Die Tarifautonomie im Wandel der Gesellschaft

Die Neugestaltung der industriellen Beziehungen im 21. Jahrhundert


Diplomarbeit, 2010

92 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Teil I: Theoretischer Bezugsrahmen

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Der regulationstheoretische Ansatz
2.2 Die Gewerkschaften
2.3 Die Arbeitgeberverbände
2.4 Der Staat
2.4.1 Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung
2.4.2 Sozialpolitik und Sozialversicherung
2.4.3 Arbeitsverwaltung und Arbeitsmarktpolitik
2.4.4 Einkommenspolitik

3. Die Tarifautonomie als Instrument der industriellen Partner
3.1 Merkmale und Funktionen der Tarifautonomie
3.2 Die Dualität der Tarifautonomie
3.3 Betrachtung der industriellen Beziehungen im Sinn des regulationstheoretischen Ansatzes

Teil II: Die Entwicklung der Tarifautonomie

4. Die Historie der Tarifautonomie
4.1 Die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der Gesellschaft durch den technologischen Fortschritt
4.2 Der gewerkschaftliche Zusammenschluss
4.3 Die Entstehung der Arbeitgeberverbände
4.4 Die Entstehung der Tarifautonomie
4.5 Die Entstehung der industriellen Beziehungen und der Tarifautonomie
4.6 Die Institutionalisierung des Tarifvertragswesens
4.7 Die Tarifautonomie ab 1945

Teil III: Probleme und Lösungsansätze der heutigen industriellen Beziehungen

5. Der Strukturwandel von Gesellschaft und Wirtschaft
5.1 Der Wandel von der Industriewirtschaft zur Dienstleistungswirtschaft .
5.2 Eine neue Definition des Begriffs Arbeitnehmer
5.3 Die Erosion des Flächentarifvertrages und die Gefahr für den Arbeitnehmer

6. Die Dezentralisierung der Tarifautonomie
6.1 Der Mitgliederschwund in den Arbeitgeberverbänden
6.2 Der Mitgliederschwund in den Gewerkschaften
6.3 OT-Mitgliedschaft als Mittel gegen den Mitgliederschwund in den Arbeitgeberverbänden
6.4 Gewerkschaftsmaßnahmen gegen den Mitgliederschwund

7. Öffnungs- und Differenzierungsklauseln
7.1 Öffnungs- und Differenzierungsklauseln zur Dezentralisierung tariflicher Bestimmungen
7.2 Problematik der tariflichen Dezentralisierung durch Öffnungs- und Differenzierungsklauseln

8. Das System der Zielvereinbarungen als dezentrale Verhandlungsform
8.1 Positive Aspekte des Zielvereinbarungssystems
8.2 Negative Aspekte des Zielvereinbarungssystems
8.3 Die Position der Arbeitgeber
8.4 Die Position der Arbeitnehmerinteressenvertretungen und der Gewerkschaften
8.5 Rahmenregelungen für Zielvereinbarungssysteme und die unmittelbaren Folgen für die industriellen Partner

9. Tarifliche Module als Verhandlungssystem
9.1 Das Modell der tariflichen Module
9.2 Kritik an tariflichen Modulen
9.3 Tarifpluralisierung und Tarifkollision

10. Fazit

11. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das deutsche Tarifsystem befindet sich im Umbruch. Die Tariflandschaft un- terliegt einem starken Wandel der Differenzierung und Dezentralisierung. Der Flächentarifvertrag, welcher die Arbeits- und Einkommensbedingungen für eine gesamte Branche regelt, ist nach wie vor prägend. Er deckt aber nur noch einen immer kleiner werdenden Teil der Tariflandschaft ab. Die aktuelle Situa- tion ist das Ergebnis „eines lang anhaltenden, schleichenden Veränderungs- prozesses“ (Bispinck/Schulz/Wagner, 2007, S. 15). Die letzten zwanzig Jahre waren von Flexibilisierung und Dezentralisierung des tariflichen Regelungs- standes geprägt, welche eine zunehmende Verlagerung der Gestaltungs- kompetenz auf die betriebliche Ebene zur Folge hatte (vgl. Bispinck/ Schulz/Wagner, 2007, S. 15).

Diese Entwicklung hin zu einer betriebsnahen Tarifpolitik hat dazu geführt, dass sich die Organisationsstrukturen der Tarifpartner neu formieren mussten. Die Tarifpolitik der Tarifpartner muss sich auf ein grundlegend gewandeltes Verhältnis von Tarif- und Betriebspolitik einstellen. Das gilt gleichermaßen für Gewerkschaften, Arbeitgeber und den Staat. Ein globaler Wettbewerb und der damit einhergehende Druck von Finanz- und Kapitalmärkten bei einer gleichzeitig hohen Arbeitslosigkeit hat zu einer Verschiebung der Kräfte zwischen den Tarifpartnern geführt. (vgl. Peters/Huber, 2007, S. 13)

Einerseits sind Unternehmen von diesen wirtschaftlichen Entwicklungen be- troffen. Sie fühlen sich durch die Arbeitgeberverbände nicht mehr genügend vertreten und sehen daher ihre Chance in einem Austritt aus einem Flächenta- rifvertrag oder sogar in dessen Vermeidung. Sie empfinden oftmals die Konditionen von Lohn- und Arbeitsbedingungen in einem Tarifvertrag als Hemmnis, weil die Konkurrenz ihrer Meinung nach unter besseren und kosten- günstigeren Bedingungen produzieren kann. Sie können nicht mehr an- gemessen und schnell auf eine veränderte Marksituation reagieren, weil sie durch einen Flächentarifvertrag an das System gebunden sind. Was ihnen ei- gentlich Planungssicherheit bieten soll, wird für sie zur Existenzbedrohung. (vgl. Artus, 2001, S. 118f.)

Andererseits werden auch die Arbeitnehmer und Gewerkschaften unter Druck gesetzt, weil viele Arbeitgeber die Lösung in einer Senkung der Arbeitskosten sehen. Dadurch werden, wenn es um die Aushandlung von Lohn- und Arbeitsbedingungen geht, die Arbeitnehmer und ihre Interessensvertretungen zu Kompromissen gezwungen, die zur Sicherung des Arbeitsplatzes den Abbau von Löhnen und Veränderungen der Arbeitsbedingungen zur Folge haben. (vgl. Peters/Huber, 2007, S. 13)

In dieser Arbeit geht es um die Fragestellung: Kann die Tarifautonomie die Anforderungen der industriellen Partner Gewerkschaft, Arbeitgeber und Staat noch erfüllen und welche Möglichkeiten bieten sich, die Tarifautonomie so umzugestalten, dass sie für die Partner wieder zu einem Verhandlungsinstru- ment wird, welches die Ordnungs- und Planungssicherheit für diese sichert? Um diese Frage beantworten zu können, müssen verschiedene Aspekte be- leuchtet werden. So muss geklärt werden, ob die industriellen Partner auf die wirtschaftlichen Veränderungen angemessen reagieren und ob Arbeitgeberver- bände und Gewerkschaften als Tarifpartner immer noch die richtigen Vertretungsinstanzen für ihre Mitglieder sind. Es muss festgestellt werden, ob die Schutzmechanismen der Tarifautonomie, welche durch die Flächentarifver- träge festgeschrieben werden, immer noch praktikable Lösungen für die industriellen Partner bieten. Das Instrument Tarifautonomie ist für die Pla- nungssicherheit der Arbeitgeber und die Einkommenssicherheit der Arbeit- nehmer wichtig. Fraglich ist, ob das Instrument immer noch seine Ordnungs- und Schutzfunktion erfüllen kann, wenn ausländische Konkurrenten, die nicht an deutsche Tarifverträge gebunden sind, deutsche Unternehmen durch Unter- bietung aus dem Markt ausschließen können. Hier muss geklärt werden, wie die Tarifautonomie einen globalen Preiswettbewerb der Unternehmen mit den Forderungen der Gewerkschaften nach gerechten Lohn- und Gehaltsregelungen sowie geregelten Arbeitsbedingungen vereinen kann.

Diese Arbeit gibt im ersten Teil einen theoretischen Überblick zu den industri- ellen Partnern. Als Grundlage für die Überlegungen, die hinter den Handlungen der industriellen Partner stehen, soll erst der regulationstheoretische Ansatz vorgestellt werden. Mit der Vorüberlegung zu diesem theoretischen Ansatz soll gezeigt werden, welche Funktionen und Aufgaben die industriellen Partner haben. Es werden die Strukturen der Gewerkschaften und Verbände, sowie staatliche Maßnahmen aufgezeigt. Es soll ersichtlich werden, welche Stellung die industriellen Partner in ihren Beziehungen untereinander haben und wie das Kräfteverhältnis unter ihnen verteilt ist. Es soll herausgestellt werden, welchen Stellenwert die Tarifautonomie als Instrument für die industriellen Partner hat und damit auch, welchen Einfluss sie auf deren Beziehungen hat.

Im zweiten Teil wird anhand eines Überblicks der geschichtlichen Entwicklung aufgezeigt, durch welche Veränderungen es zu dem heute etablierten System der industriellen Beziehungen gekommen ist. Damit soll klar werden, wie das Zusammenspiel der industriellen Partner zustande kommt und wie sich ihre Einflussnahme auf die Entwicklung der Tarifautonomie bis heute auswirkt. Dies verdeutlicht, warum das heutige Verhältnis der industriellen Partner sich als so schwierig gestaltet und die Tarifautonomie in der Kritik steht.

Im dritten Teil werden die aktuellen Probleme der industriellen Partner anhand ausgesuchter Problemfelder geschildert. Dazu muss der Status des Arbeitneh- mers in der Arbeitswelt betrachtet werden und wie dieser sich, nach der geschichtlichen Entwicklung, in das Bild der heutigen industriellen Beziehun- gen einfügt. Dadurch werden mögliche Gründe aufgezeigt, weshalb die Forderung nach einem neuen Tarifsystem berechtigt sein könnte. Wenn ein neues System der tariflichen Verhandlung gefordert wird, ist auch eine Klärung der Auswirkungen von Öffnungs- und Differenzierungsklauseln auf die Ent- scheidungsprozesse der Tarifpartner nötig. Es werden damit Begründungen geliefert, warum diese Klauseln zu einer Dezentralisierung der tariflichen Ver- handlungsebenen führen. So kann auch eine Begründung für die Abnahme der Mitgliederzahlen in den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften geliefert werden, welche ein Problem darstellt. Es werden Maßnahmen der Tarifpartner aufgezeigt, die diesen Schwund stoppen sollen. Dazu wird die praktische An- wendungsmaßnahme der Zielvereinbarungssysteme näher betrachtet, die als Managementkonzept einen hohen Stellenwert auf der Ebene der betrieblichen Verhandlungen einnimmt, aber von den Tarifpartnern unterschiedlich aufge- fasst wird. Hierbei sollen die Schwierigkeiten aufgezeigt werden, welche die industriellen Partner bei der Einführung und Umsetzung eines variablen Ent- geltsystems haben, weil sie durch ihre Organisationsstrukturen und durch den Gesetzgeber an eine Vielzahl von Bestimmungen gebunden sind. Dadurch wird klar, warum eine mögliche Neustrukturierung der tariflichen Verhandlungs- ebenen nötig ist. Als ein zukünftiges mögliches Mittel zum Erhalt der Tarifautonomie wird das Instrument der tariflichen Module vorgestellt, wel- ches zur Entschärfung der Konflikte dienen könnte. Es soll gezeigt werden, dass neue Organisationsstrukturen innerhalb der industriellen Beziehungen möglich sind und wie diese aussehen könnten. Dabei werden zum einen die Schwierigkeiten aufgezeigt, die bei der Umsetzung entstehen können, zum anderen aber auch die Vorteile beleuchtet, die eine Einführung tariflicher Mo- dule mit sich bringen kann.

Teil I: Theoretischer Bezugsrahmen

2. Theoretische Grundlagen

2.1 Der regulationstheoretische Ansatz

Aussagen über die industriellen Beziehungen zu treffen ist nur dann möglich, wenn man Kenntnis über die Verfahrensweise der industriellen Partner hat und wie sich diese Verfahrensweise auf das gesamtwirtschaftliche System auswirkt (vgl. Naumann, 2005, S. 14). Einen möglichen Erklärungsansatz liefert hier die Regulationstheorie. Sie ist der theoretische Handlungsrahmen, auf den in dieser Arbeit Bezug genommen werden soll. Die Regulationstheorie soll aufzeigen, auf welchen funktionalen Grundelementen eine kapitalistische Gesellschaft aufbaut, um ihre Stabilität nachhaltig aufrechtzuerhalten (vgl. Naumann, 2005, S. 15).

Die Schlüsselbegriffe des regulationstheoretischen Ansatzes sind nach Hirsch (1990, S. 19) das ‚Akkumulationsregime’ und die ‚Regulationsweise’. Mit dem Akkumulationsregime ist die systematische Verteilung und Umverteilung des gesellschaftlichen Produkts gemeint, wodurch über einen bestimmten Zeitraum eine Übereinkunft für die Beziehungen der Partner gefunden wird, welche zwi- schen den Veränderungen der Produktionsbedingungen1 und den veränderten Bedingungen des Endverbrauchs2 vermittelt. Mit Regulationsweise werden die die Rahmenbedingungen für dieses Verteilungskonzept bezeichnet. Sie schließt die Gesamtheit der institutionellen Formen, Netzwerke und Normen, welche die Vereinbarkeit von Verhaltensweisen im Rahmen eines Akkumulationsre- gimes sichern und regeln, ein. (vgl. Hirsch, 1990, S. 19)

Die Regulationstheorie stellt die Frage „weshalb der Kapitalismus trotz der im Kapitalverhältnis wurzelnden Widersprüche bislang überdauern konnte, wes- halb Phasen relativ stabilen Wachstums in epochale Stagnations- und Krisen- perioden übergehen können [...]“ und „[...] weshalb sich der Charakter der Kri- sen wie der mit ihnen verbundenen politischen und sozialen Konflikte im historischen Verlauf ändert“ (Hirsch, 1990, S. 17). Die Antwort liegt nach dem regulationstheoretischen Ansatz in der Unterscheidung zwischen der allgemei- nen, im Zeitablauf durchhaltenden kapitalistischen Grundstruktur, also dem Produktionsverhältnis und den sich historisch verändernden ökonomischen Reproduktionsweisen, institutionellen Formen, gesellschaftlichen Normen und Verhaltensorientierungen. Die Reproduktionsweisen und die institutionellen Formen, sowie die gesellschaftlichen Normen und die Verhaltensorientierun- gen bringen zeitweise die „gesellschaftlichen Antagonismen und Konflikte“ (Hirsch, 1990, S. 17) in einer Form hervor, die sie mit den Bedingungen des Verwertungs- und Akkumulationsprozesses vorübergehend vereinbar machen. „Allerdings kann dies nicht dauerhaft gelingen: früher oder später müssen die gesellschaftlichen Widersprüche in [...] Krisen zum Ausdruck kommen“ (Hirsch, 1990, S. 17).

Die Krise wurzelt in einem durch die „Profitrate bedingten Erlahmen der Ak- kumulation“ (Hirsch, 1990, S. 18). Die Krise kann dann nur noch überwunden werden, wenn neue technisch-soziale Produktions- und Reproduktionsbedin- gungen geschaffen werden und sich ein darauf bezogenes verändertes insti- tutionelles Gefüge durchsetzt. Eine kapitalistische Gesellschaft beruht also nicht nur auf abstrakten Tauschvorgängen, sondern umfasst auch konkrete In- dividuen, dessen Interessen und Wertvorstellungen nie mit dem Waren- verhältnis der Reproduktion übereinstimmen. (vgl. Hirsch, 1990, S. 18)

Beteiligt an den Tauschvorgängen sind staatliche wie nichtstaatliche Akteure in Form von Organisationen und Institutionen, zu denen auch die industriellen Partner und somit die Tarifautonomie zählt (vgl. Naumann, 2005, S. 16). Das heutige Akkumulationsregime hat sich durch eine ganz bestimmte Regulations- strategie über einen langen Zeitraum stabilisiert und reproduziert sich fort- laufend. Es hat einen spezifischen Regulationsmodus herausgebildet, um der unbestimmten, aber antagonistischen Natur des Kapitals als gesellschaftliches Verhältnis auf verschiedenen Ebenen stabilisierend entgegenzuwirken (vgl. Naumann, 2005, S. 17). Das bedeutet, dass es eine strukturelle Kopplung zwi- schen den treibenden und den relativierenden Kräften innerhalb eines Akku- mulationsregimes geben muss, wenn eine Regulationsweise ihre stabilisierende Funktion langfristig aufrechterhalten soll (vgl. Naumann, 2005, S. 17). Die Sicherung der Kapitalverwertung, also eine ausreichende Profitrate als grund- legende Bestandsbedingung für das Handeln der industriellen Partner, ist der Grund für dieses Verhalten (vgl. Naumann, 2005, S. 17). Aber darin liegt auch die Tendenz zur Krise. Was passiert, wenn diese Profitrate sinkt? Es kann nicht von einem reinen Wirken des Wertgesetzes und von eigenlogischen ökonomi- schen Prozessen im Kapitalismus ausgegangen werden (vgl. Naumann, 2005, S. 17). Es ist genau diese Krisentendenz, die sich eben nicht in Form einer linearen Logik durchsetzt, sondern durch Gegentendenzen relativiert wird, die ihre Basis in spezifischen sozialen Kräfteverhältnissen und Strategien haben (vgl. Naumann, 2005, S. 17; Hirsch, 2001, S. 42f.).

Also ist es nur durch eine Krise möglich, einen neuen Akkumulationstypen zu entwickeln. Denn jede Organisation der industriellen Partnerschaft versucht sich, innerhalb der herausgebildeten Grenzen des Akkumulationsregimes, den jeweiligen gesellschaftlichen Veränderungen so anzupassen, um den größtmög- lichen Nutzen für sich herauszuziehen. Die industriellen Partner werden sich nur dann auf eine neue Ebene der Verhandlung einlassen, wenn sich die soziale und die ökonomische Umwelt in der Art verändern, dass die Profitrate nicht mehr ausreichend ist.

Die Suche nach einer Konfliktlösung ist demnach für Arbeitgeber, Arbeitneh- mer und Gesetzgeber eine überlebenswichtige Angelegenheit, um einen Macht- status zu erhalten und weiterzuentwickeln (vgl. Naumann, 2005, S. 21). So ist der Aufbau von industriellen Beziehungen in Form von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die als gleichberechtigte Partner die Aushandlung von Tarifverträgen durchführen, nach dem Gedanken der Regulationstheorie der logische Schritt, um ein ausgeglichenes Machtverhältnis aufzubauen (vgl. Naumann, 2005, S. 22). Dieses Machtverhältnis bietet den Arbeitnehmerver- bänden Vorteile, wie z. B. langfristige Planungssicherheit und Friedenspflicht in den Betrieben. Für die Arbeitnehmer bietet es die Möglichkeit, den sozialen Status zu verbessern. Durch die Schaffung solch eines Machtgleichgewichts der industriellen Partner wird die wirtschaftliche Lage stabilisiert (vgl. Nau- mann, 2005, S. 23). Deshalb meine ich, dass man die Entstehung und stetige Weiterentwicklung der Tarifautonomie, in Verbindung mit einer gesellschaftli- chen Veränderung, als regulationstheoretisches Phänomen bezeichnen kann.

2.2 Die Gewerkschaften

Eine Gewerkschaft im heutigen Sinne besitzt den Charakter einer vermitteln- den oder einer intermediären Institution (vgl. Müller-Jentsch, 2008, S. 52). Die Interessen der einzelnen Arbeitnehmer werden in Gewerkschaften gebündelt, indem sie als Mitglieder ihre Forderungen einbringen. Die Interessen der so kollektivierten Arbeitnehmer werden durch die Gewerkschaften, als ihr vertre- tendes Organ gegenüber den Kapitalinteressen der Unternehmen vertreten. Müller-Jentsch hat diese Interessenvermittlung als „[…] das Ergebnis pragma- tischer Vermittlung zwischen Kapital- und Systeminteressen auf der einen Seite und Arbeiter- bzw. Mitgliederinteressen auf der anderen Seite […]“ (Müller-Jentsch, 2008, S. 52) bezeichnet. Die Sichtweise, dass es sich bei Ge- werkschaften um intermediäre Organisationen handelt, beruht auf der historischen Veränderung der gesellschaftlichen Stellung, welche die Gewerk- schaften in Westeuropa im 20. Jahrhundert einnahmen (vgl. Müller-Jentsch, 2008, S. 52). Eine Begründung dafür liefert Götz Briefs mit seiner Gewerk- schaftstheorie, in der er feststellt, dass sich die klassische Arbeiterbewegung der frühen Jahre der Industrialisierung zu einer befestigten Bewegung weiter- entwickelt hat, wie man sie heute vorfindet. Diese Entwicklung hing im Wesentlichen von drei Punkten ab (vgl. Müller-Jentsch, 2008, S. 52):

1) Die Gesetzgebung, die Arbeitgeber und die öffentliche Meinung er- kannten die Gewerkschaften voll an.
2) Die Gewerkschaften erzeugten Stabilität und Sicherheit gegenüber wirtschaftlichen Schwankungen.
3) Es wurden ihnen öffentliche Funktionen und Verantwortungen zuge- wiesen, welche die Gewerkschaften zu öffentlichen Körperschaften werden ließen.

Briefs erkennt bereits im frühen 20. Jahrhundert, dass die Gewerkschaft eine Veränderung durchmacht, weg von der abhängigen Variablen im Wirtschafts- prozess, hin zu einer unabhängigen Variable, die den Wirtschaftsprozess, wenn nicht sogar gesellschaftliche Prozesse, verändern kann (vgl. Briefs, 1952, S. 103). Die Gewerkschaft erfüllt eine Außen- sowie eine Innenfunktion. Sie gilt nach außen als ein Arbeitsmarktkartell und Kampfverband, welcher den Arbeitsmarkt überschaubar macht, organisiert und die Bedingungen der Ar- beitsverhältnisse gemäß den Interessen ihrer Mitglieder regelt (vgl. Müller- Jentsch, 1997, S. 86). Nach innen ist die Gewerkschaft eine Organisation, die sich über die Ziele ‚mutal insurance’, collective bargaining’, und ‚legal enact- ment’ definiert (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 85). Die ‚mutual insurance’ als die älteste Funktion, dient der gegenseitigen Unterstützung infolge sozialer oder persönlicher Notfälle, Arbeitslosigkeit oder Maßregelung durch den Ar- beitgeber (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 86). Das ‚collective bargaining’ ist die eigentliche und zentrale Aufgabe der Gewerkschaft, nämlich die Tarifpolitik. Das ‚legal enactment’ meint die politische Einflussnahme auf die Gesetz- gebung zugunsten der Arbeiter (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 86).

Die Gewerkschaft ist also gleichzeitig ein kollektives Instrument der Arbeiterschaft für den Widerstand- und Arbeitskampf gegen das Kapital und ein Mitproduzent und Mitgestalter der industriellen Beziehungen mit dem Kapital. Sie kann also nicht in den Wirtschaftsprozess integriert werden und Rolle des Vermittlers zwischen der Arbeiterschaft und den Unternehmens ein. (vgl. Müller-Jentsch, 2008, S. 53 sowie 1997, S. 82f.)

2.3 Die Arbeitgeberverbände

Der Organisation von Arbeitgeberverbänden wird in der Literatur weniger Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Erklärung für diesen Mangel sind die Zu- gangsprobleme. Denn Unternehmerzusammenschlüsse gelten, bezüglich der Verbandsinterna als publizitätsscheu und weniger auskunftsfreudig als Ge- werkschaften, was die Auskunft über Mitgliederzahlen und Finanzen angeht. Ein weiterer Grund ist das Interesse der soziologischen und politikwissen- schaftlichen Forschung in der Form der Organisationen. Die Gewerkschaften sind als Massenorganisationen welche einen Status Quo verändern wollen, aus inhaltlichen Gründen wesentlich attraktiver als die Unternehmerverbände. (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 160)

Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum Unternehmer ein Interesse an einer gemeinsamen Organisation haben. Denn im Gegensatz zum Arbeitnehmer, der seine sozialökonomischen Interessen nur durch eine Koalition mit seinesglei- chen durchsetzen kann, kann der einzelne Unternehmer seine wirtschaftlichen Interessen primär über den Markt und mit Hilfe betrieblicher Aktionsparameter wie z. B. durch Anreiz- und Kontrollsysteme sowie durch Rationalisierung der Belegschaft kompensieren (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 160).

Das Interesse sich zu organisieren, besteht für Unternehmer darin, die Konkur- renz zu beschränken. Gewerkschaften haben das Problem der nicht organisier- ten Trittbrettfahrer, die durch die Aushandlung von Tarifverträgen profitieren, ohne dabei selbst die Gefahren eines Streiks tragen zu müssen. Für die Unter- nehmer kann das Problem entstehen, dass die Konkurrenz durch einen Streik, den ein einzelner Unternehmer in seinem Betrieb führen muss, die Möglichkeit erhält, diesen Marktvorteil auszunutzen (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 161). Durch die Solidarisierung in Verbänden können Unternehmer die Gefahr einer für sie unkontrollierbaren Marktsituation verringern. Es liegt also im Interesse des Kapitals, bestimmte Interessen und Gefahren solidarisch zu tragen. So werden drei Gründe genannt, die zu einer Organisierung der Kapitalinteressen führen können, wenn es um die Machtverteilung von Arbeit und Kapital kommt (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 163):

1. Es besteht eine Gefährdung der Marktposition durch ausländische Konkurrenz und Abhängigkeit von Rohstofflieferanten.
2. Es entsteht eine Bedrohung des Eigentums und der dadurch gegebe- nen Marktvorteile durch die Mobilisierung und Organisation der Arbeiterschaft.
3. Die Risiken politischer Regelungen und Eingriffe, die vom Sozial- und Interventionsstaat ausgehen, sind nicht abschätzbar.

Die Arbeitgeberverbände bilden in den industriellen Beziehungen den Gegenpol zu den Gewerkschaften. Sie fordern den Abbau von kollektiven Schutzvorkehrungen zu Gunsten von individuellen Lösungen, welche den Arbeitgebern die Handlungsfähigkeit vereinfachen sollen.

2.4 Der Staat

Neben der Arbeit und dem Kapital ist der Staat die dritte Partei, die in die in- dustriellen Beziehungen eingreift. Der Staat ist nach der traditionellen Staats- theorie formal in drei Gewalten aufgeteilt: Legislative, Judikative und Exekuti- ve. Um den Zusammenhang zu den anderen Akteuren der industriellen Beziehungen herzustellen, ist diese Unterteilung jedoch zu abstrakt. Zur Ver- anschaulichung der Wirkungsweise von staatlichen Eingriffen auf die sozial- staatlichen und wirtschaftspolitischen Funktionen, muss eine weitere Auftei- lung vorgenommen werden. Hierzu sollen vier Bereiche betrachtet werden, welche für die industriellen Beziehungen von Belang sind. (vgl. Müller- Jentsch, 1997, S. 302)

1. Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung
2. Sozialpolitik und Sozialversicherung
3. Arbeitsverwaltung und Arbeitsmarktpolitik
4. Einkommenspolitik

2.4.1 Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsrechtsprechung

Die staatliche Gesetzgebung und die Arbeitsrechtsprechung haben mit dem Koalitions- und Arbeitskampfrecht, dem Tarifvertragsrecht sowie dem Be- triebsverfassungs- und Mitbestimmungsrecht ein System geschaffen, welches die kollektiv organisierten Akteure rechtlich eng aneinander bindet. Es gibt ein dichtes Netz von regulierenden Prozeduren und eine rechtliche Einfriedung der industriellen Konflikte (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 303). Die Setzung von Rechtsnormen soll Konflikte zwischen Arbeit und Kapital regeln. Mit Hilfe dieser Regelungen wird die Sicherheit geschaffen, dass die Verhandlungspar- teien sich nicht gegenseitig übervorteilen. Zur Veranschaulichung der staat- lichen Regulation dient die Tabelle 1.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Müller-Jentsch, 1997, S. 304

Anhand der Übersicht wird ersichtlich, dass die Rechtsprechung hier eine fundamentale Rolle einnimmt. Die gesetzlichen Vorgaben des GG, TVG und BetrVG sind hier die maßgeblichen Rechtsnormen, die Gerichtsbarkeit ist aber hier mit der Aufgabe betraut, die Gesetze zu interpretieren und zwischen den Tarifparteien die Spielregeln festzulegen.

2.4.2 Sozialpolitik und Sozialversicherung

Die Sozialversicherung war ursprünglich als eine Versicherung für den Arbei- ter gedacht. Die Sozialpolitik ist heute eine Einrichtung des Staates, um die soziale Sicherung der Bürger zu gewährleisten. (vgl. Schulin, 2005, S. XIII)

Die allgemeine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung, insbesondere die Auswirkungen der Industrialisierung, veranlasste die Regie- rung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Schaffung einer einheitlichen Sozialversicherung. Diese sollte als Gegenmaßnahme zur sozialdemokrati- schen Entwicklung im Lande eingesetzt werden. Der Staat wollte dadurch den Zulauf zu den sozialdemokratisch geprägten Gewerkschaften unterbinden, wel- che bedürftige Arbeitnehmer aus ihren Kassen bezahlten und somit zu einer Bedrohung für die Staatsmacht wurden. Der arbeitgeberfreundliche Staat wur- de durch das gewerkschaftliche Handeln dazu gezwungen, die Machtsituation im Land zu überdenken und eine Lösung für die Belange der industriellen Partner zu finden, welche die innere Ruhe im Land sicherte. So wurde die So- zialversicherung mit einer kaiserlichen Botschaft am 17.11.1881 ins Leben gerufen. In dieser Botschaft ging es inhaltlich um die Heilung von sozialen Schäden der sozialdemokratischen Ausschreitungen, welche in der gleichmäßig positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Es sollten dem Vaterland neue und dauernde Bürgschaften für einen inneren Frieden ge- geben und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes zugestanden werden. (vgl. Schulin, 2005, S. XII)

In den darauf folgenden Jahren wurden die folgenden gesetzlichen Regelungen durch den Reichstag und die Bundesregierung erlassen (vgl. Schulin, 2005, S. XII; Müller-Jentsch, 1997, S. 307):

- Gesetz der Arbeitnehmerkrankenversicherung vom 15. Juni 1883
- Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884
- Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889
- Arbeitslosenversicherung von 1927 durch das Gesetz der Arbeits- vermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG)
- Soziale Pflegeversicherung von 1994

Die wesentlichen Merkmale der Sozialversicherung haben bis heute in weiten Teilen ihre Bedeutung behalten. Zu diesen gehören die gegliederte Versicherung, die Pflichtversicherung, die Beitragsfinanzierung, begrenzte Staatszuschüsse, Rechtsansprüche auf die Leistungen ohne Bedürftigkeitsprüfung und die Selbstverwaltung. (vgl. Schulin, 2005, S. XII).

Die Sozialversicherung hat sich seit Erlassung der ersten Gesetze bis heute gewandelt. Bei ihrer Schaffung zum Ende des 19. Jahrhunderts erfasste die Sozialversicherung etwa 18% der Gesamtbevölkerung. Im Laufe der Jahre entwickelte sie sich aber zu einer Volksversicherung, die heute etwa 90% der Gesamtbevölkerung erfasst. Diese Entwicklung, hin zu einer Volksversiche- rung, ist ein Indiz dafür, dass das Sozialversicherungsrecht, trotz aller Konti- nuität in den Systemstrukturen, tiefgreifende Wandlungen durchgemacht hat. (vgl. Schulin, 2005, S. XIII)

Besonders in der Zeit nach 1945 hat das Sozialversicherungsrecht Veränderun- gen durchgemacht, die einerseits durch die gesellschaftliche Entwicklung nötig waren, aber auch eine Veränderung der Gesellschaft selbst mit formte. So schreibt Schulin (2005, S. XIII):

Das gilt insbesondere für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge des ungeahnten wirtschaftlichen Wachstums bis Ende der 70er Jahre des 20. Jh. und der ebenso ungeahnten wissenschaftlichen Fortschritte insbe- sondere in der Medizin. Das gilt aber nicht weniger für die gegenwärtige Zeit, in der fiskalische und ökonomische Zwänge zunehmend zu einem „Umbau“ (besser wäre meist zu sagen: „Abbau“) der sozialen Siche- rungssysteme führen.

Ging es am Anfang um eine reine Existenzsicherung, gewährte die Sozialversicherung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über lange Zeit eine weitgehende Lebensstandardsicherung, die aber in den letzten zwanzig Jahren zunehmend wieder reduziert wird (vgl. Schulin, 2005, S. XIII).

In der heutigen Zeit hat die Sozialversicherung zunächst die Aufgabe, „die Allgemeinheit […] vor mangelnder, aber zumutbarer Risikovorsorge des Einzelnen und damit vor vermeidbarer Inanspruchnahme der (öffentlichen) Sozialhilfeleistungen zu schützen“ (Schulin, 2005, S. XIV).

Die bei ihrer Schaffung angestrebte erforderliche soziale Grundsicherung wird heute von der Sozialhilfe geleistet. So entwickelt sich eine Tendenz, das Leis- tungsniveau der Sozialversicherung zu senken. Das vorrangige Motiv ist die Absenkung oder zumindest die Stabilisierung der Beiträge. Das Absenken der Leistungen und somit auch der Beiträge soll in erster Linie die Arbeitgeber entlasten, die in der Regel zur Hälfte an der Beitragsfinanzierung beteiligt sind. Dadurch sollen die Lohnnebenkosten gesenkt und auf Dauer die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessert werden. (vgl. Schu- lin, 2005, S. XV)

2.4.3 Arbeitsverwaltung und Arbeitsmarktpolitik

Der Schutz vor Arbeitslosigkeit wurde 1918 mit der Einführung der Erwerbs- losenfürsorge, welche nach dem Bedürfnisprinzip handelte, zur staatlichen Domäne. Vorher wurde die Arbeitsvermittlung und Unterstützung von Arbeit- nehmern durch die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände betrieben. 1923 wurde die staatliche Arbeitslosenversicherung eingeführt, welche 1927 der neu errichteten Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversi- cherung übertragen wurde. Im Jahr 1969 wurde das Arbeitsförderungsgesetz erlassen, welches das Spektrum der Tätigkeiten der Bundesanstalt für Arbeit erweiterte. Aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und der daraus resultierenden hohen Arbeitslosigkeit, konnte die Bundesanstalt für Arbeit die ihr gestellten Aufgaben nicht mehr zeitgemäß erfüllen. Aus diesem Grund war der Staat gezwungen, die Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit umzustrukturieren und die Aufgaben durch eine veränderte Gesetzgebung neu zu definieren. (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 309ff.)

So wurde 1997 der Begriff der Arbeitsförderung im SGB III erneuert3. Unter den §§ 1-3 sind die Ziele und Leistungen der Arbeitsförderung und das Zu- sammenwirken von Arbeitgebern und Arbeitnehmern mit den Arbeitsagenturen festgelegt. Dieses neue System der Arbeitsförderung wurde 2003 ergänzt durch die Änderung der Grundsicherung für Arbeitssuchende des SGB II4. Hier wird den Agenturen für Arbeit durch § 6 Abs. 1 SGB II auch die Zuständigkeit für die Grundsicherung zugeordnet. Dadurch wurden die Arbeitslosenunterstüt- zung und die Sozialhilfe unter die Trägerschaft einer Behörde zusam- mengefasst. Das sollte die Organisation und die Abläufe der Bundesagentur verbessern und vereinfachen. Es wurden dadurch Einsparungen in der Verwal- tung gemacht, welche sich auf die Beiträge der Versicherten auswirkte. So konnte den Arbeitgebern ein Einsparpotential bei den Lohnnebenkosten gebo- ten werden (vgl. Schulin, 2005, S. XV).

Die Zusammenlegung der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe hatte aber auch zur Folge, dass sich die Leistungen für die Arbeitnehmer, die arbeits- los wurden, verschlechterten. Es wurden weniger Leistungen für die Erhaltung des Status des Einzelnen gezahlt. Die gekürzten Leistungen sollten aber durch die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes wieder ausgeglichen werden, weil ein Arbeitnehmer so schneller wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden konn- te. So wollte der Staat eine aktive Arbeitsmarktpolitik schaffen, welche einerseits die Grundsicherung erhält und andererseits den Einzelnen nicht in Not bringt. (vgl. Schulin, 2005, S. XIVf.)

2.4.4 Einkommenspolitik

Einkommen und Preise werden in der Regel durch dezentrale Verhandlungen und Marktprozesse gesteuert. Um inflationären Tendenzen entgegenzuwirken, die durch beginnende Wirtschaftskrisen in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts verursacht wurden, musste der Staat jedoch direkten Einfluss nehmen. (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 311)

In dieser Zeit herrschte in Deutschland nahezu Vollbeschäftigung, die durch eine expansive Ausgabenpolitik des Staates herbeigeführt wurde. Dadurch konnten die Arbeitnehmer in Tarifverhandlungen höhere Löhne für sich durch- setzen, wobei die Arbeitgeber ihrerseits die Preisspielräume voll ausnutzten, um dadurch ihre Profitraten verteidigen zu können. Die Gewerkschaften nah- men die Preissteigerungen wiederum zum Anlass, höhere Löhne zu fordern. Dadurch wurde eine inflationäre Spirale erzeugt, welche der Staat durch geld- und fiskalpolitische Maßnahmen entgegenwirken musste. So wurde ein Rück- gang der wirtschaftlichen Aktivitäten erzeugt, was wiederum zu Wachstums- verlusten und somit zum Abbau von Arbeitsplätzen führte. Aus dieser Misere zog der Staat die Lehre, dass es sinnvoller ist, die Einkommenspolitik durch die Schließung sozialer Pakte einzudämmen. Den Gewerkschaften wurde als Ge- genleistung, für ihre Zurückhaltung bei Lohnforderungen, politische Konzes- sionen zugesichert, die ihnen mehr Mitbestimmung bei der staatlichen Wirt- schafts- und Sozialpolitik erlaubte. Diese sozialen Pakte führten aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis, da es durch die Globalisierung zu einer Verände- rung der gesamten Wirtschaftsstrukturen kam. Die Massenarbeitslosigkeit hielt weiterhin an und der Staat reagierte mit der Deregulierung von arbeitspoliti- schen Maßnahmen. Die gesetzlichen und kollektivrechtlichen Schutz- mechanismen wurden zu Gunsten einer marktwirtschaftlichen Steuerung und individualrechtlicher Vereinbarungen beschränkt. (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 311ff.)

So hat der Staat, um eine Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen zu erreichen, das Vermittlungsmonopol der Bundesagentur für Arbeit aufgehoben. Somit konnte die Arbeitsvermittlung durch private Agenturen ermöglicht werden. Die Regelungen für befristete Arbeitsverhältnisse und der Kündigungsschutz wur- den gelockert. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde gesenkt und Unternehmen hatten die Möglichkeit, wieder die Sonntagsarbeit einzuführen.

(vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 314)

3. Die Tarifautonomie als Instrument der industriellen Partner

3.1 Merkmale und Funktionen der Tarifautonomie

Die Tarifautonomie ist eine Kerninstitution von Gesellschaften mit einer kapi- talistischen Wirtschaftsordnung und einer liberal-demokratischen Staats- verfassung. Sie ist in Verbindung mit dem Koalitionsrecht dem politischen Wahlrecht vergleichbar, weil man dem sozial Schwächeren hier auch Beteili- gungsrechte einräumt, in diesem Falle im wirtschaftlichen Bereich (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 202).

Die Tarifautonomie kann auch, wie das allgemeine Wahlrecht den Herrschenden die politische Macht kosten kann, die Besitzenden ihrer ökonomischen Privilegien berauben (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 202). Wenn heute von Tarifautonomie die Rede ist, dann […] sind im Grunde genommen die formalisierten und rechtlich sanktio- nierten Beziehungen zwischen den Arbeitsmarktparteien - Gewerk- schaften und Arbeitgeberverbände - gemeint; mit anderen Worten: jene Konfliktregelungen und kollektivvertraglichen Vereinbarungen, die die widerstreitenden Interessen von Kapital und Arbeit notfalls auch auf dem Wege sozialer Machtauseinandersetzungen in Form von Arbeitskämpfen kompromissfähig machen (Müller-Jentsch, 1997, S. 203).

Die Tarifautonomie beinhaltet ein Regelungssystem, welches den Tarifver- tragsparteien in einem staatlich gewährten Freiraum die autonome Gestaltung der Arbeitsbeziehungen und ihrer eigenen Beziehungen mit prinzipiell offenem Ausgang überlässt. Somit ist die Tarifautonomie mehr als eine rechtliche Insti- tution, sie ist auch eine gesellschaftliche Institution mit komplexen Funktionen die einerseits einen konfliktregelnden Charakter und andererseits einen Nor- mungscharakter besitzt, welcher mit staatlicher Sanktionsleihe ausgestattet ist (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 203f.).

Tarifautonomie ist nur dann funktionsfähig, wenn die Gewerkschaften als legi- timierte Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten und ihrer Beteiligung an der Festsetzung von Lohn- und Arbeitsbedingungen, generell anerkannt werden. Der prinzipiell offene Ausgang von Tarifauseinandersetzungen und der unvermeidliche Zwang zum Kompromiss und der Regelung von Konflikten durch die Tarifpartner eröffnet Chancen zur Schaffung flexibler und sachnaher Lösungen im Produktions- und Beschäftigungssystem. Die Frage nach der Funktion kann daher für die Tarifpartner und den Staat nur gesondert beant- wortet werden. So hat die Tarifautonomie eine Schutz- und Verteilungs- funktion für die Arbeitnehmer, die ihnen den Lebensstandard und humane Ar- beitsbedingungen sichert und somit die Beteiligung am wachsenden gesellschaftlichen Wohlstand gewährleistet. Sie hat eine Partizipationsfunktion durch ihre Verbindung mit den Institutionen der betrieblichen Demokratie, welche den Arbeitnehmern die Mitbestimmung bei den Anwendungsbedingun- gen für ihre Arbeitskraft ermöglicht. Für die Unternehmer hat die Tarif- autonomie eine Kartellfunktion. Wenn diese die Arbeit einkaufen und verwer- ten, dient sie dadurch der Standardisierung von Lohnsätzen und Arbeitszeiten. Die Tarifautonomie hat eine Ordnungsfunktion für die Arbeitgeber, weil sie die Herstellung von überschaubaren, stabilen Lohnstrukturen und Arbeitsbedin- gungen gewährleistet. Zudem hat sie eine Befriedungsfunktion, weil sie auf beiden Seiten eine Kooperationsbereitschaft für Verhandlungen erzeugt. Für den Staat hat die Tarifautonomie eine Entlastungs- und Legitimationsfunktion, weil sie dem Austausch und den Konfliktbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit, durch Ausdifferenzierung, eine Sphäre autonomer Regulierung bietet. Der Staat „[...] wird von der unmittelbaren Verantwortung für die jeweiligen und für die ihrer Natur nach konfliktträchtigen Arbeitsbeziehungen entbunden“ (Müller-Jentsch, 1997, S. 204). Die Arbeitskämpfe der Tarifpartner können in der Regel ohne Legitimationseinbußen für Staat und Regierung ausgetragen werden. Die Regierung verfügt aber mit der möglichen Androhung einer Ver- änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen, über ein effektives Droh- potential gegenüber den Tarifparteien. (vgl. Müller-Jentsch, 1997, S. 204f.)

Die Tarifautonomie ist also eine Institution, welche die Herrschaft des Kapitals über die Lohnarbeit nicht in Frage stellt. Im Gegenteil, sie setzt diese Herrschaft als gesellschaftliches und strukturierendes Prinzip voraus.

[...]


1 Mit Produktionsbedingungen sind das eingesetzte sachliche, geistige und monetäre Kapital und dessen Verteilung zwischen den produzierenden Branchen und den Produktionsnormen gemeint. Die Produktionsnorm meint die die Zusammenarbeit der Akteure einer Gesellschaft, zur Erreichung von Zielen der Individuen und deren Organisationen. So haben alle ein Interesse daran, sich an der Schaffung eines gemeinsamen gesellschaftlichen Produktes zu beteiligen, weil sich dadurch ein Status erreichen und halten lässt.

2 Gemeint sind hier Konsumnormen und -verhalten der Lohnabhängigen sowie die Kollektivausgaben des Staates welche durch gesellschaftliche Veränderungen zu einer veränderten Interaktion mit Institutionen, wie Unternehmen und staatlichen Einrichtungen, führt.

3 BGBL. I, 24. März 1997, S. 594

4 BGBL. I, 24. Dezember 2003, S. 2954

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Die Tarifautonomie im Wandel der Gesellschaft
Untertitel
Die Neugestaltung der industriellen Beziehungen im 21. Jahrhundert
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal  (Arbeits- und Sozialrecht)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
92
Katalognummer
V156062
ISBN (eBook)
9783640691159
ISBN (Buch)
9783640691296
Dateigröße
870 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tarifautonomie, Wandel, Gesellschaft, Neugestaltung, Beziehungen, Jahrhundert, Industrielle Partner
Arbeit zitieren
Peter Dodu (Autor:in), 2010, Die Tarifautonomie im Wandel der Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/156062

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