Einige kurze Überlegungen zu Haikus im Generellen und Arthur West im Besonderen.
Thierry Elsen
Haiku Gedichte aus dem Triesterviertel1
Beginnen wir mit einer typischen Millionenquizfrage. Was ist ein Haiku? Antwort (a): Eine japanische Nudelspeise: Antwort (b): eine japanische Kampfsportart. Antwort (c): ein japanischer Gruß oder Antwort (d) eine japanische Gedichtform. Um die Spannung gleich abzubauen, hier nun die Antwort.
Haiku
[das; japanisch]
17-silbiges japanisches Kurzgedicht im 5-7-5-Silbenrhythmus mit heiterer Pointe; unter Matsuo Basho zu verinnerlichter Naturlyrik entwickelt; die verbreitetste Form der heutigen japanischen Dichtung. Der bedeutendste Haiku-Dichter ist Masaoka Shiki.
Seit geraumer Zeit nehmen sich auch europäische Dichter*innen dieser sehr strengen und reduzierten Form japanischer Lyrik an, die im Wesentlichen auf die klassischen Stilmittel (Reim, Metrum u.a.) westlicher Dichtung zu verzichten scheint. Allerdings hält sich die Anzahl der Dichter*innen, die Haikus verfassen, im Vergleich zu Japan, sehr in Grenzen. Die einschlägigen Publikationen zum Thema weisen darauf hin, dass Haikugedichte schreiben und lesen so eine Art Volkssport geworden ist. „Der Pflege des Gedichtes [Haiku: Anm. the] widmen sich in Japan nicht nur, wie heutzutage bei uns, einige wenige Literaten, sondern - vom Bauern bis zum Kaiser aufwärts, alle Schichten des Volkes. " (Ulenbrook, 237). In diesem kurzen Abriss geht es jedoch nicht um die Beurteilung japanischer Haikus in ihrer deutschen Übersetzung, sondern hauptsächlich um den Diskurs der Haikus westlicher und östlicher Prägung unterlegt ist und dessen Einfluss auf die jeweilige lyrische Umsetzung. Es ist ganz klar, dass auf einer rein sprachlichen Ebene japanische und etwa deutsche Haikus nicht zu vergleichen sind. Zu unterschiedlich sind neben den Zeichen oder der Syntax, die sprachphilosophischen Implikationen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen von Roland Barthes in „Das Reich der Zeichen“.
"West"liche Haikus
Der Wiener Lyriker Arthur West (1922-2000) gehört zu jenen vergleichsweise wenigen österreichischen Literaten, die das Haiku pfleg(t)en. Im Jahre 1997 feiert West das Haiku „als seine persönliche Neuentdeckung“. Für sich persönlich hat der Lyriker West die traditionelle Form des Haikus gewählt und ein Blick auf seine Gedichte verrät, dass er sich sehr genau mit den traditionellen Inhalten und Formen beschäftigt hat. Er weicht nicht vom 5-7-5-Silbenaufbau ab, berücksichtigt die oft wiederkehrende Zäsur und respektiert den Fokus auf ein so genanntes Jahreszeitenwort mit einem offenen Inhalt, der das Haiku dann zu einem Haiku macht - und etwa von einer in drei Verse geteilte einfache Sentenz oder dem Aphorismus, dem Sinnspruch doch deutlich abgrenzt. Was Roland Bartes zufolge dem Haiku auch grundsätzlich widerstreben würde: "Die Kürze des Haikus ist nicht formaler Natur; der Haiku ist kein reicher Gedanke, der auf eine kurze Form gebracht wäre, sondern ein kurzes Ereignis, das in einem Zuge seine richtige Form findet. " (Barthes, 103)
Das Jahreszeitenwort
Wie bereits angedeutet spielen die Jahreszeiten in Haikus eine wesentliche Rolle. Sie stellen die wichtigste thematische Ausrichtung dar. So ist der von Jan Ulenbrook zusammengestellte Haikuband (mit vornehmlich japanischen Vertreterinnen) streng nach den vier Jahreszeiten geordnet, die in Japan natürlich eine andere Bedeutung haben, als bei uns. Ein Beispiel aus der Sammlung von Arthur West:
Schneegipfel, glühend im Spätlicht: Aus den Tiefen erklimmt die Nacht 2
Dabei darf der Begriff der Jahreszeit nicht zu eng gefasst werden. Die Wörter stammen jedoch immer aus dem Bereich Jahreszeiten und Natur, die aus einem japanischen Blickwinkel eine enge Verbindung mit Tradition und Kultur aufzeigen. Es geht also nicht um einen Allerweltsnaturbegriff. Auch nicht die Umdeutung etwa in Richtung Umweltschutz oder Gartenkultur, wie sie etwa auch bei deutschen Haikudichterlnnen vorkommen sollen, stoßen bei japanische Vertreterinnen dieser Kunst auf wenig Verständnis. (Reich, 57) Die Naturmetaphern und Jahreszeitenwörter verwiesen jedoch nicht nur auf die Schönheiten des Landes, sondern seien Teil des japanischen Denkens und Fühlens. Die Japanerinnen nehmen für sich eine besondere „sensitivity for nature“ in Anspruch. Die Natur ist Bestandteil ihrer persönlichen Identität und die wiederkehrende Thematik in den Haikus unterstützt den Prozess der Identifizierung.
Aber warum nimmt das „Jahreszeitenwort" eine so wichtige Rolle in der Gestaltung von Haikus ein? Ist die These der Kulturpflege durch Naturbilder nicht etwas zu vage? Laut Annika Reich „schaffe [das Jahreszeitenwort] einen emotional-assotiativen Rahmen, der dem Haiku seine Mehrdeutigkeit gebe und der durch seine Genormtheit von allen Japanern geteilt werden könne." (Reich, 33) Diese Aussage versteht sich nicht als absolutes Dogma. Reich räumt ebenfalls ein, dass nicht alle Japanerinnen - und mit großer Sicherheit alle Nicht-Japaner*innen - in der Lage seien, die Haikus zu verstehen respektive bei ihrer Kunst besagte Mehrdimensionalität der Bedeutung zu respektieren. Dennoch ist der Topos „kulturnationalistische Pflege" zentraler Bestandteil des Haiku-Diskurses, zumal japanische Gesellschaften, Botschaften und Firmen in aller Welt die Haiku-Gedichte3 pflegen.
Ein weiteres Argument spricht für den kulturnationalistischen Diskurs. Täte mensch Haikus als bloße Naturlyrik oder vielleicht auch als zen-buddhistische Spielerei in einem westlichen Sinne ab, so bestätigte man den Abgrenzungsdiskurs, der Haikus unterlegt ist. Eine solche Behauptung würde illustrieren, dass uns Europäerinnen die so genannte „sensitivity for nature" (Reich) fehle und somit das völlige Verständnis eines Hailkus. Um Missverständnissen vorzubeugen: „Japan" und „Europa" sind nicht als starre geographische Entitäten zu verstehen, sondern als Diskurse, oder wie Roland Barthes es bezeichnet: als „System". Aber wie verhält es sich mit jenen Schriftstellerinnen, die Haikus verfassen ohne eine kultur-nationalistische Pflege im Sinn zu haben?
Arthur West bemächtigt sich auch dieses Diskurses, benutzt jedoch Jahreszeitenwörter und Naturbilder, die sehr allgemein, mit europäischer Ausrichtung sind. Kein Epigonentum ä la kleine Lotusblume und Drachenzauber, aber auch keine natur-kulturalistische Konstruktion europäischer/österreichischer Prägung. Anders formuliert: es ist nicht die Rede vom Enzian und vom Edelweiß zur Transport eines wie auch immer gearteten Cent-Münzen-Patriotismus. Dass Arthur West sich durchaus der Tradition der Haikus bewusst war, zeigt folgendes Gedicht, das wie eine Art persönliche Poetik angesehen werden kann.
Manch Haiku hat Lenz / im Visier - er, der es prägt,/schon seinen Spätherbst.
Die Interpretation eines Haikus
Bei Ulenbrook, aber auch bei Roland Barthes werden uns Haikus ganz auf der zen-buddhistischen Ebene präsentiert. Mir scheint es jedoch, dass der Zen-Buddhismus als Interpretationsschablone besonders dann dient, wenn andere Interpretationsmethoden und -ansätze nicht greifen wollen oder wenn mensch sich nicht der Mühe unterzieht eine weitergehende Interpretation zu suchen. Gerade europäische Interpretator*innen versuchen nur sehr bedingt mit den ihnen klassischen Methoden Haikus zu fassen und lassen sich daher auf die naheliegende zen-buddhistischen Interpretationsmuster ein.
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1 Das „Triesterviertel“ bezeichnet den Wohnbezirk in dem Arthur West wohnte. Es handelt sich um einen Teil des 10. Wiener Gemeindebezirkes.
2 Preisgekröntes Haiku von Arthur West
3 So hat auch Arthur West an einem Haikuwettbewerb der japanischen Gesellschaft in Wien teilgenommen und den dritten Platz gemacht.
- Arbeit zitieren
- Thierry Elsen (Autor:in), 2010, Haiku Gedichte aus dem Triesterviertel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/156506