Trotz einer bis heute von Kontroversen durchzogenen Rezeptionsgeschichte seiner literarischen Werke hat Theodore Dreiser spätestens seit den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht nur unangefochten Eingang in den Kanon der größten amerikanischen Erzähler gefunden, sondern wird von der Kritik auch übereinstimmend "als bedeutendster amerikanischer Naturalist" (Poenicke 117) gewürdigt. Seinen führenden Rang verdankt der Autor nicht zuletzt seinem Erstroman Sister Carrie, welcher – unbeschadet einer frühen heftigen Welle zeitgenössischer negativer Kritik – seit dieser Zeit gleichsam als Meilenstein, Wegbereiter, und Meisterwerk des amerikanischen Naturalismus gepriesen wird. So hebt Michaels den Roman beispielsweise als "arguably the greatest American realist novel" (377) hervor, und auch Ähnebrink stellt 1971 resümierend fest: "Scholars generally agree that naturalism in the United States came of age in the writings of Theodore Dreiser, whose first novel, Sister Carrie (1900), is a fairly typical work of the movement" (v).
Seinen hohen Rang als naturalistisches Paradigma par excellence büßte der Roman jedoch immer wieder durch kritische Stimmen ein, die eine literarische Konvention monieren, welche innerhalb des Romans ein zentrales Strukturelement darstellt: Gemeint ist ein intrusive narrator, der den Handlungsverlauf immer wieder durch moralische Anmerkungen, philosophische Reflektionen und Kommentare verschiedener Art unterbricht und in diesem Zusammenhang häufig abgewertet wurde. Für Fluck stellt dies beispielsweise eine "eindringliche, wenn nicht gar aufdringlich anmutende Kommentierungsfunktion" (1992, 389) dar, und aus Stolls Perspektive „stören [sie] die Einheit und Prägnanz, … hemmen als statische Blöcke den Verlauf des Geschehens“ (78). Auch Shapiro stellt vernichtend fest: „Dreiser … is at his worst when preaching, when he casts aside his role of narrator to comment and philosophize. His bonus asides to the reader are often monumental bores” (272). [...]
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Theoretische Grundlagen: Realismusansätze von Kolb und Fluck
- 2.1.1. Die Erkenntniskrise des späten 19. Jahrhunderts
- 2.1.1.1. Das Schwinden der Religion
- 2.1.1.2. Ein komplexer werdendes Amerika
- 2.1.2. Die neue Rolle der Literatur
- 2.2. FLUCKS LITERATURVERSTÄNDNIS
- 2.2.1. Realismus als Kommunikationsmodell
- 2.2.1.1. Der literarische Realismus als eine kulturelle Strategie
- 2.2.1.2. Die Dialogfunktion des Textes und seine soziale Funktion
- 2.2.2. Das Experimentierfeld der Fiktion
- 3. Die Absage des Erzählers an ein viktorianisches Wirklichkeitsverständnis
- 3.1. DER LITERARISCHE ROMANTIZISMUS ALS IDEOLOGIETRÄGER DES GENTEEL AGE
- 3.2. EIN IRONISCHER UMKEHRUNGSVORGANG ALS EINE KOMMUNIKATIVE STRATEGIE
- 3.2.1. Der \"Plot of Seduction\"
- 3.2.2. Der Plot des \"courtship and love\"
- 3.2.3. Die Glorifizierung des Zuhauses
- 3.2.4. Die märchenhaften Illusionen Carries
- 4. Das Weltbild des Naturalismus
- 4.1. DER NATURALISTISCHE ERZÄHLER UND DER MORALISCHE FREISPRUCH DER FIGUREN
- 4.2. DIE NATURALISTISCHE BILDLICHKEIT
- 4.2.1. Die Meeresmetaphern
- 4.2.2. Die Tiermetaphorik
- 4.3. DIE DRAMATISIERUNG NATURALISTISCHER WIRKKRÄFTE AM BEISPIEL HURSTWOODS
- 5. Der Erzähler und die Konsumideologie
- 5.1. \"MATERIALISTIC DESIRE\" ALS ZENTRALES MOTIV IM ROMAN
- 5.2. DIE TRANSFORMATIONEN SENTIMENTALER KONVENTIONEN AUF DIE KONSUMWELT UND CARRIES MATERIALISTIC DOWNFALL
- 5.3. STADT ALS ERZEUGER DES DESIRE; SC ALS WELT DES DESIRE
- 5.4. DIE DIALOGFUNKTION DES ERZÄHLERS IN DER KONSUMWELT
- 5.4.1. Die polaren Symbole der kapitalistischen Welt
- 5.5. DIE FASZINATION DES ERZÄHLERS FÜR DIE WELT DES KONSUMS UND DER DAHINTERLIEGENDEN ERSCHEINUNGEN
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit dem dialogischen Modus des Erzählers in Theodore Dreisers Roman Sister Carrie. Sie analysiert die Rolle des Erzählers im Kontext der amerikanischen Realismus- und Naturalismusdebatte des späten 19. Jahrhunderts. Dabei wird ein Theoriemodell von Winfried Fluck verwendet, um die kommunikative Funktion des Erzählers zu verstehen und seine Interaktion mit den Figuren und dem Leser zu untersuchen.
- Die Absage an ein viktorianisches Wirklichkeitsverständnis
- Das Weltbild des Naturalismus
- Der Erzähler und die Konsumideologie
- Die Dialogfunktion des Erzählers im Roman
- Die Transformationen sentimentaler Konventionen im Kontext der Konsumwelt
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung beleuchtet die Rezeptionsgeschichte von Theodore Dreisers Werk und positioniert Sister Carrie als ein bedeutendes Werk des amerikanischen Naturalismus. Die kritischen Stimmen zu dem intrusiven Erzähler, der den Handlungsverlauf unterbricht, werden vorgestellt.
Das zweite Kapitel behandelt die theoretischen Grundlagen des Realismus, die als Ausgangspunkt für die Analyse des Romans dienen. Es werden die Ansätze von Kolb und Fluck vorgestellt, insbesondere Flucks Kommunikationsmodell, das die Bedeutung des Dialogs zwischen Erzähler, Figuren und Leser betont.
Das dritte Kapitel analysiert die Absage des Erzählers an ein viktorianisches Wirklichkeitsverständnis und zeigt, wie er ironisch die romantischen Konventionen des Genteel Age untergräbt. Es untersucht die verschiedenen Plotelemente und ihre Bedeutung für die Figuren, insbesondere Carries Illusionen.
Das vierte Kapitel befasst sich mit dem Weltbild des Naturalismus, das durch die Figur Hurstwood beispielhaft veranschaulicht wird. Es zeigt, wie der Erzähler die naturalistischen Wirkkräfte in der Handlung spiegelt und die moralische Ambivalenz der Figuren thematisiert.
Das fünfte Kapitel analysiert die Rolle des Erzählers in der Konsumwelt des Romans und untersucht, wie das Motiv des "materialistic desire" die Figuren und ihre Handlungen prägt. Es beleuchtet, wie die Stadt als Ort des Konsums die Figuren beeinflusst und wie der Erzähler die Faszination für die Konsumwelt und ihre verborgenen Erscheinungen reflektiert.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den Schlüsselbegriffen des amerikanischen Realismus und Naturalismus, wie etwa "intrusiver Erzähler", "dialogischer Modus", "kommunikative Strategie", "Konsumideologie", "materialistic desire", "naturalistische Bildlichkeit" und "moralische Ambivalenz".
- Arbeit zitieren
- Achim Jäger (Autor:in), 2008, Der dialogische Modus des Erzählers in Theodore Dreisers Roman "Sister Carrie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155563