Im ersten Augenblick könnte man meinen, dass das Wahlrecht eine eher trockene Materie ist, weil es lediglich eine Frage der Verfahrenstechnik darstellt, also wie gewählt wird, wer wählt und wer gewählt werden kann. Das Gegenteil ist nach meiner Meinung aber der Fall. Bei der Betrachtung der Diskussionen um Wahlrechte und Wahlrechtsreformen finden sich statt rein rationaler Argumente und staatsrechtlicher Überlegungen vor allem auch emotionale Entscheidungen und machtpolitische Überlegungen. Peter Graf Kielmansegg nennt hierfür auch einen einleuchtenden Grund: „Wahlrechtsreformen sind ja das klassische Beispiel für eine politische Konstellation, in der die Entscheidungsberechtigten zugleich auch die in sehr partikularen Eigenbelangen Hauptbetroffenen sind.“1 Sich mit genau dieser Konstellation zu beschäftigen, macht die trockene Materie aber schnell sehr interessant, und so verhält es sich dann auch, wenn man die Wahlrechtsdiskussion in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland verfolgt. Dass in ihrer Geburtsstunde um das richtige Wahlrecht gerungen wurde, verwundert aufgrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts niemanden. Nachdem eine Entscheidung getroffen worden war, endeten die Beratungen um eine Reform des Wahlrechts jedoch keineswegs. Der Höhepunkt dieser Diskussion fällt in die Zeit der Großen Koalition und, obwohl zu keinem anderen Zeitpunkt die Möglichkeit einer Neuordnung des Wahlrechts greifbarer war, scheiterte die Wahlrechtreform. „Die (...) heftig geführte Diskussion um das Wahlsystem steht [daher] in einem merklichen Kontrast zur Kontinuität der Wahlrechtsregelungen.“2
Das zentrale Anliegen dieser Arbeit ist zu klären, aus welchen Gründen die von der Großen Koalition angestrebte Wahlrechtsreform ausblieb. Dazu wird zunächst vorgestellt werden, wie die Wahlrechtsdiskussionen verliefen, um zu klären, warum sie mit der Verabschiedung des Bundeswahlgesetzes nicht endeten (Kapitel 2). Im Folgenden gilt es dann, den Verlauf der Gespräche und einflussnehmender Entwicklungen in den Jahren 1966 bis 1969 darzustellen (Kapitel 3). Nach einem kurzen Ausblick auf die Zeit nach der Großen Koalition (Kapitel 4) wird belegt, dass das Reformvorhaben aufgrund nicht sicher vorhersehbarer Folgen für die SPD und für die CDU/CSU von beiden Parteien fallen gelassen wurde.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Die Entwicklung der Wahlgesetzgebung der BRD bis 1966
- 2.1. Die späten 40er-Jahre
- 2.2. Die 50er-Jahre
- 2.3. Die frühen 60er-Jahre
- 3. Die große Koalition und die Wahlrechtsreform
- 3.1. Die Koalitionsvereinbarung
- 3.2. Das Jahr 1967
- 3.3. Der SPD-Parteitag in Nürnberg vom 17. bis 21. März 1968
- 3.4. Der Rücktritt Paul Lückes am 28. März 1968
- 3.5. Die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten
- 4. Ausblick auf die weitere Entwicklung der Wahlgesetzgebung der BRD
- 5. Gründe für das Scheitern der Wahlrechtsreform
- 6. Resümee und abschließende Bemerkungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit analysiert die gescheiterte Wahlrechtsreform während der Großen Koalition von 1966 bis 1969. Sie zielt darauf ab, die Gründe für das Scheitern dieses Vorhabens aufzudecken.
- Die Entwicklung der Wahlgesetzgebung der BRD bis 1966
- Die Debatten und Entwicklungen der Wahlrechtsreform in der Großen Koalition
- Die politischen und parteiinternen Faktoren, die zur Aufgabe der Reform führten
- Die Auswirkungen der gescheiterten Reform auf die weitere Entwicklung des Wahlrechts
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1 stellt die Relevanz des Themas Wahlrechtsreform im Kontext der deutschen Geschichte dar. Es wird hervorgehoben, dass die Wahlrechtsdiskussion trotz der Verabschiedung des Bundeswahlgesetzes fortbestand und ihren Höhepunkt in der Zeit der Großen Koalition erreichte.
- Kapitel 2 untersucht die Entwicklung der Wahlgesetzgebung der BRD bis 1966. Dabei werden die späten 40er-Jahre, die 50er-Jahre und die frühen 60er-Jahre betrachtet, um den Entstehungsprozess des Wahlrechts der BRD zu beleuchten.
- Kapitel 3 widmet sich den Verhandlungen und Entwicklungen der Wahlrechtsreform während der Großen Koalition. Es beschreibt die Koalitionsvereinbarung, das Jahr 1967, den SPD-Parteitag in Nürnberg 1968, den Rücktritt Paul Lückes und die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten.
- Kapitel 4 gibt einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Wahlgesetzgebung der BRD nach der Großen Koalition.
- Kapitel 5 beleuchtet die Gründe für das Scheitern der Wahlrechtsreform. Es wird argumentiert, dass die Reform aufgrund nicht vorhersehbarer Folgen für die SPD und CDU/CSU von beiden Parteien aufgegeben wurde.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit dem Themenfeld Wahlrechtsreform und analysiert die gescheiterte Reform während der Großen Koalition in der BRD. Die Kernthemen umfassen die Entwicklung der Wahlgesetzgebung, die Verhandlungen und Diskussionen um eine Reform, die politischen und parteiinternen Interessen und schließlich die Gründe für das Scheitern des Reformvorhabens.
- Arbeit zitieren
- Thorsten Dollmetsch (Autor:in), 2003, Der Verzicht auf die Wahlrechtsreform, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15612