt:
“Like Hamlet, Sherlock Holmes is what every man desires to be; like Don Quixote, he is a knight-errant who rescues the unfortunate and fights single-handed against the powers of darkness; and like Quixote he has a Sancho Panza in the person of Dr. Watson.“[1]
Wie Sancho Panza in Miguel de Cervantes Roman tritt auch Watson ‚nur’ als Begleiter der Hauptfigur auf. Aus diesem Umstand heraus ergibt sich die Frage, wozu es die Figur Dr. Watson überhaupt braucht, wenn doch Sherlock Holmes der Held sämtlicher Erzählungen ist. Die folgende Arbeit beschäftigt sich daher mit der Fragestellung, welche Funktion Dr. Watson in seiner Rolle als Weggefährte von Sherlock Holmes in Doyles Detektivgeschichten erfüllt. Hierzu soll zum einen betrachtet werden, welchen Zweck die Figur des Dr. Watson hinsichtlich der Erzählungen, als auch in Bezug auf den Rezipienten hat. Vor allem seine Funktion als Ich-Erzähler, Komplementärfigur und Identifikationsfigur soll einer eingehenderen Untersuchung unterzogen werden und bilden den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit.
2 Dr. Watsons Funktion innerhalb der Erzählungen
2.1 Die Watson-Perspektive
In vielen Detektivgeschichten werden der ermittelnde Detektiv und das Geschehen durch einen treuen Begleiter charakterisiert, der als Ich-Erzähler fungiert. Diese so genannte „Watson-Figur“ wurde bereits vor Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes Erzählungen eingesetzt, wie beispielsweise von Edgar Allan Poe, dessen Geschichten um den Detektiv Auguste Dupin von einem anonym bleibenden Ich-Erzähler berichtet werden. Doch erst Arthur Conan Doyle sorgte mit seinen Sherlock Holmes Kurzgeschichten und Romanen für eine weite Verbreitung und Bekanntheit dieser besonderen Erzählperspektive, was schließlich zu dieser Betitelung führte.[2] In der Tat findet die häufige Verwendung der Watson-Perspektive ihre Berechtigung durch ihre zahlreichen Möglichkeiten, die sie einem Kriminalautor eröffnet. In Doyles erstem Sherlock Holmes Roman „Eine Studie in Scharlachrot“ führt Dr. Watson mit einer kleinen Autobiographie in die Geschichte ein und schildert alsbald das erste Zusammentreffen mit Sherlock Holmes. Er berichtet ausführlich von Holmes’ wunderlichen Eigenheiten, die sein Interesse und somit auch bald das der Leser wecken. Nach längerem erfolglosem Grübeln, was wohl Sherlock Holmes’ Profession sei, fertigt er die Liste „Sherlock Holmes- seine Grenzen“ an. Der Leser hat hier die Möglichkeit selbst Überlegungen anzustellen, wobei hinzugefügt werden muss, dass der Leser durch etwaiges Vorwissen zur Figur Sherlock Holmes schon geprägt sein kann. Würde der Detektiv selbst die Geschichte erzählen, so würde dem Leser wohl einiges rätseln vorenthalten werden, da Holmes sämtliche Beobachtungen und Gedanken im Moment ihres Aufkommens offenbaren müsste.[3] Watsons Informationsdefizit bezüglich Holmes’ Gedankengänge führt dazu, dass auch dem Leser die Lösung des Falls bis zum Ende verborgen bleibt, obgleich Holmes den Täter bereits identifiziert hat. Der Leser weiß durch die detaillierten Beschreibungen Watsons zwar genauso viel wie Holmes, kann aber alleine keine Interpretation leisten und ist daher auf dem gleichen defizitären Wissensstand bezüglich der Lösung wie Watson.[4] Dieser thematisiert an einigen Stellen selbst, dass er, trotz gleichem Informationsstand wie Holmes, nicht in der Lage ist, eine Schlussfolgerung aus den vorliegenden Fakten zu ziehen.[5] Die ausführlichen Angaben Watsons erhöhen zudem die „auf das Resultat der Ermittlungen gerichtete Lösungsspannung“[6] beim Rezipienten und die aus der erfolgreichen Lösung des Falles resultierende Bewunderung für den Detektiv.
Sämtliche Sherlock Holmes Geschichten werden von Watson zwar aus der Retrospektive erzählt, stellen aber aus Spannungsgründen immer nur das dar, was Watson zu dieser Zeit gesehen und gewusst hat. Schreibt Watson doch ein mal über zukünftige Ereignisse, so enthalten diese keine für die Lösung des Falls relevanten Informationen, wie beispielsweise in „Das Zeichen der Vier“, als er vorausgreift, was die Klientin Mary Morstan ihm später über ihre Gefühle mitteilt.[7] Durch die Verweigerung wesentlicher Informationen wird die Lösung des Falls bis zum Ende hinausgezögert und die Spannung des Lesers aufrecht erhalten.[8]
In der Geschichte „Die Löwenmähne“ ist Sherlock Holmes ausnahmsweise selbst der Verfasser und thematisiert dabei in indirekter Weise die Wichtigkeit Watsons als Erzähler:
„Ach, wäre er doch nur bei mir gewesen! Was hätte er nicht alles aus einem so wundersamen Vorkommnis und meinem schließlichen Triumph wider jede Schwierigkeit machen können! So aber bin ich wohl oder übel gezwungen, meine Geschichte mit der mir eigenen Schlichtheit zu erzählen.“[9]
Holmes schätzt an Watson, dass er seine gedanklichen Operationen auf eine unterhaltsame Weise darstellen kann, sodass diese weitgehend ihre Sprödigkeit verlieren. Durch seine Fragen und Fehlschlüsse wird die Analyse ins Dialogische aufgelöst und die Gedankengänge des Detektivs für den Leser leichter nachvollziehbar gemacht.[10]
2.2 Dr. Watson versus Sherlock Holmes
Mit dem Detektiv Sherlock Holmes und seinem Begleiter Dr. Watson erschuf Doyle zwei Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite der exzentrische Weiberfeind mit Hang zum Kokain-Genuss und einer Vorliebe für Musik und die Wissenschaft der Deduktion. Auf der anderen Seite der eher unscheinbare Doktor, der nur in Abwesenheit des Detektivs zur Hauptfigur wird, und mit seiner Normalität die breite Masse des Durchschnittslesers verkörpert.
Dr. Watson kann in verschiedenster Hinsicht als Komplementärfigur von Sherlock Holmes betrachtet werden. Watson beschreibt sein Leben als ziellos und eintönig, kann aufgrund seiner Gesundheit nur selten das Haus verlassen und hat keine Freunde, die ihm seinen Alltag interessanter gestalten würden.[11] Um so mehr entwickelt er eine kindliche Neugierde an dem Mysterium ‚Holmes’ und seinen Gepflogenheiten. Dieser erhält regelmäßig jede Sorte von Besucher und ist in seinen arbeitswütigen Phasen kaum an Energie zu übertreffen. Watson bildet somit den ruhigen, alltäglichen Gegenpol zu Holmes’ exzentrischer Persönlichkeit und seiner außergewöhnlichen Lebensweise. Das ruhige Gemüt des Dr. Watson drückt sich ebenfalls in seinen Handlungen aus, welche im Gegensatz zu Holmes ständiger Aktivität eher passiv erscheinen. Watson agiert bei Befragungen, sowie bei der Bekundung des Tatortes, meist als tatenloser Zuhörer und Zuschauer, wohingegen Holmes mit Zwischenfragen, Spurensuchen, etc. aktiv in das Geschehen eingreift. Doch nicht nur charakterlich, sondern auch hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes unterscheiden sich die beiden Komplementärfiguren wesentlich. Watson beschreibt seinen neu gewonnenen Bekannten in „Eine Studie in Scharlachrot“ mit folgenden Worten:
[...]
[1] Pearson, Hesketh, Conan Doyle, His life and art, London 1943, S. 88.
[2] Vgl.: Finke, Beatrix, Erzählsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman, Amsterdam 1983, S. 109.
[3] Vgl.: Depken, Friedrich, Sherlock Holmes, Raffles und ihre Vorbilder, in: Der Detektiverzählung auf der Spur, hg. von Paul Gerhard Buchloh und Jens Peter Becker, Darmstadt 1977, S. 78.
[4] Vgl.: Finke, Beatrix, Erzählsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman, Amsterdam 1983, S. 123.
[5] Vgl. z.B. „Eine Studie in Scharlachrot“, S. 43: „Ich hatte jedoch solch außerordentliche Beweise für die Schnelligkeit seiner Wahrnehmungsgabe erhalten, daß ich nicht daran zweifelte, daß er vieles zu sehen vermochte, was mir verborgen blieb.“ oder in „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“, S. 56: „Ich nehme an, daß ich nicht beschränkter bin als meine Mitmenschen, aber bei meinem Umgang mit Sherlock Holmes deprimierte mich doch immer das Gefühl meiner eigenen Dummheit. Da hatte ich nun gehört, was er gehört hatte, gesehen, was er gesehen hatte, und doch war aus seinen Worten ersichtlich, daß er nicht nur deutlich sah, was geschehen war, sondern auch, was erst geschehen sollte, während mir die ganze Angelegenheit immer noch verworren und grotesk erschien“.
[6] Finke, Beatrix, Erzählsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman, Amsterdam 1983, S. 124.
[7] Vgl.: Doyle, Arthur Conan, Das Zeichen der Vier, Zürich 2005, z.B. S. 65: „Sie hat mir später gestanden, daß sie mich während dieser Fahrt für kalt und herzlos gehalten habe“.
[8] Vgl.: Finke, Beatrix, Erzählsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman, Amsterdam 1983, S. 114.
[9] Doyle, Arthur Conan, Sherlock Holmes’ Buch der Fälle, Zürich 2005, S. 223.
[10] Vgl.: Nusser, Peter, Der Kriminalroman, Stuttgart 2003, S. 86.
[11] Vgl.: Doyle, Arthur Conan, Eine Studie in Scharlachrot, Zürich 2005, S. 25.