Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Pionierzeit des Stummfilms
2.1 Die Geburtsstunde des Films
2.2 Die Kinematographie als Jahrmarktsattraktion
2.3 Die Sesshaftwerdung des Films
3. Der Langfilm
3.1 Die Einführung des langen Spielfilms
3.2 Der Starfilm
3.3 Der Detektivfilm
3.4 Der Propagandafilm
3.5 Die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs
3.6 Der Monumentalfilm
3.7 Der Expressionistische Film
3.8 Der Kammerspielfilm
3.9 Die Neue Sachlichkeit und der Querschnittsfilm
3.10 Das Ende des Stummfilms
4. „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“
5. Fazit – Der Film als Kunstwerk
6. Bibliographie
6.1 Primärquellen
6.2 Sekundärquellen
6.2.1 Selbständige Schriften
6.2.2 Unselbständige Schriften
1 Einleitung
Der Kinobesucher aus dem Jahr 2005 macht sich meist wenig Gedanken darüber, wie das Kino eigentlich zu dem wurde, was es heute ist. Er nimmt den abendfüllenden Spielfilm, der in Farbe und im Dolby-Surround-Sound über eine Großleinwand in einem Kinosaal mit vierhundert Zuschauern flimmert, als gegeben hin. Blickt man jedoch nur hundert Jahre zurück, ergibt sich ein ganz andere Bild: In einem dunklen Jahrmarktszelt werden stumme Bilder an eine Leinwand projiziert und von Grammophonmusik begleitet, während die Zuschauer gebannt auf das schwarz-weiße Treiben blicken und sich nicht von dem ratternden, nach Petroleum stinkenden Filmprojektor ablenken lassen. Die Faszination, die das Medium Film ausübt, existierte damals wie heute, doch unterschied sich der frühe Film, dessen Anfangsphase häufig als „Flegeljahre“[1] bezeichnet wird, deutlich von der heutigen Aufführungspraxis. Er musste erst erwachsen werden, musste verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen, um seinen Ruf als Jahrmarktssensation gegen den einer ernstzunehmenden Kunstform einzutauschen. Die entscheidende Phase dieser Entwicklung bildet die Ära des Stummfilms.
Leider sind nur noch wenige Filme dieser Zeit erhalten. Von den deutschen Filmen der Vorkriegszeit existieren überhaupt nur noch zwei bis drei Prozent.[2] Vieles lässt sich heute nur noch schwierig nachvollziehen, zumal selbst erhaltene Filme häufig nicht mehr vollständig sind. Dieser Mangel an Primärquellen ist auf das damals verwendete Filmmaterial zurückzuführen. Stummfilme wurde auf Nitrofilm gedreht, der leicht entflammbar war und mit den verstreichenden Jahrzehnten verfiel. Da Filmprojektoren in der Anfangszeit mit Petroleum betrieben wurden, kam es unweigerlich des Öfteren zu Bränden, bei denen ein Teil des Filmmaterials vernichtet wurde. Andere Filme wurden einfach so oft gezeigt, dass sie völlig abgenutzt waren, oder sie wurden unsachgemäß gelagert und konnten deshalb die Zeit nicht überdauern.[3]
Anhand der noch erhaltenen Stummfilme kann man – trotz ihres eher repräsentativen Charakters aufgrund der geringen Quantität – den Weg verfolgen, den die Kinematographie in ihrer Entwicklung zu einer anerkannten Kunstform beschritt. Im Folgenden möchte ich diesen Weg mit seinen Stationen im Hinblick auf Deutschland erläutern und darauf eingehen, was das Kunstwerk Film eigentlich ausmacht. Als Beispiel für einen künstlerisch ambitionierten Stummfilm habe ich Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von 1922 ausgewählt.
2 Die Pionierzeit des Stummfilms
2.1 Die Geburtsstunde des Films
Das Jahr 1895 gilt international als Geburtsstunde des Kinofilms. Zwar gab es schon früher optische Spielereien, mit deren Hilfe man bewegte Bilder erzeugen konnte, wie die Laterna Magica[4], Edisons Kinetoskop-Guckkasten und Reynauds Zeichenfilm[5], die Projektion von Fotografien, die eine Bewegung lebensecht abbilden, gelang jedoch erst 1895.[6]
Die Erfindung des Films und seiner Projektion kann keiner Einzelperson zugeschrieben werden, sie fand vielmehr an verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig statt. In Deutschland waren es die Schausteller Max und Emil Skladanowsky, die am 1. November 1895 ihren Projektionsapparat Bioskop der Öffentlichkeit präsentierten. Das Filmprogramm, das sie im Berliner Varietétheater „Wintergarten“ vorführten, bestand aus acht kurzen Filmstreifen, die schaustellerische und artistische Nummern, wie z.B. einen Jongleur, einen Ringkampf und ein boxendes Känguru, zeigten.[7]
Auch in Frankreich waren es zwei Brüder, die den Bildern zum Laufen verhalfen: Louis und Auguste Lumière. Sie entwickelten ihren Aufnahme- und Projektionsapparat Cinématographe zur selben Zeit wie die Skladanowskys und führten ihn – knapp zwei Monate nach der Premiere des Bioskops – am 28. Dezember 1895 in Paris der Öffentlichkeit vor.[8]
Trotz dieses späteren Zeitpunkts gelten heute die Gebrüder Lumière international als Erfinder des Kinofilms und nicht die Skladanowskys. Dies hat seinen Grund zum einen in der Technik, die beim Cinématographen erheblich ausgereifter war als bei seinem deutschen Pendant. Während das Bioskop ein Doppelprojektionsapparat war, mit dem abwechselnd Bilder von zwei Projektoren erzeugt wurden, ähnelte der Cinématographe bereits der heutigen Technik mit einer Filmrolle, die mit Hilfe von Perforationslöchern abgespult wurde. Des Weiteren benutzten die Gebrüder Skladanowsky eine niedrige Bildfrequenz von nur acht Bildern pro Sekunde, so dass die Bewegungen auf der Leinwand weniger natürlich wirkten. Neben dem technischen Vorsprung der Lumières waren vor allem ihre Herkunft und ihr Beruf ausschlaggebend für den Erfolg ihrer Erfindung. Sie gehörten nicht nur zum Großbürgertum, sondern besaßen außerdem eine Fotofabrik, so dass sie sowohl über das nötige Geld als auch über die passende Infrastruktur verfügten, um den industriellen Markt mit ihren Kameras und Projektionsapparaten zu erobern. Die Brüder Skladanowsky dagegen waren Schausteller und so reisten sie eine zeitlang mit ihrem Bioskop durch Europa, bevor ihre Erfindung 1897 von seiner französischen Konkurrenz verdrängt wurde.[9]
Auf dem amerikanischen Kontinent fand die erste öffentliche Filmvorführung erst im April 1896 in New York statt. Die Edison Company stellte den Vitascope-Projektor vor, der von Thomas Armat entwickelt worden war und der auf einer Erfindung von William Kennedy-Laurie Dickson, dem Kinetoscope-Guckkasten, beruhte. Dieser Guckkasten war ein Betrachtungsgerät für Einzelpersonen, das 1891 patentiert und ab 1893 in der Öffentlichkeit aufgestellt wurde, so dass man gegen Münzeinwurf kurze Filme mit 48 Bildern pro Sekunde betrachten konnte. Häufig wird Thomas Edison in der Fachliteratur als Erfinder des Kinetoscopes genannt[10], da es seine Firma war, die dieses Gerät vertrieb und patentieren ließ.[11]
Anhand der verschiedenen Namen und Orte, die mit der Erfindung des Films verbunden sind, wird deutlich, dass die Kinematographie „eine Schöpfung der Zeit selbst“[12] ist. Die Zeit war reif für das neue Medium. Die fortschreitende Industrialisierung ging mit einem starken Bevölkerungswachstum der Städte einher und es begann sich eine Massenkultur zu entwickeln. Die Kinematographie war wie kein anderes Medium massentauglich: Viele Menschen konnten gemeinsam Teilnehmer desselben Erlebnisses sein. Außerdem erforderte die Kinematographie vom Publikum keine besonderen Voraussetzungen. Man brauchte weder viel Geld noch eine bestimmte Bildung. Das Kino bot also auf einfache Weise eine unterhaltsame Ablenkung vom Alltag und faszinierte außerdem in den Anfangsjahren als völlig neues Wahrnehmungserlebnis, so dass sein Siegeszug nicht mehr aufzuhalten war.[13]
2.2 Die Kinematographie als Jahrmarktsattraktion
Die Kinematographie der Anfangsjahre hatte nur wenig mit dem zu tun, was wir heute als Kino kennen. Sowohl Aufführungsort und -praxis also auch die Filme selbst unterschieden sich deutlich vom modernen Kinoerlebnis. Die ersten Stummfilme wurden auf Jahrmärkten und in Varietés gezeigt. Schausteller reisten von Ort zu Ort und zeigten eine Programmabfolge kurzer Filmstreifen einem wechselnden Publikum. Diese so genannten Kürzestfilme waren nur ein bis fünf Minuten lang, was einer Filmrollenlänge von fünfzehn bis sechzig Metern entsprach. Ein Programm bestand aus fünf oder mehr Kürzestfilmen, die meist Sketches, aktuelle Ereignisse, Bilder aus dem wahren Leben oder Jahrmarktsnummern zeigten. Da sich in fünf Minuten keine komplexe Geschichte erzählen ließ, waren die inhaltlichen Möglichkeiten sehr beschränkt. Andererseits war das neue Medium an sich auch so faszinierend, dass die Menschen zunächst keine Filmhandlung, wie wir sie heute kennen, vermissten. Allein das Zeigen einfacher Bewegungsabläufe – gebannt auf eine Leinwand – versetzte die Zuschauer in Staunen.[14]
2.3 Die Sesshaftwerdung des Films
Nachdem das erste Staunen über die bewegten Bilder abgeebbt war, hielt das neue Medium Einzug in das Alltagsleben der Menschen: Es wurde sesshaft. Dies geschah jedoch nicht von heute auf morgen. Es handelte sich vielmehr um einen Prozess, in dessen Verlauf sich zwischen 1905 und 1910 ortsfeste Kinos in den deutschen Großstädten bildeten und die Wanderkinos der Schausteller nach einer Zeit der Koexistenz langsam verschwanden. Diese ersten festen Kinoräume entstanden in ehemaligen Ladenlokalen und wurden deshalb Ladenkinos genannt. In Berlin bürgerte sich der Name Kintopp ein.[15]
Parallel zu dieser Entwicklung wurden auch die Filme länger, da die Faszination an der inzwischen nicht mehr neuen Erfindung einem Interesse am Filminhalt selbst gewichen war. Aus den Kürzestfilmen wurden Kurzfilme, deren Länge zwischen drei und zwanzig Minuten (80-300 m) variieren konnte. Neben dem weiterhin beliebten Attraktionskino mit Aktualitäten, Sketchen bzw. Slapstick und Dokumentarfilmen entwickelte sich der Spielfilm. Dies lag zum einen daran, dass die Filmlänge nun ausreichend für komplexere Geschichten war, wobei man beachten muss, dass ein kurzer Spielfilm sich weder mit Nebenhandlungen noch mit einer differenzierten Charakterisierung der Figuren aufhalten konnte. Ein anderer Grund für die vermehrte Produktion von Spielfilmen war finanzieller Natur: Die sesshaften Kinos mussten ständig mit neuem Filmmaterial versorgt werden. Dokumentarfilme und Aktualitäten waren jedoch im Vergleich zum Spielfilm aufwendig und schlecht planbar, während ein im Studio gedrehter Film mit feststehender Handlung sich besser organisieren ließ. So dominierte schon nach kurzer Zeit der Spielfilm das Kinoprogramm, das sich auch weiterhin aus einer abwechslungsreichen Folge von Filmen unterschiedlicher Genres zusammensetzte und zwischen ein und zwei Stunden dauerte.[16]
Zwar hatte es schon zur Zeit des Wanderkinos einen Kinoerzähler gegeben, der dem Publikum die stummen Filme erklärte, doch mit zunehmender Länge und Komplexität des Stummfilms wurden Erläuterungen der unhörbaren Dialoge immer wichtiger. 1907 wurden die ersten Filme mit Zwischentiteln hergestellt, so dass der Filmerklärer bald überflüssig wurde und aus dem Kino verschwand. Trotz des Fehlens gesprochener Worte war die Stummfilmvorführung jedoch nicht stumm. Als Untermalung und zur Steigerung der Dramatik diente dem Film Musik, die entweder vom Grammophon kam oder live gespielt wurde. In kleineren Kinos gab es häufig Pianisten, in den großen Kinopalästen, die ab den zehner Jahren in den deutschen Großstädten errichtet wurden, spielten sogar Orchester die Begleitmusik.[17]
[...]
[1] Martin Loiperdinger. „Das frühe Kino der Kaiserzeit: Wilhelm II. und die ‚Flegeljahre’ des Films“. In: Der deutsche Film: Aspekte seiner Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Uli Jung. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 1993, S. 25.
[2] Vgl. ebd., S. 21.
[3] Vgl. Rainer Rother (Hrsg.). Sachlexikon Film. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997, Artikel: „Nitrofilm“.
[4] Eine Laterna Magica ist ein Apparat aus dem 17. Jahrhundert, mit dem man handgemalte Glasbilder projizieren kann. Vgl. Rainer Rother. Sachlexikon Film, „Laterna Magica“.
[5] Ein ohne Kamera hergestellter Zeichenfilm, Praxinoskop-Streifen genannt, den Emile Reynaud 1877 öffentlich präsentierte. Vgl. Ulrich Gregor u. Enno Patalas. Geschichte des Films I: 1895-1939. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1976, S. 10.
[6] Vgl. Ulrich Gregor u. Enno Patalas. Geschichte des Films , S. 10.
[7] Vgl. Thomas Kramer u. Martin Prucha. Film im Lauf der Zeit: 100 Jahre Kino in Deutschland. Österreich und der Schweiz. Wien: Ueberreuter, 1994, S. 9.
[8] Vgl. ebd., S. 10/11.
[9] Vgl. Thomas Kramer u. Martin Prucha. Film im Lauf der Zeit, S. 10/11; Ulrich Gregor u. Enno Patalas. Geschichte des Films, S. 11; Rainer Rother. Sachlexikon Film, „Bioskop“ u. „Cinématographe“.
[10] Z.B. in: Thomas Kramer u. Martin Prucha. Film im Lauf der Zeit, S. 11; Ulrich Gregor u. Enno Patalas. Geschichte des Films, S. 25.
[11] Vgl. Rainer Rother. Sachlexikon Film, „Edison Company“ u. „Kinetoscope“.
[12] Holger Jörg. Die sagen- und märchenhafte Leinwand: Erzählstoffe, Motive und narrative Strukturen der Volksprosa im „klassischen“ deutschen Stummfilm (1910-1930). Sinzheim: Pro-Universitate-Verlag, 1994. (Freiburg, Phil. Diss., 1994), S. 31.
[13] Vgl. Thomas Kramer u. Martin Prucha. Film im Lauf der Zeit, S. 11/12.
[14] Vgl. Corinna Müller. „Variationen des Kinoprogramms: Filmform und Filmgeschichte“. In: Die Modellierung des Kinofilms: Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06-1918. Hrsg. von Corinna Müller u. Harro Segeberg. Mediengeschichte des Films, Bd. 2. München: Wilhelm Fink Verlag, 1998, S. 45-48; Thomas Kramer u. Martin Prucha. Film im Lauf der Zeit, S. 12; Holger Jörg. Die sagen- und märchenhafte Leinwand, S. 35.
[15] Vgl. Corinna Müller. „Variationen des Kinoprogramms“, S. 55; Holger Jörg. Die sagen- und märchenhafte Leinwand, S. 38; Martin Loiperdinger. „Das frühe Kino der Kaiserzeit“, S. 24.
[16] Vgl. Corinna Müller. „Variationen des Kinoprogramms“, S. 55-60.
[17] Vgl. Rainer Rother. Sachlexikon Film, „Stummfilm“ u. „Kinopaläste“.