Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens im Mathematikunterricht der Grundschule

Am Beispiel der Unterrichtseinheit "Würfelgebäude" in einer zweiten Klasse


Examensarbeit, 2008

59 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen zum raumlichen Vorstellungsvermogen
2.1 Das raumliche Vorstellungsvermogen und seine Teilkomponenten
2.1.1 Visuelle Wahrnehmung
2.1.2 Raumliches Vorstellungsvermogen
2.1.2.1 Begriffsbestimmung
2.1.2.2 Raumliches Vorstellungsvermogen als Faktor der menschlichen Intelligenz
2.1.2.3 Bedeutsame Teilkomponenten des raumlichen Vorstellungsvermogens fur die Themenstellung
2.2 Entwicklung des raumlichen Vorstellungsvermogens
2.2.1 Die Grundzuge der Entwicklung des raumlichen Denkens nach Piaget...
2.2.2 Van Hieles Stufenmodell zum Verstandnis geometrischer Begriffe
2.3 Fazit

3 Folgerungen fur die Unterrichtsplanung
3.1 Allgemeine Anmerkungen zum Geometrieunterricht in der Grundschule
3.2 Bedeutung des raumlichen Vorstellungsvermogens fur den Geometrieunterricht an Grundschulen
3.3 Das Prinzip der Handlungsorientierung und dessen Bedeutung innerhalb der Unterrichtseinheit
3.4 Uberprufung der vorhandenen Kompetenzen der Schuler im Bereich Raum und Form durch den Heidelberger Rechentest (HRT 1-4)
3.4.1 Erlauterungen zum Einsatz des HRT und den ausgewahlten Untertests.
3.4.2 Durchfuhrung und Auswertung des HRT
3.4.2.1 Allgemeine Anmerkungen zu den Normwerten
3.4.2.2 Bestimmung der Lernausgangslage im raumlich-visuellen Bereich
3.5 Fazit

4 Aufbau, Zielintentionen und Darstellung der Unterrichtseinheit „Wurfelgebaude“
4.1 Aufbau
4.2 Zielintentionen
4.3 Darstellung und Analyse ausgewahlter Stunden innerhalb der Unterrichtseinheit „Wurfelgebaude“
4.3.1 Die vierte Unterrichtsstunde „Wir arbeiten mit Wurfelgebauden und ihren Bauplanen"
4.3.1.1 Allgemeine Lernvoraussetzungen
4.3.1.2 Inhalts- und fachspezifische Lernvoraussetzungen
4.3.1.3 Didaktische Analyse
4.3.1.4 Methodische Analyse
4.3.1.5 Reflexion
4.3.2 Die sechste Unterrichtsstunde „Wir entwerfen Bauplane fur Wurfelvierlinge"
4.3.2.1 Allgemeine Lernvoraussetzungen
4.3.2.2 Inhalts- und fachspezifische Lernvoraussetzungen
4.3.2.3 Didaktische Analyse
4.3.2.4 Methodische Analyse
4.3.2.5 Reflexion
4.4 Fazit

5 Auswertung der Unterrichtseinheit „Wurfelgebaude“
5.1 Reflexion der Einheit
5.2 Hat die Unterrichtseinheit das raumliche Vorstellungsvermogen der Schuler gefordert?
5.2.1 Subjektive Eindrucke und Erkenntnisse
5.2.2 Uberprufung der Kompetenzen im Bereich Raum und Form durch den HRT nach Durchfuhrung der Unterrichtseinheit - Auswertung
5.3 Fazit

6 Resumee

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Viele Schuler1 beschaftigen sich mit Konzentration und Begeisterung mit geometrischen Inhalten. Eigene Beobachtungen und die von Kollegen zeigen, dass Schuler, speziell aber die Jungen, in Freiarbeitszeiten gerne mit Bauklotzen spielen. Diese vorhandene Lernmo- tivation gilt es fur Lehrkrafte im Geometrieunterricht zu nutzen, aufrechtzuerhalten bzw. bei allen Kindern zu wecken sowie die Verknupfung zur kindlichen Umwelt zu berucksich- tigen. Fur die praktischen Tatigkeiten, zu denen die Schuler dabei herausgefordert wer- den, sind nur wenige Vorkenntnisse erforderlich und nahezu jedes Kind kann Erfolgser- lebnisse verbuchen. Die Notwendigkeit uber ein entwickeltes Raumvorstellungsvermogen zu verfugen, wird u.a. in Bezug auf die ErschlieBung der unmittelbaren Lebenswelt der Schuler und die Orientierung in ihr deutlich (vgl. Radatz & Rickmeyer, 1991, S. 7).

„Seit jeher ist eines der obersten Ziele des Geometrieunterrichts die Forderung der Raumvorstellung“ (ebd., S. 17; Hervorhebung im Original). Obwohl dies nicht nur in der Literatur, sondern vielmehr in den Bildungsstandards und im Kerncurriculum der Grund- schule ausdrucklich verlangt wird (vgl. Sekretariat der Standigen Kultusminister der Lan­der in der in der Bundesrepublik Deutschland (BRD), 2004, S. 12f und vgl. Niedersachsi- sches Kultusministerium, 2006, S. 26), betragt der Anteil der raumlichen Geometrie ledig- lich etwa ein Drittel am gesamten Geometrieunterricht, welcher wiederum nur rund 18% des Mathematikunterrichts an der Grundschule fur sich beanspruchen kann (vgl. Maier, 1999b, S. 234). Aufgrund der Tatsache, dass das raumliche Vorstellungsvermogen ein Teil der menschlichen Intelligenz ist, hat es eine essentielle Bedeutung fur die Bewalti- gung des taglichen Lebens und muss daher schon beim Kinde geschult werden (vgl. 2.1.2.2). Aus diesem Grund und wegen der vorhandenen Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis habe ich ein raumgeometrisches Thema gewahlt, anhand dessen praktischer Umsetzung exemplarisch dargestellt werden soll, wie das raumliche Vorstellungsvermo- gen von Kindern im Mathematikunterricht der Grundschule gefordert werden kann. Zudem stellt es auch fur mich als Lehrkraft eine Herausforderung dar, weil die Forderung der Raumvorstellung ein anspruchsvolles Vorhaben ist.

In der vorliegenden Arbeit steht daher die Frage im Mittelpunkt, ob die neunzehn Schuler der Klasse 2c durch meine Unterrichtseinheit bzw. durch die von mir gewahlten Zielinten- tionen und didaktisch-methodischen Entscheidungen in ihrem raumlichen Vorstellungs- vermogen gefordert werden konnten bzw. welchen Lernzuwachs sie im raumlich-visuellen Bereich erzielen konnten. Um dabei zu aussagekraftigen Ergebnissen zu gelangen, wer­den vor und nach Durchfuhrung der Unterrichtseinheit „Wurfelgebaude“, in der der Aus Grunden der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden fur Personenbezeichnungen beider Geschlechter ausschlieftlich die maskuline Form verwendet.

Schwerpunkt auf dem Bauen von Wurfelgebauden nach Bildvorlage und Bauplan sowie auf dem Schreiben von Bauplanen zu gegebenen Wurfelgebauden liegt, zwei Untertests des Heidelberger Rechentests 1-4 (HRT 1-4; Haffner, Baro, Parzer & Resch, 2005) aus dem raumlich-visuellen Bereich in der Klasse geschrieben, um diesbezugliche Verande- rungen festzustellen: Der Untertest „Wurfelaufgaben“ und der Untertest „Langenschatzen“ (vgl. 3.4.1). Da bspw. die Fahigkeit, sich das Vorhandensein verdeckter Wurfel eines Wur- felgebaudes vorstellen zu konnen (notwendig beim Untertest „Wurfelaufgaben“), ein wich- tiger Aspekt der Raumvorstellung ist, gehe ich zunachst davon aus, dass dies einige Schuler bereits beherrschen, andere dagegen noch nicht. In diesem Zusammenhang wird an dieser Stelle die zentraie These aufgestellt, dass sich das raumliche Vorstellungsver- mogen durch die Unterrichtseinheit individuell bei jedem Kind im Vergleich zum Aus- gangstest verbessern wird, da es als kognitive Fahigkeit und Teil der menschlichen Intelli- genz insbesondere im Grundschulalter trainierbar ist (vgl. 2.2.1). Ich erwarte, dass sich durch die Unterrichtseinheit Fortschritte in der Entwicklung der Raumvorstellung im Be­reich der Mengenerfassung mit einem raumlichen Schwerpunkt (Untertest „Wurfelaufga- ben“) zeigen werden, weil die Schuler wahrend der Unterrichtseinheit die in der Literatur geforderten zahlreichen Handlungserfahrungen sammeln und bei der Arbeit mit Wurfelge­bauden und Bauplanen einen standigen Wechsel zwischen zwei- und dreidimensionaler Ebene bzw. zwischen enaktiver, ikonischer und symbolischer Ebene vollziehen mussen, wodurch von der konkreten Handlung langsam unabhangige Vorstellungsbilder entstehen: „Raumliches Vorstellungsvermogen beginnt nicht gleich im Kopf, sondern braucht eine Basis. Das Bauen mit Wurfeln und das Ubertragen der Gebaude in die Zweidimensionali- tat sind wichtige Schritte, um diese zu schaffen" (Steinau, 2007, S. 22).

Weitere zu uberprufende Fragen sind, ob sich einerseits positive Korrelationen zwischen den Testwerten beider Untertests zeigen werden und ob sich andererseits beim Vergleich der Ergebnisse des zweiten Untertests „Langenschatzen“ vorher und nachher Synergie- effekte ergeben, das hei&t ob sich die Ergebnisse z.B. dann verbessern, wenn dies auch bei den Ergebnissen des Untertests „Wurfelaufgaben“ der Fall ist oder ob sie unverandert bleiben.

Die Analyse tief greifender Zusammenhange zwischen dem raumlichen Vorstellungsver- mogen und einer vorhandenen Rechenschwache (Dyskalkulie) sowie geschlechtsspezifi- schen Differenzen in diesem Bereich ebenso wie die Darstellung moglicher Losungsstra- tegien bei der Bearbeitung raumlich-visueller bzw. raumlich-geometrischer Aufgaben wur- den den Rahmen dieser Hausarbeit weit uberschreiten und werden daher ausgeklammert.

Dass visuelle Wahrnehmungsfahigkeiten und raumliches Vorstellungsvermogen nicht nur untrennbar miteinander verwoben sind, sondern dass die Raumvorstellung daruber hin- aus ein Faktor der menschlichen Intelligenz und damit auch eine grundlegende Fahigkeit des Menschen ist, die in alien Schulfachern und in vielen Alltags- und Berufssituationen benotigt wird, wird nach einer Begriffsbestimmung im ersten Teil des zweiten Kapitels, in dem die theoretischen Grundlagen fur das Thema der Arbeit gelegt werden, dargestellt. Zudem werden aufgrund der Komplexitat dieses Intelligenzfaktors bedeutsame Teilkom- ponenten desselben hinsichtlich der Themenstellung dieser Arbeit erlautert. Eine zweite wichtige theoretische Grundlage ist die Entwicklung des raumlichen Vorstellungsvermo- gens beim Menschen. Diese wird gemaB der Entwicklungstheorie Piagets und der lern- prozessorientierten Stufentheorie van Hieles im Grundschulalter erlautert.

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Grundlagen werden im dritten Kapitel Folgerungen fur die konkrete Unterrichtsplanung gezogen. Mogliche Grunde dafur, warum raumgeometrische Inhalte in der unterrichtlichen Praxis nicht entsprechend der Forderun- gen der Theorie berucksichtigt und umgesetzt werden, werden eingangs des dritten Kapi­tels skizziert, um im weiteren Verlauf genau darauf einzugehen, welche Bedeutung die Forderung des raumlichen Vorstellungsvermogens im Geometrieunterricht der Grund- schule hat und welche Rolle die Handlungsorientierung dabei sowie innerhalb der darge- stellten Unterrichtseinheit innehat. AnschlieBend wird der HRT vorgestellt, sein Einsatz begrundet und die Lernausgangslage meiner Lerngruppe im raumlich-visuellen Bereich anhand der Ergebnisse des Vortests bestimmt, um dann im vierten Kapitel den Aufbau, die verfolgten Ziele sowie die Unterrichtseinheit „Wurfelgebaude“ an sich konkret darzu- stellen. Dabei analysiere und reflektiere ich zwei ausgewahlte Stunden ausfuhrlich, die die verfolgte Absicht - das raumliche Vorstellungsvermogen der Schuler zu fordern - in unter- richtspraktischer Hinsicht unterstreichen sollen.

Im funften Kapitel wird die Unterrichtseinheit bzw. ihr Verlauf zunachst insgesamt reflek- tiert. Daran schlieBt sich die Auswertung an, die durch meine subjektiven Eindrucke und Erkenntnisse, die ich im Verlaufe der Einheit gewonnen habe, eingeleitet wird. Konkreti- siert wird diese Auswertung durch den Vergleich der Ergebnisse des HRT-Nachtests mit denen des Vortests, um zum einen das Erreichen der verfolgten Zielintentionen und zum anderen die zuvor aufgestellte zentrale These zu uberprufen sowie die aufgeworfenen Fragestellungen zu beantworten, bevor diese Hausarbeit durch ein Resumee abgerundet wird.

2 Theoretische Grundlagen zum raumlichen Vorstellungsver­mogen

2.1 Das raumliche Vorstellungsvermogen und seine Teilkomponenten

2.1.1 Visuelle Wahrnehmung

Das Sehen durch das Auge ist zwar die Grundlage der visuellen Wahrnehmung, der ge- samte Wahrnehmungsprozess ist jedoch daruber hinaus „...eng mit anderen Funktionen (Denken, Gedachtnis, Vorstellungen aber auch Sprache) verbunden" (Radatz & Rickmey- er, 1991, S. 15). Die Wahrnehmung als ein Erkennen macht dabei von Gegenstanden oder Objekten „...aus physikalischen Reizen eine Sache mit ,Bedeutung’, und dies ist nur moglich, wenn in die Wahrnehmung ein schon vorhandenes ,Bedeutungswissen’ einflie&t" (Nolting & Paulus, 1999, S. 45). Das hei&t, dass das, was wahrgenommen wird, zum ei- nen abhangig ist von individuellen Erwartungen und Motivationen (selektive Wahrneh- mung) und zum anderen immer mit schon vorhandenem Wissen in Verbindung gebracht wird, um anschlie&end in einem kognitiven, au&erst komplexen Prozess verarbeitet zu werden (vgl. ebd., S. 46). Daher bildet die Fahigkeit, seine Umwelt visuell wahrzunehmen, die Grundlage dafur, um sich in dieser zu orientieren, koordiniert zu bewegen und sein alltagliches Leben zu bewaltigen. Damit ist es gleichzeitig „...die Voraussetzung fur das raumliche Gedachtnis." (Franke, 2007, S. 51) und ein raumliches Vorstellungsvermogen (vgl. 2.1.2). Diese Fahigkeit muss bei Kindern bspw. durch das Sammeln von Raumerfah- rungen angeregt werden, um Defizite im raumlichen Wahrnehmungsbereich moglichst zu vermeiden. Hierbei sollten vor allem Handlungen bzw. das aktive Hantieren mit konkretem Anschauungsmaterial im Vordergrund stehen, weil dadurch „...die Grundlagen fur das Entstehen und langfristige Speichern von Bildern in unserer Vorstellung gebildet" (Maier, 1999b, S. 13) werden und sich auf diese Weise eine nachhaltige Begriffsbildung vollzie- hen kann (vgl. 3.3).

In der Literatur werden allgemein funf Bereiche der visuellen Wahrnehmung unterschie- den: Die visumotorische Koordination, die Figur-Grund-Diskriminierung, die Wahrneh- mungskonstanz, die Wahrnehmung raumlicher Beziehungen und die Wahrnehmung der Raumlage.2 Insbesondere die zwei letzteren Komponenten sind bedeutsam in Bezug auf die Themenstellung, da das raumliche Vorstellungsvermogen der Kinder bzw. die Forde- rung dessen vor und nach Durchfuhrung der Unterrichtseinheit „Wurfelgebaude" durch die Untertests „Langenschatzen" und „Wurfelaufgaben" des HRT (vgl. Haffner et al., 2005)

Da dieser Bereich der Raumvorstellung nicht Schwerpunkt dieser Arbeit ist, wird er kurz skizziert und es sei an dieser Stelle u.a. auf folgende ausfuhrlichere Quellen hingewiesen: Radatz & Rickmeyer (1991, S. 15ff), Maier (1999b, S. 11 ff) oder Franke (2007, 33ff), wobei Frostig 1972 die Grundlage dieser Unterteilung gelegt hat.

uberpruft wird. Die Schuler mussen beim „Langenschatzen" auf der iko- nischen Ebene die Langen verschiedener Strecken in einer ihnen vorgegebenen MaBein- heit angeben bzw. bei den „Wurfelaufgaben" die raumliche Lage und die Raum-Lage- Beziehungen der Wurfel erkennen, um deren Anzahl korrekt erfassen zu konnen (vgl. 3.4.1). Um vor allem Letzteres (verbessert) leisten zu konnen, mussen sie konkret mit Wurfeln bzw. Wurfelgebauden im dreidimensionalen Raum Handlungserfahrungen sam- meln bzw. damit operieren (vgl. 3.3 und vgl. Kapitel 4). Auch Lorenz & Radatz (1993, S. 108) fuhren fur die Forderung des visuellen Wahrnehmens und des raumlichen Vorstel- lens das „Bestimmen / Zahlen nicht sichtbarer Elemente" an, wobei es um die Frage geht: „Aus wie vielen Wurfeln sind diese Figuren gebaut?".

2.1.2 Raumliches Vorstellungsvermogen

2.1.2.1 Begriffsbestimmung

Im Unterschied zur visuellen, vorwiegend sinnlichen Wahrnehmung „...versteht man unter dem Raumlichen Vorstellungsvermogen ein mentales Operieren mit raumlichen Objek- ten" (Franke, 2006, S. 52; Hervorhebung im Original) bzw. „die Fahigkeit, in der Vorstel- lung raumlich zu sehen und raumlich zu denken." (Maier, 1999b, S. 14; Hervorhebung im Original). Das raumliche Vorstellungsvermogen geht also uber die visuelle Wahrnehmung hinaus, weil durch die kognitive Verarbeitung des Wahrgenommenen mentale Vorstel- lungsbilder entstehen (visuelles Gedachtnis), die schlieBlich nach zahlreichen Handlungs­erfahrungen gedanklich abrufbar sind, ohne dass die entsprechenden Objekte in greifba- rer Nahe sind. Zudem ist es „...eine zentrale Fahigkeit, die unsere Wahrnehmung und Vorstellung von der Umwelt und damit die Qualitat der Interaktion mit ihr nachhaltig beein- flusst" (Maier, 1999a, S. 4). Der Mensch benotigt es bspw. beim Lesen von Landkarten, Stadtplanen oder Bauanleitungen sowie beim Schneiden mit der Schere oder beim Ver- halten im StraBenverkehr und in vielen weiteren alltaglichen oder beruflichen Situationen (vgl. Besuden, 1999, S. 4).

In der Literatur werden fur die Bezeichnung raumliches Vorstellungsvermogen die Begriffe Raumvorstellungsvermogen und Raumvorstellung (vgl. Maier, 1999b, S. 14) bzw. raumli­ches Denken oder Visualisieren (vgl. Franke, 2006, S. 28) synonym verwendet. Trotzdem bemangelt Maier (1999b, S. 70), „...die unbefriedigende Situation, dass innerhalb ver­schiedener Forschungsgebiete (Psychologie, Psychiatrie, Padagogik, Neurologie, ...) zahlreiche sich uberschneidende oder gar widersprechende Definitionen des Begriffs Raumvorstellung existieren". In dieser Arbeit werden die o.g. Begrifflichkeiten ebenfalls gleichbedeutend verwendet.

2.1.2.2 Raumliches Vorstellungsvermogen als Faktor der menschlichen Intelli- genz

Die Raumvorstellung gilt - wie Thurstone 1938 festgestellt hat - als eine bedeutsame und au&erst komplexe Komponente der menschlichen Intelligenz (vgl. Maier, 1999b, S. 18 und vgl. Franke, 2006, S. 52), die daruber hinaus in einem engen Zusammenhang zur ma- thematischen Leistungsfahigkeit steht (eine ausfuhrliche Zusammenfassung von Studien und deren Kritik zu diesem Bereich findet sich bei Maier (1999b, S. 161ff)). Thurstone stellt sieben wesentliche Primarfaktoren der Intelligenz heraus, die der Vollstandigkeit halber an dieser Stelle genannt sind (nahere Erlauterungen zu den einzelnen Faktoren vgl. ebd., S. 18ff oder Franke, 2006, S. 52ff):

1. Sprachverstandnis (Faktor V (Verbal))
2. Wortflussigkeit (Faktor W (Word Fluency))
3. Rechenfertigkeiten (Faktor N (Numbers))
4. Wahrnehmungstempo (Faktor P (Perception))
5. Raumliches Vorstellungsvermogen (Faktor S (Space))
6. Merkfahigkeit (Faktor M (Memory))
7. Logisch-Schlussfolgerndes Denken (Faktor R (Reasoning))

Der Faktor raumliches Vorstellungsvermogen umfasst - wie eingangs des Kapitels 2.1.2.1 bereits erwahnt - die Fahigkeit, mental mit zwei- und dreidimensionalen Objekten operie- ren zu konnen und wird aufgrund seiner Komplexitat in der Literatur in verschiedene Teil- komponenten untergliedert (vgl. 2.1.2.3).

Die Eigenstandigkeit des Intelligenzfaktors Space wurde anschlie&end durch die Studien vieler Intelligenzforscher bestatigt, wobei die Theorie der multiplen Intelligenzen nach Gardner vermutlich am weit verbreitesten ist. Neben die raumliche Intelligenz, die die Fa- higkeit beschreibt, „...die visuell-raumliche Welt zu erfassen und sie sich bildhaft vorzu- stellen" (Nolting & Paulus, 1999, S. 81), treten au&erdem die linguistische, die musikali- sche, die mathematisch-logische, die korperlich-kinasthetische, die intrapersonale und die interpersonale Intelligenz (ausfuhrlicher vgl. ebd., S. 81). Nach Maier (1999b, S. 24; Her- vorhebung im Original) geht es Gardner darum, „...die Intelligenzleistungen zu beschrei- ben, die letztlich in allen Kulturen und (bei; Vf.) allen Menschen anzutreffen sind; die raumliche Intelligenz ist dabei von essentieller Bedeutsamkeit". Denn als eine zentrale menschliche Fahigkeit ist das raumliche Vorstellungsvermogen unabdingbar zur Wahr- nehmung der Umwelt und umgekehrt bilden wir es durch unsere unmittelbaren Erfahrun- gen in der dreidimensionalen Welt weiter aus. Daran wird deutlich, wie wichtig es ist, die- sen Bereich der menschlichen Intelligenz bereits in der Grundschule zu fordern, wozu der Mathematikunterricht (bzw. die darin enthaltenen geometrischen Inhalte) einen gro&en Anteil leisten kann und muss (vgl. 3.1 und vgl. 3.2).

2.1.2.3 Bedeutsame Teilkomponenten des raumlichen Vorstellungsvermogens fur die Themenstellung

Um die Bereiche des raumlichen Vorstellungsvermogens herauszufiltern, die in Bezug auf die Themenstellung eine Relevanz besitzen, mussen zunachst die in der Literatur ge- nannten grundlegenden Teilkomponenten erlautert werden. Die erste differenzierte Dar- stellung des Faktors Raumvorstellung hat Thurstone in seiner Drei-Faktoren-Hypothese vorgenommen (vgl. Maier, 1999b, S. 34), die durch das Kategoriensystem nach Linn & Petersen sinnvoll auf funf voneinander abhangige Komponenten erganzt werden kann (vgl. ebd., S. 50). Besuden hat das raumliche Vorstellungsvermogen in den 1970er Jah- ren in drei zusammenhangende Unterfaktoren eingeteilt (vgl. Besuden, 1999, S. 4ff). Deshalb werden im Folgenden in Anlehnung an Maier (1999b) - der uberdies weitere Ansatze zur Unterteilung des Faktors Raumvorstellung skizziert und kritisiert hat - und Franke (2006) die Zusammenfassung der beiden Strukturkonzepte von Thurstone und Linn & Petersen kurz dargestellt, wobei auf die detaillierte Beschreibung beider Konzepte sowie der Aufgaben zur Messung des jeweiligen Teilbereichs verzichtet werden soll. Zum einen, weil dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit deutlich uberschreiten wurde und zum anderen sind die jeweiligen Konzepte samt Aufgabenbeispielen u.a. bei den genann- ten Autoren anschaulich erlautert. AnschlieBend folgt die Untergliederung des Faktors Space nach Besuden.

Die angesprochenen funf Subkomponenten des raumlichen Vorstellungsvermogens, die sich durch die Zusammenfassung der Strukturkonzepte Thurstones und Linn & Petersens nach Maier (1999b, S. 51) ergeben, werden nun kurz beschrieben. Sie lassen sich einer- seits „aufgrund definitorischer Uberschneidungen und wegen der Anwendung unter- schiedlicher Losungsstrategien von Testpersonen bei vielen Testaufgaben (...) nicht ein- deutig voneinander (abgrenzen; Vf.)“ (Maier, 1999a, S. 10) und unter ihnen existieren andererseits mehr oder weniger starke wechselseitige Beziehungen und Abhangigkeiten: Raumliche Wahrnehmung, Veranschaulichung, Vorstellungskraft von Rotationen, Raumli­che Beziehungen und Raumliche Orientierung (Franke (2006, S. 57ff) subsumiert die Vor- stellungsfahigkeit von Rotationen in den Bereich der raumlichen Beziehungen und kommt daher nur auf vier Unterbereiche).

Bei der Subkomponente raumliche Wahrnehmung spielt „...die Orientierung des eigenen Korpers, das Korperschema, eine wesentliche Rolle" (Maier, 1999b, S. 45; Hervorhebung im Original), um die Horizontale und Vertikale erkennen zu konnen. Der Subfaktor Veran­schaulichung, welcher z.T. auch raumliche Visualisierung genannt wird, „...umfasst die gedankliche Vorstellung von raumlichen Bewegungen wie Drehungen, Verschiebungen und Faltungen von Objekten bzw. Teilen von ihnen sowie gedankliches Zerlegen und Zu- sammensetzen ohne Verwendung anschaulicher Hilfen" (Franke, 2006, S. 60). Bei der Fahigkeit zur mentalen Rotation geht es darum, sich Rotationen von zwei- und dreidimen- sionalen Objekten vergegenwartigen zu konnen (vgl. Maier, 1999b, S. 47). Um raumliche Beziehungen herstellen zu konnen, mussen raumliche „...Gruppierungen von Objekten oder Teilen von ihnen und deren Beziehung untereinander" (Franke, 2006, S. 57) korrekt erfasst werden, wobei starre Objekte als Ganzes mental bewegt werden (drehen oder spiegeln) und sich die Person au&erhalb der Aufgabensituation befindet. Sowohl bei der Komponente raumliche Beziehungen als auch bei der Komponente raumliche Orientie- rung ist zunachst „...die Identifizierung eines Objekts aus verschiedenen Blickwinkeln..." (Maier, 1999b, S. 38) wichtig. Sich raumlich orientieren zu konnen beschreibt „...die Fa­higkeit, sich real oder mental im Raum zurechtzufinden" (Franke, 2006, S. 64), wobei sich die Person dabei i.d.R. innerhalb der Aufgabenstellung befindet.

Besuden (1999, S. 4ff) unterteilt die Raumvorstellung in die drei Teilaspekte raumliche Orientierung, raumliches Vorstellungsvermogen und raumliches Denken, die ebenfalls voneinander anhangig sind. Dabei fuhrt er die Subkomponente raumliche Wahrnehmung im Vergleich zu der Zusammenfassung nach Maier (s.o.) nicht extra auf, da er diese und das raumliche Sehen „...mehr als Voraussetzung fur die Raumvorstellung" (ebd., S. 4) ansieht. Die Fahigkeit des raumlichen Orientierens entspricht in diesem Zusammenhang sinngemaB der o.g. Beschreibung, wobei Besuden erganzend Beispiele aus dem Alltag wie die korrekte Erfassung der Links-rechts-Beziehung anfuhrt (vgl. ebd., S. 5). Das raum­liche Vorstellungsvermogen ist die Fahigkeit, „...raumliche Objekte auch bei deren Abwe- senheit reproduzieren zu konnen, sei es durch Sprache oder zeichnerische Wiedergabe" (ebd., S. 5). Diese Definition spiegelt den eigentlichen Kern der Raumvorstellung bzw. des Begriffs selber wider (vgl. 2.1.2.1) und setzt visuelle Wahrnehmungen durch Handlungser- fahrungen mit konkreten Objekten voraus (vgl. 2.1.1 und vgl. 3.3). Beim raumlichen Den­ken geht es um die Fahigkeit, mit Vorstellungsinhalten gedanklich zu operieren, wobei hierzu bereits Handlungen mit Objekten verinnerlicht worden sein mussen. „Dies ist die hochste Stufe der Raumvorstellung, auf der also nicht nur die Gegenstande anschaulich prasent sind, sondern auch noch Lageveranderungen und Drehungen an ihnen gedank­lich vollzogen werden konnen" (ebd., S. 5). Ferner gehort die mentale Rotation eines Objektes dazu, wenn es um die Frage geht, wie es von der Seite oder von hinten aussieht. An dieser Stelle wird die enge Verknupfung zur raumlichen Orientierung deut- lich.

Fur die Inhalte und Zielintentionen der Unterrichtseinheit (vgl. 4.2) und damit fur die The- menstellung der Arbeit sind aufgrund der vielseitigen Wechselwirkungen der einzelnen Subkomponenten der Raumvorstellung zwar mehr oder weniger alle Fahigkeiten von Be- deutung, da sie Voraussetzungen fur das Bauen und das Vorstellen der Wurfelgebaude sowie letztendlich fur das raumliche Vorstellungsvermogen an sich sind. V.a. aber spielen das raumliche Orientieren nach Besuden auch im Sinne des Erfassens und Herstellens raumlicher Beziehungen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle (bspw. sind bei der Abbildung einige Wurfel verdeckt und ihre Anzahl soll bestimmt werden, wozu die Wurfelanzahl dahinter z.B. durch Zahlstrategien ermittelt werden (wie viele befinden sich rechts, links, darunter oder dahinter?) (vlg. 3.4.1)). Des Weiteren ergibt sich diese Zuord- nung, weil sich die zur Einheit gehorenden Inhalte in den Bildungsstandards (und damit im Kerncurriculum) im Bereich Raum und Form wieder finden, fur den beschrieben wird, dass die Schuler „zwei- und dreidimensionale Darstellungen von Bauwerken (z.B. Wurfel- gebauden) zueinander in Beziehung setzen [sollen; Vf.] (nach Vorlage bauen, zu Bauten Bauplane erstellen ...)“ (Sekretariat der Standigen Konferenz der Kultusminister der Lan­der in der BRD, 2004, S. 12) und dies dort dem Unterbereich sich im Raum orientieren zugeordnet wird. Die Teilkomponente raumliches Denken nach Besuden kommt (in An- satzen) dann zum Tragen, wenn durch den HRT nach Ende der Unterrichtseinheit uber- pruft wird, inwiefern sich das raumliche Vorstellungsvermogen der Schuler verandert hat. Denn danach sollte es ihnen moglich sein (durch die Verinnerlichung der konkreten Hand- lungen mit Holzwurfeln), sich verdeckte Wurfel vorstellen zu konnen. Daran wird wieder- um die enge Verknupfung zu den Subkomponenten raumliches Orientieren und erfassen und herstellen raumlicher Beziehungen deutlich. Erreichen einige Schuler tatsachlich be- reits die hochste Ebene - das raumliche Denken - dann sind sie in der Lage, die Anzahl der Wurfel durch die gedankliche Drehung der Wurfelfigur zu bestimmen (mentale Rotati­on). Welche Strategie Schuler jedoch im Einzelfall anwenden, wird schwer bzw. gar nicht zu erfassen sein, da sich die individuellen Gedankengange von mir nicht anhand einer Anzahlbestimmung nachvollziehen lassen. Diesbezuglich werde ich mehrere Schuler wahrend Einzelarbeitsphasen auffordern, mir zu beschreiben bzw. zu erklaren, wie sie vorgehen, wenn sie auf rein ikonischer Ebene die Anzahl der Wurfel eines Wurfelgebau- des bestimmen sollen (vgl. 5.2.1).

2.2 Entwicklung des raumlichen Vorstellungsvermogens

Um weder zu hohe noch zu niedrige Anforderungen und Erwartungen an die Leistungen meiner Lerngruppe in Bezug auf ihr raumliches Vorstellungsvermogen bzw. die Entwick­lung dessen durch die Unterrichtseinheit zu stellen, sondern sie richtig einschatzen zu konnen, wird der allgemeine kognitive Entwicklungsstand von Schulern zu Beginn des zweiten Schuljahres kurz dargestellt und erlautert. Dabei werde ich mich exemplarisch auf zwei wesentliche Theorien beschranken, die sich mit der Entwicklung des raumlichen Denkens bzw. mit dem Lernen von Geometrie auseinandersetzen. Das ist zum einen Pia­gets Erkenntnistheorie zur Reprasentation des Raumes im Vor- und Grundschulalter und zum anderen die Stufentheorie des Ehepaars van Hiele. Auf eine umfassende Darstellung beider Theorien, zugehoriger verschiedener Kritiken sowie eine Diskussion und Skizzie- rung der Weiterfuhrung der Ansatze wird an dieser Stelle jedoch verzichtet (vgl. dazu u.a.

Mietzel (2002) oder Zech (2002)). Fur die theoretischen Grundlagen der Arbeit sind nur die Befunde relevant, die etwas uber die Entwicklung des raumlichen Denkens bzw. Vor- stellungsvermogens von Kindern im Grundschulalter aussagen.

2.2.1 Die Grundzuge der Entwicklung des raumlichen Denkens nach Piaget

Es ist in der Psychologie und in der Padagogik unumstritten, dass die Untersuchungen Piagets und seiner Mitarbeiter trotz zahlreicher Kritiken „...bis heute die wichtigste Er- kenntnisgrundlage fur das Verstandnis geometrischen Lernens" (Radatz & Rickmeyer, 1991, S. 11) und der Entwicklung des kindlichen Denkens uberhaupt bilden. Piaget ent- wickelte auf der Grundlage seiner Beobachtungen ein Modell der Intelligenzentwicklung, bei dem er die kognitive Entwicklung des Kindes idealtypisch in vier aufeinander aufbau- ende, in ihrer Denkleistung durch hohere Anforderungen gekennzeichnete Stadien bzw. Phasen einteilt, die teilweise wiederum weitere Unterteilungen aufweisen (Mietzel, 1986, S. 67ff). Eine fur die Grundschule wichtige Erkenntnis aus Piagets Untersuchungen ist die Tatsache, dass Handlungen in der Vorstellung erst dann vollzogen werden konnen, wenn diese zuvor an konkretem Material durchgefuhrt worden sind (vgl. 3.3). Hinsichtlich der Stufentheorie werden die Altersangaben jedoch heutzutage - vor dem Hintergrund vieler Nachuntersuchungen (vgl. Zech, 2002, S. 93ff) - als Orientierung betrachtet, da die Denkentwicklung nicht starr in Stufen und daruber hinaus bei jedem Individuum unter- schiedlich verlauft (vgl. Mietzel, 1986, S. 68ff; die Altersangaben und Bezeichnungen der einzelnen Stufen sind in der Literatur nicht einheitlich):

- sensomotorische Phase (0-2Jahre)
- voroperationale Phase (2-7 Jahre)
- konkret-operationale Phase (7-11 Jahre)
- formal-operationale Phase (ab 11 Jahre)

Daran ist erkennbar, dass sich die Kinder meiner Lerngruppe im Ubergang von der vor- zur konkret-operationalen Phase oder sich bereits in der Letztgenannten befinden, da alle sieben bzw. acht Jahre alt sind. Aus diesem Grund wird insbesondere die konkret- operationale Entwicklungsphase bezogen auf die Raumvorstellung naher betrachtet, wah- rend die Ubrigen der Vollstandigkeit halber genannt und ggf. kurz angeschnitten werden. Das Durchlaufen dieser Entwicklungsstufen ist „...durch verschiedene Geometrien ge- kennzeichnet (...). Die raumlichen Beziehungen mussen Schritt fur Schritt aufgebaut wer­den, das Kind empfangt sie nicht passiv nur aufgrund von Wahrnehmung, sondern es konstruiert die Beziehungen ausgehend vom konkreten Handeln mit raumlichen Gegen- standen" (Franke, 2006, S. 77). Hier wird die unerlassliche Bedeutung der Handlungsori- entierung im Geometrieunterricht deutlich, damit das Kind von der konkreten Ebene auf die abstraktere bildliche und schlie&lich auf eine von Handlungen und Bildern losgeloste Ebene gelangen kann, indem es die Vorstellungsbilder verinnerlicht und mit ihnen mental operieren kann (vlg. 3.3), weil „...sich raumliche Vorstellungen nicht entwickeln konnen, bevor entsprechende Handlungen selbst durchgefuhrt wurden..."(Maier, 1999b, S. 88). Kinder sammeln von Geburt an individuelle Erfahrungen im bzw. mit dem Raum, die sich v.a. durch taktile und sinnliche Tatigkeiten mit realen Objekten in der voroperationalen Phase zu raumlichen Vorstellungen entwickeln, die dann mental das wirkliche Handeln ersetzen. Dabei versteht Piaget „unter Operationen (...) Ereignisablaufe, die auf gedankli- cher Ebene nach bestimmten logischen Regeln ablaufen" (Mietzel, 1986, S. 68).

Im Stadium der konkreten Operationen ist das raumliche Denken des Kindes zwar weiter- hin „...an konkrete Vorstellungen (d.h. die unmittelbare Anschauung oder zuvor gemachte Erfahrung) gebunden, aber es ist jetzt durch eine groBere Beweglichkeit gekennzeichnet. Die Denkhandlungen werden ,kompositionsfahig’ (zusammensetzbar) und ,reversibel’ (umkehrbar)" (Zech, 2002, S. 91). Daruber hinaus geht laut Maier (1999b, S. 116) aus zahlreichen Studien hervor, „...dass das raumliche Vorstellungsvermogen von Personen unterschiedlichen Alters trainierbar ist" und dass sich diese Fahigkeit insbesondere im Zeitraum vom siebten bis dreizehnten Lebensjahr ausbilden bzw. fordern lasst (vgl. 3.2).

Des Weiteren differenziert Piaget bei der kognitiven Entwicklung raumlicher Fahigkeiten und Fertigkeiten zwischen drei Bereichen raumlicher Beziehungen, die ebenfalls wie Stu- fen nacheinander durchlaufen werden. Dabei handelt es sich in der voroperationalen Phase um das Erkennen topologischer Beziehungen bzw. Raumvorstellungen (z.B. innen - auBen; offen - geschlossen) und in der konkret-operationalen Phase um zunehmende Fahigkeiten bzgl. projektiver (bspw. ein mentaler Perspektivenwechsel ist moglich) und euklidischer Beziehungen bzw. Raumvorstellungen (z.B. Invarianz und Kongruenz) (vgl. dazu ausfuhrlich u.a. Franke (2006, S. 79ff) oder Maier (1999b, S. 90ff)). Zudem werden „...raumliche Lagen gesehen und Korperformen konnen nach ihren Eigenschaften unter- schieden werden" (Radatz & Rickmeyer, 1991, S. 12). Insbesondere die beiden letztge- nannten Aspekte und der des Perspektivenwechsels sind fur die Unterrichtseinheit „Wur- felgebaude" damit fur die Uberprufung der eingangs gestellten Thesen zu einer moglichen Forderung der Raumvorstellung von Bedeutung (vgl. Kapitel 1, 4 und 5.2). Dies begrundet sich u.a. daraus, dass die Schuler diese als Voraussetzung benotigen, um die gestellten Anforderungen uberhaupt leisten zu konnen, was vor dem Hintergrund der wissenschaftli- chen Erkenntnisse als gegeben angesehen werden kann. Nur so kann auch von einer gezielten Forderung des raumlichen Vorstellungsvermogens gesprochen werden.

2.2.2 Van Hieles Stufenmodell zum Verstandnis geometrischer Begriffe

Im Gegensatz zu Piagets Untersuchungen, die weniger in der Praxis durchgefuhrt wur- den, entwickelte das Ehepaar van Hiele auf der Grundlage vielfaltiger und differenzierter Beobachtungen von Schulern im Unterricht ein Stufenmodell, das die Entwicklung des Verstandnisses geometrischer Begriffe und des geometrischen Denkens in Form eines Lernprozesses (und nicht wie bei Piaget in Form eines Entwicklungsprozesses) be- schreibt. Dabei durchlauft das Kind funf aufeinander aufbauende Denkebenen im Lern- prozess, die ein zunehmenderes Verstandnis abstrakterer geometrischer Inhalte und Be- grifflichkeiten beinhalten (vgl. Maier, 1999b, S. 98ff). Diese Niveaustufen beziehen sich jedoch hauptsachlich auf den Sekundarstufenbereich und konnen nur dann erfolgreich bewaltigt werden, „...wenn eine Forderung und Anregung durch geeignete unterrichtliche MaBnahmen erfolgt. So sehen die VAN HIELES im Vergleich zu PIAGET nicht so sehr eine Bedeutung in der altersgemaBen Entwicklung als vielmehr in den sinnvollen Metho- den und Materialangeboten des Unterrichts" (Radatz & Rickmeyer, 1991, S. 13). Das heiBt, dass auch hier die unerlassliche Bedeutung der Handlungsorientierung - v.a. in der Grundschule - beim Verinnerlichungsprozess mentaler Vorstellungsbilder und damit auch bei der Forderung des raumlichen Vorstellungsvermogens betont wird (vgl. 2.2.1 und vgl. 3.3).

Die funf Denkebenen van Hieles werden - bis auf die Niveaustufe 0, die von Grundschu- lern erreicht wird und damit fur die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit wichtig ist - im Folgenden nicht naher erlautert (dazu sei auf Radatz & Rickmeyer (1991, S. 13ff) oder Franke (2006, S. 115ff) verwiesen). Wie bei Piagets Stufen der Entwicklung existieren auch fur die Niveaustufen in der Literatur unterschiedliche und synonym verwendete Be- zeichnungen. Ich orientiere mich an Frankes Ubersicht (2006, S. 114; Hervorhebung Vf.): „0. Niveaustufe: Raumlich-anschauungsgebundenes Denken

1. Niveaustufe: Geometrisch-analysierendes Denken
2. Niveaustufe: Geometrisch-abstrahierendes Denken
3. Niveaustufe: Geometrisch-schlussfolgerndes Denken
4. Niveaustufe: Strenge, abstrakte Geometrie"

Wie die Bezeichnung der 0. Niveaustufe es schon impliziert, ist hier das geometrische Arbeiten und Denken der Kinder fast ausschlieBlich an Handlungen mit konkretem An- schauungsmaterial gebunden, um mentale Vorstellungsbilder des Raumes bzw. von raumlichen Objekten aufbauen zu konnen (s.o.). Aber auch dies geschieht in einge- schranktem MaBe: „Raumliche Beziehungen werden nur in der unmittelbaren Umgebung von den Schulern erfaBt [sic], wobei geometrische Figuren als Ganzheiten gesehen wer­den, nicht jedoch im Hinblick auf Einzelheiten oder Eigenschaften" (Radatz & Rickmeyer, 1991, S. 13). Des Weiteren ist es den Kindern moglich, verschiedene geometrische For- men und Korper zu unterscheiden, die dazugehorigen Bezeichnungen und Begriffe zu lernen sowie mit den verschiedensten geometrischen Figuren zu hantieren (legen, falten, bauen, zusammensetzen u.v.a.m.) (vgl. ebd., S. 13f).

2.3 Fazit

Sowohl in Bezug auf die Untersuchungen zur menschlichen Intelligenz nach Thurstone, den darauf folgenden zahlreichen Studien als auch auf die Theorie Gardners stellt sich der Faktor der raumlichen Intelligenz deutlich als ein eigenstandiger heraus, der nicht nur hochgradig komplex ist, sondern „...der, leistungsfahig ausgebildet, als unschatzbarer Vorteil in unserer Gesellschaft angesehen wird" (Maier, 1999b, S. 29). Vor diesem Hinter- grund muss die Grundschule ihrem Bildungsauftrag gerecht werden und die Fahigkeit des raumlichen Vorstellungsvermogens von Beginn an bei den Schulern fordern (vgl. ebd., S. 116). Dass dies im Leben eines Menschen gerade in diesem Zeitfenster stattfinden sollte, haben viele Studien zur Trainierbarkeit der Raumvorstellung belegt (vgl. 2.2.1). Wie dies im bzw. durch den Mathematikunterricht geschehen kann, wird im Rahmen dieser Arbeit exemplarisch an einer Unterrichtseinheit dargestellt, die einen raumgeometrischen Schwerpunkt hat (vgl. Kapitel 4). Als dafur bedeutsame Subkomponenten der Raumvor­stellung wurden in Kapitel 2.1.2.3 die raumliche Orientierung und das Erfassen und Her- stellen raumlicher Beziehungen herausgestellt, weil diese durch die Inhalte der Unter­richtseinheit „Wurfelgebaude" angesprochen und gefordert werden sollen. Alle Unterbe- reiche auf einmal gezielt anzusprechen und weiter auszubilden, wurde einerseits mit dem Ruckbezug zur Theorie aufgrund des hohen Komplexitatsgrades und andererseits hin- sichtlich der Umsetzbarkeit in der Praxis sicher zu weit fuhren. Dazu waren verschiedene geometrische Inhalte, die im Laufe der Grundschulzeit (auch in Form eines Spiralcurricu- lums) Gegenstand des Mathematikunterrichtes sind, notwendig.

Wie sich die Entwicklung des Denkens beim Kinde im konkret-operationalen Stadium bzw. im Ubergang dorthin vollzieht, wurde in Kapitel 2.2 am Beispiel der Theorien Piagets und van Hieles skizziert. Beide betonen die Bedeutung eines anschauungsgebundenen und gezielt materialintensiven Lernens fur den Mathematikunterricht der Grundschule, damit sich die Kinder langsam von der konkreten Ebene losen, um durch eine Verinnerli- chung der Handlungen am Objekt eben diese mental auf der reinen Vorstellungsebene vollziehen zu konnen (vgl. Maier, 1999b, S. 117). Nur auf diese Weise konnen sich durch konkrete Handlungserfahrungen raumliche Vorstellungsbilder entwickeln, die im Laufe der Zeit an Komplexitat und Flexibilitat zunehmen und sich das Denken somit kontinuierlich auf einem abstrakteren Niveau bewegt.

Vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen werden im folgenden Kapitel daraus die Konsequenzen fur die Unterrichtsplanung und -durchfuhrung gezogen. Dabei wird zunachst auf die Prinzipien des Geometrieunterrichts im Allgemeinen sowie auf die Be- deutung des raumlichen Vorstellungsvermogens fur diesen eingegangen, wobei Erlaute- rungen zur Relevanz des schon so oft angesprochenen Bereiches der Handlungsorientie- rung nicht fehlen durfen. Diesbezuglich wird in Kapitel 3.3 die Theorie der Darstellungs- ebenen von Bruner aufgegriffen, die zwar eine Weiterfuhrung Piagets Gedankengange ist, aber wegen der Betonung der Handlungsorientierung in diesem Zusammenhang aufge­griffen und dargestellt wird. AnschlieBend folgen Erlauterungen zum HRT, die Auswertung der Vortests und die Darstellung der daraus abgeleiteten Lernausgangslage.

[...]


1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden für Personenbezeichnungen beider Geschlechter ausschließlich die maskuline Form verwendet.

Ende der Leseprobe aus 59 Seiten

Details

Titel
Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens im Mathematikunterricht der Grundschule
Untertitel
Am Beispiel der Unterrichtseinheit "Würfelgebäude" in einer zweiten Klasse
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
59
Katalognummer
V156695
ISBN (eBook)
9783640702619
ISBN (Buch)
9783640702725
Dateigröße
706 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Förderung, Vorstellungsvermögens, Mathematikunterricht, Grundschule, Beispiel, Unterrichtseinheit, Würfelgebäude, Klasse
Arbeit zitieren
Nina Bücker (Autor:in), 2008, Förderung des räumlichen Vorstellungsvermögens im Mathematikunterricht der Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/156695

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