Nahezu jeder von uns wird bereits im Kindesalter mit der literarischen Gattung
des Märchens Bekanntschaft gemacht, ja Freundschaft geschlossen haben. Von
Kindesbeinen an wurden wir versorgt mit allerlei den Märchen zugehörenden
phantastischen Stoffen, mit Geschichten von Helden, ob arm oder reich, die sich
einer Welt von Feen und Hexen, Zauber und Magie gegenübersehen. Eine
besondere Faszination strahlen diese Geschichten aus, die sich dem Schema der
strikten Trennung von Gut und Böse bedienen, um letztendlich den Siegeszug der
Gerechtigkeit zu feiern.
Die Brüder Grimm, Hans Christian Andersen oder E.T.A. Hoffmann sind uns als
Autoren dieser Erzählungen bekannt, und selbst denjenigen unter uns, die sich
nicht als ausgesprochene Verfechter dieses literarischen Stoffes wähnen, sind
„Dornröschen“, „Aschenputtel“, „Rotkäppchen“, „Die kleine Meerjungfrau“ oder
auch „Nussknacker und Mäusekönig“ wenn nicht durch Vorlesen oder eigenes
Lesen, so doch durch Adaptionen kultureller Einrichtungen und Medien bekannt.
Eine besondere Stellung genießen die über die Landesgrenzen hinaus bekannten
Märchen der Brüder Grimm. Ihre Kinder- und Hausmärchen, die erstmals 1812 /
1815 in zwei Bänden in Buchform erschienen, gehören häufig zum Inventar
deutscher Kinderzimmer und erfreuen sich noch heute großer Popularität bei Groß
und Klein.
Unangefochten nehmen sie die Stellung eines Klassikers in der weniger Jugendals
Kinderliteratur ein; eines Klassikers, der ganz traditionell in keiner
Kinderstube fehlen darf.
So populär aber die Inhalte der Märchen bei den Erwachsenen und ihren Kindern
sind, so unbekannt ist auch die Tatsache, dass diese „Kinderklassiker“
ursprünglich nicht für Kinder geschrieben wurden. Mit Augenmerk auf die Frage,
wie aus dieser nicht für Kinder bestimmten Sammlung von Erzählungen ein
Kinderklassiker werden konnte, sollen im Folgenden daher nicht die Inhalte der
Märchen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, sondern ihre Entstehungs- und
Entwicklungsgeschichte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Epochale Einordnung
2.1 Die Brüder Grimm und die Entstehung der „Kinder- und Hausmärchen“
3. Die Grimmsche Literaturgeschichtskonzeption
4. Zur Überlieferung und Bearbeitungspraxis
5. Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm als Klassiker der Kinderliteratur
6. Schlussbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Nahezu jeder von uns wird bereits im Kindesalter mit der literarischen Gattung des Märchens Bekanntschaft gemacht, ja Freundschaft geschlossen haben. Von Kindesbeinen an wurden wir versorgt mit allerlei den Märchen zugehörenden phantastischen Stoffen, mit Geschichten von Helden, ob arm oder reich, die sich einer Welt von Feen und Hexen, Zauber und Magie gegenübersehen. Eine besondere Faszination strahlen diese Geschichten aus, die sich dem Schema der strikten Trennung von Gut und Böse bedienen, um letztendlich den Siegeszug der Gerechtigkeit zu feiern.
Die Brüder Grimm, Hans Christian Andersen oder E.T.A. Hoffmann sind uns als Autoren dieser Erzählungen bekannt, und selbst denjenigen unter uns, die sich nicht als ausgesprochene Verfechter dieses literarischen Stoffes wähnen, sind „Dornröschen“, „Aschenputtel“, „Rotkäppchen“, „Die kleine Meerjungfrau“ oder auch „Nussknacker und Mäusekönig“ wenn nicht durch Vorlesen oder eigenes Lesen, so doch durch Adaptionen kultureller Einrichtungen und Medien bekannt.
Eine besondere Stellung genießen die über die Landesgrenzen hinaus bekannten Märchen der Brüder Grimm. Ihre Kinder- und Hausmärchen, die erstmals 1812 / 1815 in zwei Bänden in Buchform erschienen, gehören häufig zum Inventar deutscher Kinderzimmer und erfreuen sich noch heute großer Popularität bei Groß und Klein.
Unangefochten nehmen sie die Stellung eines Klassikers in der weniger Jugend- als Kinderliteratur ein; eines Klassikers, der ganz traditionell in keiner Kinderstube fehlen darf.
So populär aber die Inhalte der Märchen bei den Erwachsenen und ihren Kindern sind, so unbekannt ist auch die Tatsache, dass diese „Kinderklassiker“ ursprünglich nicht für Kinder geschrieben wurden. Mit Augenmerk auf die Frage, wie aus dieser nicht für Kinder bestimmten Sammlung von Erzählungen ein Kinderklassiker werden konnte, sollen im Folgenden daher nicht die Inhalte der Märchen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, sondern ihre Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte.
2. Epochale Einordnung
Das Bild, das uns vielleicht vor unserem inneren Auge erscheint, wenn wir an Kinder denken, die sich von Mutter oder Großmutter Märchen vorlesen lassen, ist nahezu gleichermaßen mit demselben Begriff verbunden wie der epochale Ursprung eben dieser Erzählungen: Romantik.[1] Das Wort „romantisch“, das als Ableitung von Roman und Romanze bereits im 17. Jahrhundert auftauchte, bezeichnete eine poetische Welt, in der sich die Vorliebe für das Emotionale, das Phantastische, das Wunderbare, aber auch das Geheimnisvolle und Schaurige begründete.[2] All dies der Romantik zugehörige finden wir in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm wieder, die zur Zeit dieser geistigen Strömung tätig waren und deren Leben unabdingbar mit ihrer Sammlung von Volksmärchen in Verbindung steht. Um dem Faden der Entstehungsgeschichte und -entwicklung folgen zu können, ist es lohnenswert einen Schritt zurückzugehen und einige biographische Eckdaten der beiden Autoren aufzugreifen.
2.1 Die Brüder Grimm und die Entstehung der ‚Kinder- und Hausmärchen’
Durch das Studium bei Friedrich Carl von Savigny[3], dem Begründer der historischen Rechtsschule[4], die das „organisch“ gewachsene Recht gegen die aufklärerische Naturrechtslehre stellte, wurde das Interesse der Brüder Grimm[5] an mittelalterlicher Literatur und Volksdichtung geweckt. Der gemeinsame Lebensweg, die Anstellung als Bibliothekare und Gelehrte in Kassel, Göttingen und später Berlin verband die beiden Geschwister aufs Innigste.
Die Idee eine Sammlung von Volksmärchen anzufertigen, lässt sich auf das Jahr 1807 zurückdatieren, als Clemens Brentano[6] mit seinem Freund und späteren Schwager Achim von Arnim[7] nach Kassel reiste, um dort den zweiten und dritten Band ihrer Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ fertig zu stellen.[8] Brentano hatte Jakob und Wilhelm Grimm bereits 1805 durch ihren Lehrer Savigny, der gleichfalls ein Schwager Brentanos war, kennen gelernt. Schon damals war es ein Anliegen Brentanos, die Brüder für die Gattung des Märchens zu interessieren[9] – vermutlich nicht ganz aus Selbstlosigkeit. Die gemeinsame Arbeit und Freundschaft mit den beiden Herausgebern der Volkslied-Sammlung bestärkte letztendlich den Beschluss der Brüder Grimm „Volksmärchen“ zu sammeln.
[...]
[1] Zeitliche Einordnung: 1788-1835. Als Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung und die Formenstrenge
der Klassik war die geistige und literarische Strömung der Romantik sehr irrational ausgerichtet.
[2] Entsprechend waren die bevorzugten Gattungen der Romantiker 1. der Roman, der zu einer Art Universal-
Gattung erhoben wurde, da in ihm alle Gattungen vereint werden sollten, 2. die Novelle, die phantastische,
märchenhafte und legendäre Motive verwendete und 3. die in die Prosa eingebettete Lied-Lyrik, die den
stimmungshaften Ton verstärken sollte.
[3] * 21. Februar 1779 Frankfurt am Main, † 25. Oktober 1861 Berlin. Deutscher Rechtslehrer, der in Marburg,
Landshut und seit 1810 in Berlin lehrte. 1842-1848 war er als Minister für Gesetzgebung tätig. Als Begründer
der Historischen Rechtsschule und Gegner des kodifizierten Rechts entwickelte er die Lehre vom "Volksgeist"
(Brauchtum u. a.) als Rechtsquelle.
[4] Lehrmeinung der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die das Recht als Funktion der
Geschichte und des Volksgeistes und das Rechtsleben als einen individualisierten Teil des Volkslebens
verstand.
[5] Jakob Ludwig Carl Grimm (*Hanau am Main, 4. Januar 1785, † Berlin, 20. September 1863)
Begründer der deutschen Philologie, zusammen mit W. Grimm u. K. Lachmann. Zunächst Bibliothekar in
Kassel, 1830-1837 Professor in Göttingen, dann als Mitverfasser des Protestes der ‚Göttinger Sieben’ seines
Amtes enthoben, seit 1841 in Berlin.
Mit seinen auf eingehender Quellenforschung beruhenden Werken ‚Deutsche Grammatik’ 1819-1937 und
‚Geschichte der deutschen Sprache’ 1848 legte er die Grundlage der Germanistik. Er bearbeitete die ersten
Bände des von ihm und Wilhelm Grimm begründeten "Deutschen Wörterbuchs" 16 Bände 1854-1961.
Wilhelm Karl Grimm (*Hanau am Main, 24. Februar 1786, †Berlin, 16. Dezember 1859)
Deutscher Germanist, der die Dichtung des Volkes und des Mittelalters in die Mitte seiner Arbeit stellte. Er
war für die sprachliche Gestaltung der "Kinder- und Hausmärchen" (1812-1815, mit J. Grimm) verantwortlich
und erforschte wegweisend ‚Die deutsche Heldensage’ 1829.
[6] * 9. September 1778 Ehrenbreitstein, † 28. Juli 1842 Aschaffenburg. Brentano war vor allem Lyriker von
einzigartiger musikalischer Sprachkraft und unerschöpflicher Erfindungsgabe. Werke: „Godwi“ 1801, „Ponce
de Leon 1804, „Des Knaben Wunderhorn“ 1806-1808 (zusammen mit Achim von Arnim), „Die Gründung
Prags“ 1815, „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ 1817, „Gockel, Hinkel und
Gackeleia“ 1838, „Romanzen vom Rosenkranz“ 1852.
[7] Ludwig Joachim von Arnim, * 26. Januar 1781 Berlin, † 21. Januar 1831 Gut Wiepersdorf in der Mark.
Freund und seit 1811 Schwager von C. Brentano, mit welchem er die einflussreiche Sammlung alter
Deutscher Volkslieder („Des Knaben Wunderhorn“) herausgab. Werke: „Halle und Jerusalem“ 1811
(nach A. Gryphius), „Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores“ 1810, „Isabella von Ägypten“
1812, „Die Kronenwächter“ 1817 (2. Band 1854), „Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau“ 1818, „Die
Majoratsherren“ 1819.
[8] Braun-Biehl, 1990. S. 176
[9] v. d. Leyen, 1964. S. 5
- Arbeit zitieren
- Yvonne Vitt (Autor:in), 2002, Die Märchen der Brüder Grimm, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15738
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