Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Theoretischer Teil
1. Identität
1.1 Begriffsklärung
1.2 Die Identitätstheorien
1.2.1 H. Tajfel & J.C. Turner: Theorie der sozialen Identität
1.2.2 Erik H. Erikson: Stufentheorie der Entwicklung
1.2.2 H. Keupp: Patchwork-Identität
1.2.3 Bikulturelle Identität
2. Sozialisation türkischer Migranten
2.1 Die Akkulturation
2.1.1 Das Akkulturationsmodell von Berry
2.1.2 Das Interaktive Akkulturationsmodell von Bourhis et al
2.2 Sozialisationsmodell von Schräder u.a
2.3 Sozialisationsbedingungen türkischer Jugendlicher der zweiten Generation
2.3.1 Familie
2.3.2 Schule
2.3.3 Peer-Groups
2.3.4 Ausbildung
3. Identität und Migration in Zeiten der Globalisierung
3.1 Nationale Identität und Migration
3.2 Geschichte der türkischen Arbeitsmigranten
3.3 Identitätsmerkmale der türkischen Migranten der ersten und zweiten Generation
3.3.1 Die erste Generation
3.3.2 Die zweite Generation
4. Abgrenzungen und Differenzierungen
4.1 Das Türkenbild in Deutschland
4.2 Ausgrenzungen der türkischen Migranten in der deutschen Gesellschaft
4.3 Besonderer Fall: Frauen mit Kopftuch
III. Empirischer Teil
Empirische Untersuchung der Identitätsentwicklung türkischer Jugendlicher in Deutschland
5. Methodik
5.1 Das interpretative Paradigma qualitativer Sozialforschung
5.2 Das qualitative problemzentrierte Interview als eine Methode der qualitativen Forschung
5.3 Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
6. Zur Durchführung der eigenen Untersuchung
6.1 Fragestellung
6.2 Erstellung des Leitfadens
6.3 Auswahl der Interviewpartner
6.4 Fallbeispiele
7. Die Auswertung
7.1 Die Einzelanalyse
7.1.1 Das 1. Interview
7.1.2 Das 2. Interview
7.1.3 Das 3. Interview
7.1.4 Das 4. Interview
7.2 Vergleichende Analyse der Interviews
7.3 Interpretation der Ergebnisse
IV. Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis:
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
V. Anhang
8. Interviewleitfaden
9. Transkription der Interviews
9.1 Das 1. Interview
9.2 Das 2. Interview
9.3 Das 3. Interview
9.4 Das 4. Interview
I. Einleitung
In der Bundesrepublik Deutschland beträgt die Zahl der ausländischen Bevölkerung 6,7 Millionen[1] Personen, 25% davon (oder 1,7 Millionen) sind Migranten[2] aus der Türkei. Mehr als eine Million der Gesamtzahl der türkischen Migrantenpopulation sind Kinder und Jugendliche. Die meisten sind bereits hier geboren, ein kleinerer Teil kam aufgrund der Familienzusammenführung im Kindesalter nach Deutschland. Diese Arbeit ist dieser großen Gruppe der hier geborenen jungen türkischen Migranten der zweiten Generation gewidmet. Der Begriff der zweiten Generation umfasst hier die Kinder der ausländischen Arbeitnehmer, die infolge der Anwerbeabkommen nach Deutschland gekommen sind. Das Ziel dieser Arbeit ist es, den Prozess der Identitätsentwicklung bei dieser Gruppe zu untersuchen.
Da diese Jugendlichen unter Einfluss zweier Kulturen stehen, einerseits der türkischen, die durch Eltern und die türkischen Migrantenorganisationen geprägt wird, und andererseits der deutschen, die durch Schule, Medien und Freundeskreis vermittelt wird, ist es sehr interessant, wie die Jugendlichen mit der Aufgabe der Kombination zwei verschiedenen Normen und Wertesystemen zurechtfinden. Die Identitätsentwicklung von Migrantenkindern und –jugendlichen wird in der Literatur als besonders problematisch und krisenhaft gesehen, es werden bei ihnen infolge des Kulturkonflikts große Probleme vermutet. Sie sind mit den widersprüchlichen Anforderungen dieser zweier verschiedenen kulturellen Systeme konfrontiert und müssen diese zwei Kulturen vereinbaren, die eigene Norme und Werte herausarbeiten, den Weg zur eigenen Identität finden. Das ist bestimmt schwierig, aber das Aufwachsen in zwei Kulturen bringt auch die Vorteile mit sich, wie das Kennenlernen zweier Kulturen, das Bilingualismus. Diesbezüglich stellt sich die Frage – wie schätzen die Jugendlichen ihre Lage ein, stellt das Aufwachsen in zwei Kulturen für sie eine Belastung oder eine Bereicherung dar. Von der Palette dieser Fragestellungen bewegt sich diese Untersuchung.
Die Frage der Identitätsentwicklung von Migranten erlangt eine besondere Aktualität in unsere Zeit der Globalisierung, wenn die Grenzen abschaffen werden und der Mensch immer mobiler werde. Immer mehr Kinder wachsen unter Bedingungen der Migration, in einem bikulturellen Umfeld und es besteht ein großer Bedarf genauer zu erforschen, wie der Prozess der Sozialisation und Identitätsbildung bei diesen Kindern erfolgt, mit welchen Schwierigkeiten sie konfrontiert werden, um mit pädagogischen Maßnahmen daran anzuknüpfen und denen eine Hilfe in ihrer Lebensbewältigung anzubieten.
Die vorliegende Arbeit ruht auf der Analyse von problemzentrierten Interviews, in denen vier Jugendlichen türkischer Herkunft ihre Lebensgeschichten erzählen. Die zentrale Forschungsinteresse stellen dabei die Fragen, wie die Jugendlichen ihre Situation des Aufwachsens in zwei Kulturen erleben und wie sich ihre Identitätsentwicklung gestaltet. Der empirischen Untersuchung geht die Analyse des theoretischen Materials zum Thema voran.
Daher ist die Arbeit in theoretischen und empirischen Teile gegliedert.
Das erste Kapitel des theoretischen Teils ist den Prozessen der Identitätsbildung gewidmet. Nach der begrifflichen Klärung des Terminus Identität werden drei relevante Identitätskonzepte – die Theorie der sozialen Identität von H. Tajfel & J.C. Turner, die Stufentheorie der Entwicklung von E. Erikson und das Konzept der Patchwork-Identität von H. Keupp vorgestellt und wird das Phänomen der bikulturellen Identität erläutert.
Da die Sozialisationsbedingungen eine große Rolle bei der Identitätsentwicklung spielen, konzentriert sich das zweite Kapitel auf den Sozialisationsprozessen. Es werden die zwei bekannteste Akkulturationsmodelle - von Berry und von Bourhis et al. dargestellt und wird kurz auf den Versuch deutscher Wissenschaften unter Leitung von Schrader, ein Modell für die Sozialisation der Migrantenkinder zu schaffen, eingegangen. Demzufolge werden konkrete Sozialisationsbedingungen türkischer Jugendlichen geschildert.
In nächstem Kapitel wird Identität im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Prozessen der Globalisierung betrachtet. Es wird mit der Klärung der Begriffe nationaler Identität, Migration und Zuwanderung angefangen, die Geschichte der türkischen Migranten wird beleuchtet und die Unterschiede in den Identitätsmerkmalen der ersten und zweiten Generationen türkischen Migranten werden aufgezeigt.
Im vierten theoretischen Kapitel werden spezielle Fragen behandelt. Die in deutscher Gesellschaft herrschenden Vorstellungen über die hier lebenden Türken werden analysiert, und daraus resultierende Probleme der türkischen Jugendlichen werden geschildert, insbesondere deren Ausgrenzungen aus der deutschen Gesellschaft. Zum Schluss des theoretischen Teils befasse ich mich mit dem besonderen Fall der kopftuchtragenden Migrantinnen. Wie sie ihre Identität definieren und ob der Kopftuch den Teil ihrer Identität darstellt, sind die zu behandelten Fragen.
Die nächsten drei Kapitel umfassen die eigene empirische Untersuchung der Identitätsentwicklung türkischer Jugendlichen in Deutschland. Das fünfte Kapitel ist der Erläuterung und Begründung der methodischen Vorgehensweise gewidmet. Im nächsten Kapitel wird das methodische Vorgehen erörtert. Im siebten Kapitel folgt die Auswertung der Interviews anhand der Methode der strukturierten Inhaltsanalyse nach Mayring und Sicherung der Ergebnisse.
II. Theoretischer Teil
1. Identität
1.1 Begriffsklärung
Der Begriff Identität ist heutzutage ein Modewort geworden, man findet ihn in den unterschiedlichsten Bereichen unseres Lebens. Man spricht über Geschlechtsidentität, Altersidentität, kulturelle Identität, nationale Identität, berufliche Identität, schulische Identität, Identität einer Gruppe oder Organisation usw.
Die Gründe derartiger Popularität dieses Begriffes sind in der ersteigerten Problematik der Identität heutzutage zu suchen. Der Mensch in der Moderne ist vor die Aufgabe gestellt, seine persönliche Identität herzustellen. Wenn in der vorindustriellen Gesellschaft dem Menschen seine Identität von Geburt an vorgegeben wurde und sein Lebensweg mit den Geburtsumständen vorbestimmt war, ist heute jeder damit konfrontiert, seine Identität erst zu erarbeiten und seine Lebenswege zu entdecken. „Auf die klassische Frage nach der Identität: ’Wer bist Du?“ hatte der Mensch früher geantwortet: ’Ich bin der Sohn meines Vaters’. Heute erklärt er: ’Ich bin ich, ich verdanke alles mir selbst und schaffe mich durch eigene Wahl und Tat’. Dieser Identitätswandel ist das Kennzeichen unserer Modernität“[3].
Dabei ist der Mensch bei der Bestimmung seiner Identität mehr oder weniger auf sich alleine angewiesen. Als höchstes Lebensziel gilt nach Maslows Bedürfnispyramide Selbstverwirklichung, aber es fehlen die verlässlichen Wege dazu. „Einzigartig ist, wer sich selbst verwirklicht, aber wie er das tun soll, bleibt ihm überlassen“[4].
Erik H. Erikson, der oft als Vater des Identitätsbegriffs bezeichnet wird, versteht Identität als die „unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit und der damit verbundenen Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“[5]. So ist Identität nach Erikson das Bewusstsein der eigener „Ich-Kontinuität“, die sich im Spannungsfeld zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmungen entwickelt.
Identität stellt für Erikson eine spezifische Synthese- oder Integrationsleistung des Ich dar. „Zu integrieren sind zum einen die Sicht der anderen von mir und mein Selbstkonzept, weiterhin verschiedene Rollen- und Identitätsangebote, die normativen Systeme eventuell mehrerer Bezugsgruppen, zum anderen bisherige Erfahrungen, Identifikationen und Fähigkeiten mit aktuell oder auch zukünftig erwarteten, d.h. zu integrieren sind auch biografische Vergangenheit und Zukunft“[6].
Ausgehend von Eriksons Begriffsbestimmung wird gewöhnlich zwischen sozialer und persönlicher Identität unterschieden. Soziale Identität wird „dem Individuum in einem sozialen System zugeschrieben […], [ ist ] eine Kombination von Merkmalen und Rollenerwartungen, die es kenntlich, identifizierbar macht“[7]. Sie umfasst die Außenperspektive. Persönliche Identität schließt in sich das Selbstbild, die Selbstzuschreibungen und Erfahrungen, die der Mensch gemacht hat, oder eben das Selbst aus der Innenperspektive ein. Sie muss „von Person in bewusster Selbstreflexion erarbeitet werden“[8].
Identität wird heutzutage nicht als ein statistischer Besitz betrachtet, der einmal erarbeitet wurde und nicht mehr zu verlieren ist, sondern als ein lebenslanger Prozess. Mit den Identitätsfragen beschäftigen sich in unserer Zeit nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene bis zu den letzten Phasen des Lebens. Dieser Prozess wird von zwei Grundbedürfnissen vorangetrieben, dem Bedürfnis nach Selbsterkenntnis und dem Bedürfnis nach Selbstgestaltung[9]. Das Individuum ist bestrebt, sich zu erkennen und sich zu gestalten, an sich zu arbeiten, sich zu formen. Das Identitätskonzept muss infolge neuer Erfahrungen immer wieder aktualisiert und neu gestaltet werden. Die Identitätsentfaltung ist ein Prozess, der immer neue Ziele voraussetzt.
1.2 Die Identitätstheorien
Da der Fokus dieser Arbeit auf Identitätsentwicklung türkischer Jugendlicher fällt, sind vor allem die theoretischen Überlegungen zur Identitätsentwicklung von Bedeutung, die sich auf das Jugendalter und Migration beziehen. Die Theorie der sozialen Identität von H. Tajfel & J.C. Turner beleuchtet soziale Aspekte der Identität des Menschen, die für die Fragestellung der Identitätsentwicklung unter Bedingungen der Migration besondere Relevanz erlangen. Beachtliche Ansichten zur Identitätsentwicklung im Jugendalter liefern Stufentheorie der Entwicklung von E. Erikson und das Konzept der Pachwork-Identität von H. Keupp. Die Theorie von E. Erikson beeinflusste die Identitätsforschung vielleicht am meisten und diente als Anstoß für viele weitere Identitätskonzepte. Die Pachwork-Identität von H. Keupp ist die interessanteste Idee unter modernen Identitätskonzepten und kann einige Erklärungen zu Identitätskonstruktionen von Migranten liefern. Außerdem wird das Phänomen der bikulturellen Identität und Bedingungen deren Entwicklung erläutert.
1.2.1 H. Tajfel & J.C. Turner: Theorie der sozialen Identität
Die Theorie der sozialen Identität (SIT- social identity theory) wurde Ende der siebziger Jahre von Henry Tajfel konzipiert und dann durch die Selbst-Kategorisierungs-Theorie von John C. Turner, einen Schüler Tajfels, weiterentwickelt. Die Theorie der sozialen Identität behandelt die Spezifika der Beziehungen zwischen Gruppen, sie beschäftigt sich mit den sozialpsychologischen Prozessen der Entstehung der Gruppen, dem Einfluss der Gruppenzugehörigkeit auf das Individuum, den Besonderheiten des Gruppenverhaltens sowie dem Mechanismus der Entwicklung von Vorurteilen und Diskriminierungen zwischen den Gruppen.
Als Ausgangspunkt der Theorie dienten die Experimente mit dem „Minimalen-Gruppen-Paradigma“, die von Tajfel und seinen Mitarbeitern 1971 durchgeführt wurden. Das „Minimale-Gruppen-Paradigma“ sollte den Effekt reiner Kategorisierung auf das Verhalten der Gruppenmitglieder prüfen und schloss folgende Bedingungen ein[10]:
- Keine face-to-face-Interaktionen innerhalb und zwischen den Gruppen
- Anonymität der Gruppenmitgliedschaften
- Keine instrumentelle oder rationale Zuordnung zu Gruppen
- Kein persönlicher Nutzen durch Ressourcenverteilungen
- Eine gewisse Bedeutsamkeit der verteilten Ressourcen für die Versuchsteilnehmer
Die Ergebnisse dieser Experimente zeigten, dass bereits die Aufteilung der Personen in zwei Gruppen unter Einhalten dieser Kriterien ausreicht, damit die Mitglieder der eigenen Gruppe deutlich bevorzugt und Mitglieder der Fremdgruppe diskriminiert wurden. Obwohl kein Konflikt zwischen den Gruppen bestand, kam es zu einer ungleichmäßigen Verteilung des Geldes zugunsten der eigenen Gruppe. Diese Experimente bilden die Grundlage der Theorie der sozialen Identität. Den Gegenstand der Theorie bilden vier psychologische Prozesse, die miteinander in Verbindung stehen: soziale Kategorisierung, soziale Identität, sozialer Vergleich und soziale Distinktheit[11]. Unter dem Prozess der sozialen Kategorisierung ist die Zuordnung der sozialen Welt gemäß verschiedener Merkmale zu den unterscheidbaren sozialen Kategorien oder Gruppen gemeint. Ein Individuum bekommt dadurch Informationen sowohl über seinen eigenen als auch über den Platz anderer Personen innerhalb des sozialen Systems und gewinnt Orientierung in der sozialen Realität. Soziale Kategorisierung verleiht ihren Mitgliedern eine soziale oder kollektive Identität. Die Summe sozialer Identifikationen eines Individuums stellt seine soziale Identität dar.
Tajfel[12] definiert soziale Identität „als den Teil eines Selbstkonzeptes eines Individuums […], der sich aus seinem Wissen um seine Mitgliedschaft in sozialen Gruppen und aus dem Wert und der emotionalen Bedeutung ableitet, mit der diese Mitgliedschaft besetzt ist“. So nimmt er an, dass das Selbstkonzept einer Person durch ihre Angehörigkeit bestimmter sozialer Gruppen und die Bewertung dieser sozialen Mitgliedschaften beeinflusst wird. Das Individuum strebt nach einem positiven Selbstbild, nach positiver sozialer Identität, das ist die zentrale Annahme der Theorie. Wenn die Mitgliedschaft in der Gruppe zur Aufrecherhaltung des positiven Selbstkonzeptes beiträgt, ist das Individuum bestrebt, Mitglied dieser Gruppe zu bleiben. Wenn es nicht der Fall ist, wird er dazu tendieren, die Gruppe zu verlassen. Ist das aus objektiven Gründen nicht möglich, wird versucht entweder die ursprünglich negativ bewerteten Merkmale der Gruppe als akzeptabel oder sogar positiv zu erklären oder an der Veränderung der Situation der Gruppe durch soziale Aktionen zu wirken[13].
Soziale Identität entwickelt sich im sozialen Vergleich mit anderen Gruppen. Die Besonderheiten der eigenen Gruppe werden erst im Kontrast zu den unterschiedlichen Charakteristiken der anderen Gruppen klar und erhalten ihre Bedeutung. Die soziale Vergleiche zwischen eigener und anderen Gruppen sollen für die eigene Gruppe möglichst positiv ausfallen, damit die positive soziale Distinktheit zu den anderen Gruppen erreicht wird[14].
So erklärt die SIT die Prozesse der Abwertung und Diskriminierung der Fremdgruppe durch das Streben nach Erlangung oder Aufrechterhaltung eines positiven Selbstwertes.
Die Selbst-Kategorisierungs-Theorie von John C. Turner et al.
Turner et al. schließen sich der Theorie der sozialen Identität von Tajfel an und entwickeln sie weiter durch seine Selbst-Kategorisierungs-Theorie (SCT - self-categorization theory)[15]. Sie heben die Bedeutung der kognitiven Mechanismen der Selbstkategorisierung im Prozess der Entwicklung einer sozialen Identität hervor. Die Theorie der Selbstkategorisierung beschäftigt sich mehr mit Gruppenbildungsabläufen sowie Gruppenverhalten und besagt, dass es nur dann zu einem Gruppenverhalten kommt, wenn die Gruppenmitglieder sich mit ihrer Gruppe identifizieren, im Unterschied von der SIT, nach welcher schon die minimale Einteilung in Eigen- und Fremdgruppe ausreicht, um ein Gruppenverhalten hervorzurufen. Die Identifikation mit einer Gruppe schließt in sich die Akzeptanz der Zugehörigkeit zu der Gruppe sowie die Bereitschaft Gruppeneigenschaften auch auf sich zu übertragen und in sein Selbstkonzept zu übernehmen. Die Identifikation mit der Gruppe löst die Prozesse der Selbst-Stereotypisierung und De-Individualisierung der Selbstwahrnehmung aus. Die Wahrnehmung individueller Unterschiede innerhalb der Gruppe lässt nach, die Gruppe grenzt sich von der Fremdgruppe ab, deren Differenzen werden stark verzerrt wahrgenommen.
Die Selbstkategorisierungstheorie unterscheidet sich von SIT auch dadurch, dass in ihr das Selbstkonzept eine größere Rolle spielt. Das Selbstkonzept wird als die Zusammenstellung von verschiedenen kognitiven Repräsentationen des Selbst definiert. Es besteht aus unterschiedlichen Komponenten, die relativ unabhängig voneinander sind. Abhängig von der Situation werden verschiedene Aspekte des Selbstkonzeptes (Selbstkategorisierungen) aktiviert. Welcher Aspekt gerade aktualisiert wird, wird durch die Salienz einer sozialen Kategorie bestimmt. Eine Kategorie wird dann silient, wenn sie für die Person verfügbar ist und für die Situation passt.
Obwohl die Theorie von Turner et al. andere Akzente setzt, ist sie mit der Taifels Theorie fest verbunden, so dass sie meist zusammen als Soziale-Identitäts-Theorie verstanden werden[16].
Kritische Würdigung: Die SIT wurde mehrmals kritisiert. Nach Schiffmann und Wicklund[17] lassen sich die Ergebnisse der Experimente mit dem „Minimalen-Gruppen-Paradigma“ auch anders deuten. Durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe entstehen eine positive Einheitsrelation und Sympathie, was die Begünstigung der eigenen Gruppe zur Folge hat. Gleichzeitig kommt die Diskriminierung der Außengruppe durch eine negative Einheitsrelation und daraus resultierender Ablehnung.
Als Schwäche der Theorie wird auch ihre Einseitigkeit genannt, dass die soziale Identität nur durch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen definiert und sich ausschließlich auf negative Beziehungen zwischen Gruppen, nämlich Wettbewerb und Diskriminierung, konzentriert.
1.2.2 Erik H. Erikson: Stufentheorie der Entwicklung
Als das wohl berühmteste Identitätskonzept gilt in der Identitätsforschung die Stufentheorie der psychosozialen Entwicklung von Erik H. Erikson. Mit seiner 1959 erschienenen Arbeit "Identity and the Life Cycle" (deutsch 1966 "Identität und Lebenszyklus") legte Erik H. Erikson den Grundstein einer großen Diskussion um den Identitätsbegriff.
Um seine Theorie besser zu verstehen, ist ein Einblick in die Lebensgeschichte Eriksons angebracht. Erik H. Erikson sagte über sich selbst: „Wenn eine Identitätskrise im Leben eines Menschen eine zentrale Rolle spielte und sich lange hinzog, dann war es bei mir der Fall“[18].
Erikson wurde 1902 als Sohn dänischer Eltern in Deutschland geboren. Seine Eltern trennten noch vor seiner Geburt und er wuchs mit der Mutter und dem Stiefvater in Karlsruhe auf. Nach seinem Kunststudium in München geht er nach Wien, wo er die Familie von Sigmund Freud kennen lernt und Interesse an Psychoanalyse bekommt. Erikson studiert klinische Psychoanalyse in Wien und ist dann 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft gezwungen, in die USA zu emigrieren. In den USA wird er Professor für Entwicklungspsychologie an den Universitäten Berkeley, Pittsburgh und Harvard.
In Anlehnung an Freuds Phasentheorie der Persönlichkeitsentwicklung entwickelt E. Erikson sein Entwicklungsmodell, dabei setzt er die Akzente nicht auf die psychosexuelle Entwicklung des Kindes wie S. Freud, sondern auf die psychosoziale Entwicklung des Menschen von Säuglingsalter bis zum späten Erwachsenenalter.
Erikson stellt den Entwicklungsweg als eine Leiter dar, auf der das Kind bzw. der Erwachsene von Stufe zur Stufe aufsteigt. Den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung teilt Erikson in acht altersbezogene Stufen ein, auf jeder Stufe hat der Mensch bestimmte Aufgaben zu lösen. Bei der Bewältigung dieser Aufgaben erlebt der Mensch in jeder dieser Phase eine Krise, bei der erfolgreichen Überwindung der Krise erlangt er neue Tugenden. Beim Scheitern werden negative Qualitäten herausgebildet. Für jedes Stadium bietet Erikson ein Eigenschaftspaar an, das die positiven vs. negativen Ergebnisse jeder Stufe darstellt.
Eriksons geht von dem epigenetischen Prinzip der Entwicklung aus, welches besagt, dass das Muster der Entwicklung in jedem von Geburt an genetisch angelegt ist, es folgt einem Grundplan. „Das epigenetische Prinzip lässt sich dahin verallgemeinern, dass alles was wächst einen Grundplan hat, dem die einzelnen Teile folgen, wobei jedes Teil eine Zeit des Übergewichts durchmacht, bis alle Teile zu einem funktionierenden Ganzen herangewachsen sind“[19]. So ist der Entwicklungsplan festgelegt, alle einzelnen Entwicklungsinhalte sind von Geburt an vorhandeln, aber in jeder Entwicklungsphase gewinnt eine spezifische Aufgabe an Gewicht. Wie der Mensch die Aufgaben meistert, ist von ihm abhängig, dabei beeinträchtigt Erfolg bzw. Misserfolg in jeder Phase die nachfolgenden Phasen erheblich. Die gelungene Entwicklung setzt eine erfolgreiche Bewältigung aller Krisen voraus. Besondere Bedeutung wird der Identitätsbildung, die in der Adoleszenz eine phasenspezifische Aufgabe darstellt, beigemessen.
Die einzelnen Stufen ergeben folgende Reihefolge:
1. Stufe: Urvertrauen versus Urmisstrauen (1. Lebensjahr)
Der positive Ausgang der ersten „oralen Phase“ ist die Ausbildung von Urvertrauen. Unter Urvertrauen versteht Erikson „ein Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens … und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst“[20]. Diese Qualität bildet sich, wenn die Grundbedürfnisse des Säuglings in ausreichendem Maße befriedigt werden, wenn er das Gefühl bekommt, dass er sich auf die Anderen - primäre Bezugspersonen, vor allem die Mutter, verlassen kann. Urmisstrauen entsteht, wenn er vorwiegend enttäuschende Erfahrungen auf dieser Ebene macht. Die Herausbildung von Urvertrauen ist ausschlaggebend für das ganze weitere Leben. Wird es erworben, ist der Mensch den Anderen und der Welt gegenüber offen, optimistisch. Fehlt dieses Urvertrauen, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass seine Beziehungen mit den Anderen durch Misstrauen gekennzeichnet werden. Die Grundtugend dieser Phase ist Hoffnung.
2. Stufe: Autonomie versus Scham und Zweifel (2., 3. Lebensjahr)
In der zweiten „analen Phase“ wird durch Beherrschung des Muskelsystems gewinnt das Kind an Autonomie. „Aus einer Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls entsteht ein dauerndes Gefühl von Selbständigkeit und Stolz; aus einer Empfindung muskulären und analen Unvermögens, aus dem Verlust der Selbstkontrolle und dem übermäßigen Eingreifen der Eltern entsteht ein dauerndes Gefühl von Zweifel und Scham“[21]. Die Aufgabe dieser Phase besteht im Erlernen, sich von den Eltern trennen, seine Wille durchzusetzen und positives Gefühl von Autonomie zu erarbeiten.
3. Stufe: Initiative versus Schuldgefühl (4., 5. Lebensjahr)
Die dritte „ödipale“ Phase ist durch die Pole Initiative vs. Schuldgefühl charakterisiert. Durch größere Bewegungsfreiheit, wachsende Sprachvermögen bekommt das Kind die Möglichkeit, die Welt zu erkunden und muss lernen, die Ziele zu setzen und die Initiative zu ergreifen. Zielstrebigkeit wird als Grundtugend angegeben. Mit der Identifikation mit den Eltern werden erste Norm- und Wertvorstellungen herausgebildet. Durch Erleben des ödipalen Konfliktes lernt das Kleinkind auch Schuldgefühle kennen. Der Kampf „ ... um den Vorrang bei Vater oder Mutter, und der unvermeidliche und notwendige Mißerfolg führt zu Gefühlen von Schuld und Angst“[22]. In dieser Phase beginnt auch die Gewissenbildung des Kindes.
4. Stufe: Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)
In der vierten Phase, Latenzperiode genannt, geht es um das Begriffspaar Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl. Mit Werksinn wird das Gefühl verstanden, „auch nützlich zu sein, etwas machen zu können und es sogar gut und vollkommen machen“[23]. Gelingt es dem Kind nicht, etwas gut zu machen, entwickeln sich die Grundlagen für Minderwertigkeitsgefühle. Das Spiel und schulische Leistung haben in diesem Stadium eine enorme Bedeutung. Grundtugend dieser Phase ist Tüchtigkeit, bei der erfolgreichen Bewältigung der Phasenaufgabe erwirbt man positive Einstellung zur Arbeit und Leistungsvermögen.
5. Stufe: Identität versus Identitätsdiffusion (13 bis etwa 20 Jahre)
Die Ausbildung der Ich-Identität ist in der Adoleszenz die phasenspezifische Aufgabe. Hier ist wichtig zu betonen, dass die Identitätsbildung Erikson als eine lebenslange Aufgabe sieht, die in der Adoleszenz in die entscheidende Phase tritt. Der Jugendliche ist in dieser Zeit in erster Reihe damit beschäftigt, seine sozialen Rollen zu finden und sie zu konsolidieren. Er ist auf der Suche nach seiner Identität, seinen Platz im Leben. Seine Identität baut sich auf den Erfahrungen der vorherigen Stufen und, eine stabile Ich-Identität kann jetzt nur erarbeitet werden, wenn die Kindheitskrisen positiv gelöst wurden. „Die sich herauskristallisierende Ich-Identität verknüpft also die früheren Kindheitsphasen, in denen der Körper und die Elternfiguren führend waren, mit den späteren Stadien, in denen eine Vielfalt sozialer Rollen sich darbietet und im wachsenden Maße aufdrängt“[24]. Erikson sagt, dass Ich-Identität sich aus einer gestuften Integration aller Identifikationen entwickelt, aber stellt dabei nicht nur die Summe der Kindheitsindentifikationen dar, sondern eine erfolgreiche Leistung der Ich-Synthese. Erikson versteht „das Gefühl der Ich-Identität … [als] das angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrecht zu erhalten“[25]. Falls man dieses Vertrauen nicht hat, kommt es zur Identitätsdiffusion. Sie ist eng mit Unfähigkeit, sich für einen Beruf zu entscheiden, verbunden.
Solche Jugendliche, die keine stabile Identität erlangen könnten, sind besonders für verschiedene Ideologien anfällig, sie suchen Schutz in Cliquen und orientieren sich stark an Cliquenführern.
6. Stufe: Intimität versus Isolierung (20 bis etwa 45 Jahre)
Die herausarbeitende Identität ist Voraussetzung für Intimität, die in der nächsten Stufe erstrebt wird. Mit Intimität werden hier nicht nur intime Beziehungen gemeint, sondern allgemein die Fähigkeit, tiefe zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Um imstande zu sein, befriedigte tragfähige Beziehungen aufzubauen, benötigt man sicheres Gefühl der eigenen Identität. Die Gegenpole dieses Stadiums ist Isolierung, d.h. die Distanzierung von der Welt, Vermeidung von intimen Beziehungen und eigene Abgrenzung.
7. Stufe: Generativität versus Selbstabsorption (45 bis etwa 65 Jahre)
Die Leistung der nächsten Stufe ist Generativität, worunter Erikson das Interesse an der Gründung und Erziehung einer neuen Generation versteht. „Generativität ist in erster Linie
das Interesse an der Erzeugung und der Erziehung der nächsten Generation, wenn es auch
Menschen gibt, die wegen unglücklicher Umstände oder aufgrund besonderer Gaben diesen
Trieb nicht auf ein Kind, sondern auf eine andere schöpferische Leistung richten, die ihren
Teil an elterlicher Verantwortung absorbieren kann“[26]. Das Fehlen dieser Erfahrungen führt zu Stagnation und dem Gefühl der Verarmung der zwischenmenschlichen Beziehungen.
8. Integrität versus Verzweiflung (65 Jahre bis Tod)
In dem letzten Lebensabschnitt muss der Mensch zurückblickend auf sein Leben zum Gefühl der Ich-Integrität kommen. Integrität bedeutet „die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig sein mussten und durch keine anderen ersetzt werden können“[27]. Wenn es nicht gelingt, mit Zufriedenheit und Akzeptanz sein Leben anzunehmen, kommt es zu der Verzweiflung, der Selbstverachtung, der erhöhten Kritik von anderen Leuten und Institutionen, Todesfurcht, der Erkenntnis, sein Leben falsch gelebt zu haben, und dem Wunsch, noch einmal zu leben.
Die Jugendphase und die Krise der Identitätsbildung stehen im Mittelpunkt der Theorie. In der Jugendzeit findet der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben, der sehr krisenhaft verläuft, statt. Der Jugendliche steht vor der Aufgabe zwischen der Fülle der Möglichkeiten, die das Leben bietet, seine Nische zu finden. Für diese Zeit gewährt die Gesellschaft den Jugendlichen ein psychosoziales Moratorium. „Ein Moratorium ist eine Aufschubperiode, die jemandem zugebilligt wird, der noch nicht bereit ist, eine Verpflichtung zu übernehmen oder die jemandem aufgezwungen wird, der sich selbst Zeit zubilligen sollte“[28]. Der Jugendliche muss die Balance zwischen den Anforderungen der Umwelt und seinen Wünschen und Fähigkeiten finden. Durch Ausprobieren verschiedener Rollen versucht der Jugendliche zu seiner Identität zu gelangen. Am Anfang fühlt sich der junge Mensch von den widersprechenden Anforderungen überfordert, aber „Rollen und Identitätsdiffusion sind normale Krisenerscheinungen in der Adoleszenz“[29]. Vor allem durch die Berufswahl kommt der Jugendliche der Lösung des Problems der Identitätsfindung näher.
Kritische Würdigung
Erikson schuf ein detailliertes und umfassendes Modell der Persönlichkeitsentwicklung. Zwar legt er das Phasenmodell von Freud zugrunde, aber erweitert es auf die gesamte Lebensspanne. Ein großer Verdienst seiner Theorie liegt in der Berücksichtigung der Einflüsse der sozialen Umwelt, jedoch der biologische Aspekt bleibt überbetont.
Der größte Kritikpunkt an der Eriksonstheorie ist, dass er, obwohl seine Theorie nicht empirisch belegt wurde, von der Universalität der ablaufenden Prozesse spricht. Er berücksichtigt nicht die kulturellen Unterschiede und orientiert sich stark an den US-amerikanischen kulturellen Verhältnissen, insbesondere an den mittelschichtspezifischen Normen und Standarts der US-amerikanischen Mittelschicht[30]. Mit seiner Theorie legitimiert er praktisch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und befürwortet das mittelschichtspezifische Lebensmuster. „Die angeführten Grundstärken sind offenbar traditionelle Werte, die Erikson allerdings psychologisch rechtfertigt“, sagt Jürgen Straub[31].
Außerdem ist Eriksons Hauptthese, dass die Entwicklung unbedingt krisenhaft abläuft, umstritten. In vielen Fällen kann die Entwicklung auch ohne Krisen erfolgen.
1.2.2 H. Keupp: Patchwork-Identität
Wenn Erikson Identität als etwas Stabiles, Dauerhaftes sieht, stellen die modernen Identitätstheorien die Möglichkeit einer einheitlichen kontinuierlichen Identität in Frage. Unser Zeitgenose, der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp spricht über Patchwork-Identität. Die Metapher der Patchwork-Identität meint, dass Identität aus verschiedenen Fragmenten - Teilidentitäten besteht, die der Mensch schöpferisch in ein ganzes Produkt ähnlich einem „Fleckerlteppich“ zusammensetzt. „In ihren Identitätsmustern fertigen Menschen aus den Erfahrungsmaterialien ihres Alltags patchworkartige Gebilde und diese sind Resultat der schöpferischen Möglichkeiten der Subjekte“[32]. Identität muss unter gegenwärtigen Bedingungen nicht festgelegt werden, sondern offen und beweglich bleiben, um sich neuen Lebensumständen anzupassen. Keupp betont besonders die Notwendigkeit der „schöpferischen Energie“ für die Vollendung eines Patchworkproduktes. „Hier bedarf es der Idee und der Realisierung einer ganzheitlichen Gestalt, der Abstimmung von Farben und Mustern, der Verwendung von geeigneten Stoffen“[33]. Bildhaft unterscheidet Keupp zwischen dem klassischen Patchworkmuster, das dem klassischen Identitätsbegriff entspricht, und der „Crazy Quilt“-Technik, die ein neues Identitätsverständnis besser zum Ausdruck bringt. In „Crazy Quilt“ findet die ganze Kreativität der Person seinen Ausgang. Deswegen muss der Verlust des klassischen Lebensmusters in der Gegenwart nicht unbedingt negativ eingeschätzt werden, denn er wird durch einen „Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten“[34] nivelliert. Aber ein Kern muss doch herausgebildet werden: Die Teilidentitäten stehen „keineswegs nur nebeneinander. Immer wieder bilden sich wechselnde Zu- und Unter- zw. Überordnungen heraus. Wir sprechen an dieser Stelle von dominierenden Teilidentitäten“[35]. Keupp veranschaulicht seine Identität als Patchworking in einem Schema.
Abbildung 1: Identität als Patchworking
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Keupp 2002, S. 218
Die einzelnen Selbsterfahrungen in verschiedenen Situationen werden auf der Ebene situativer Selbstthematisierungen zusammengefasst und stellen die Basis für die Bildung der Teilidentitäten. Die Teilidentitäten können immer verändert und erweitert werden, in einer bestimmten Zeitperiode erhalten einige Teilidentitäten besonderes Gewicht, die weniger relevanten Teilidentitäten werden temporal in den Hindergrund verschoben, aber nicht ganz aus dem Konzept der eigenen Persönlichkeit entfernt.
Auf der Ebene der Metaidentität kommt es über die Verdichtung biographischer Erfahrungen infolge der Generalisierungen der Persönlichkeitsthematiken und der dominierenden Teilidentitäten zu einem Identitätsgefühl. Das Identitätsgefühl manifestiert sich in den biografischen Kernnarrationen. Diese Selbsterzählungen, wie das Individuum seine Person den anderen präsentiert, sind zentral in der Identitätsarbeit, durch sie kommt das Subjekt zu eigenem Identitätsverständnis. „Ein Subjekt bündelt seine Geschichte(n) nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst. Mit diesen erklärt das Subjekt sich selbst, welche Lesart seiner Identitätsentwicklung die derzeit dominierende ist“[36]. Die Teilidentitäten, das Identitätsgefühl und die biografischen Kernnarrationen beeinflussen dann wieder das Handeln eines Subjekts in konkreten Lebenssituationen. Das Identitätsgefühl ist durch das Authentizitäts- und Kohärenzgefühl gekennzeichnet.
Keupp weist darauf hin, dass ein Gefühl innerer Kohärenz in der Patchworkidentität sehr wichtig ist, sogar „eine entscheidende Bedingung für die psychische und körperliche Gesundheit“[37] darstellt. Für die Herstellung und Aufrechthaltung der inneren Kohärenz benötigt man in unserer Zeit angesichts der sich schnell ändernden und belastenden Außenumstände eine ständige Identitätsarbeit. Wenn in früheren Epochen vorgefertigte Identitätsmuster eine Hilfe für die Lebensbewältigung anboten, „kommt es heute auf die individuelle Passung- und Identitätsarbeit an“[38]. Die Kriterien für eine gelingende Identitätsarbeit sind das innere Gefühl der Authentizität und Sinnhaftigkeit mit der Bedingung der Anerkennung von außen. Unter Anerkennung werden
„die Chancen der Zugehörigkeit zu einer tragenden Gemeinschaft, zu einem sozialen Netzwerk gemeint, das schützt und die Versuche ermutigt, eigene Möglichkeiten zu entdecken und zu realisieren“[39]. Gelingende Identitätsarbeit heißt für sein Leben einen authentischen Sinn zu finden und das Gefühl von Kohärenz zu erwerben. Keupp selbst antwortet auf die Frage nach den Aufgaben der Identitätsarbeit so: „Im Zentrum der Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehen die Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn“[40]. Keupp nennt auch zwei negative Varianten der Lebensbewältigung[41]: den individuellen Verzicht auf die Anpassung der inneren Bedürfnisse und äußeren Umständen und die Übernahme der „ideologischen Prothesen“, z.B. Rassismus, esoterischer, religiöser oder politischer Fundamentalismus.
Welche Ressourcen stehen den Menschen zur Verfügung für ihre Identitätsarbeit? Die Ressourcen reichen von individuell-biographisch zugrunde gelegten Kompetenzen, über die kommunikativ vermittelten Netzwerkressourcen, bis hin zu gesellschaftlich-institutionell vermittelten Ideologien und Strukturvorgaben.
Kritische Würdigung
Keupp kritisiert Eriksons Vorstellung der Möglichkeit einer dauerhaften und stabilen Identität und spricht von einer Patchwork-Identität. Dabei hebt er hervor, dass das Kohärenzgefühl eine Grundbedingung der Patchwork-Identität darstellt. Aber mit dieser Behauptung kehrt er zurück zu dem Idealmodell stabiler und dauerhafter Identität. Werden die Teilidentitäten zusammengesetzt, bekommt das Ganze erneut eine stabile Form. Damit stellt sein Identitätskonzept keinen Widerspruch zu dem klassischen Identitätsverständnis dar.
Interessant für unsere Forschungsfrage ist seine These, dass die Menschen ihre gegenwärtige Identität durch dominierende Teilidentitäten definieren. Welche Teilidentitäten die Jugendlichen besitzen und welchen Einfluss sie auf das Gesamtbild der Identität ausüben, ist zu erforschen. Auch dass Keupp die Anforderungen der gelingenden Identitätsarbeit erörtert und die dazu notwendigen Ressourcen beschreibt, macht seinen Ansatz bedeutsam für die Untersuchung der Identitätsbildung im Jugendalter.
1.2.3 Bikulturelle Identität
Jetzt stellt sich die Frage, wie sich die Personen, die den ethnischen Minderheiten entstammen und den Einflüssen zweier Kulturen ausgesetzt sind, in der modernen komplizierten Welt finden. Gibt es eine bikulturelle Identität und wie oft kommt sie vor? Stellt sie eine Bereicherung oder eine Belastung dar?
Wir sprechen über bikulturelle Identität, wenn eine Person sich zwei Kulturen zugleich zugehörig fühlt. Hettlage-Varias gibt die Definition: „Bikulturell zu sein, bedeutet, sich mit Produkten zweier Kulturen zu identifizieren und mit der Identifikation zwischen beiden Kulturen hin und her zu pendeln“[42]. Hettlage-Varias sieht die Entwicklung der bikulturellen Identität als einen schwierigen Prozess, der mit vielen Konflikten verbunden ist, und teilt ihn in vier Etwicklungsphasen ein[43]:
1. die Phase der interkulturellen Orientierungslosigkeit und des Identitätsverlustes;
2. die Phase des tiefen Gespaltenseins mit Integrationsverweigerung oder Überanpassung in der Aufnahmekultur und Entwertung oder Idealisierung der Herkunftskultur;
3. die Phase des Verlustes und der Trauerarbeit mit der reflektierten Krise der Entfremdung und der neuen Interpretation von Selbst und Umwelt;
4. die Phase der lebensgeschichtlichen Selbstverständlichkeit mit einem bikulturellen Selbstbild und einem Gefühl der bikulturellen Zugehörigkeit, wobei die „Bikulturalität“ des Individuums und der einzelnen Gruppierungen je nach Lebensentwurf und -situation einer ganz spezifischen Mischung entspricht.
Die Entwicklung der bikulturellen Identität benötigt nach Hettlage-Varias eine enorme seelische Kraft, Persönlichkeit, Energie, Interesse und Ausdauer, es ist ein langfristiger schwieriger Prozess und gelingt nicht jedem. Hettlage-Varias betont, „daß bikulturelle Identitäten und Migranten Ausnahme und nicht Regel sind und daß das Leben zwischen zwei Kulturen noch lange keine „Bikulturalität“ ausmacht“[44]. Der Begriff der „kulturellen Zwischenwelten“, der von Andrea Hettlage-Varias und Robert Hettlage eingeführt wurde, meint den Zustand zwischen der beiden Kulturen, der Herkunfts- und Aufnahmekultur. „Zwischenwelt nennen wir jenen psychischen, sozialen und kulturellen Standort, den ein Mensch bezieht, wenn er unter dem Anspruch eines einheitlichen Lebensentwurfs versucht, gegensätzliche Lebenswelten, von denen er abhängig ist, zusammenzufügen“[45]. Dabei unterscheiden sie „kulturelle Zwischenwelt“ und „Bikulturalität“. Wer sich in der Zwischenwelt befindet, ist „weder - noch“, hat die erste Kultur schon verloren, aber die zweite Kultur noch nicht erworben. Wer bikulturell ist, ist „sowohl - als – auch“, ist mit beiden Kulturen fest verknüpft und fühlt sich in beiden Kulturen angenommen. Nicht viele Migranten bringen die nötigen Voraussetzungen mit und finden die Bedingungen vor, um den Weg zur Bikulturalität einzuschlagen und bis ans Ende zu gehen. Denn Bikulturalität ist nach Hettlage-Varias immer mit einem latenten Konflikt zwischen den beiden Bezugspunkten verbunden. „Ist man gerade mehrheitlich auf die Aufnahmekultur konzentriert, hat man gegenüber der Herkunftskultur ein schlechtes Gewissen. […] Man fühlt sich zwischen hier und dort hin-und-her-gerissen“[46]. Nach dem bildhaften Ausdruck von Hettlage-Varias gehört es zur Bikulturalität, „daß man kein Daheim, sondern nur ein Zuhause hat“[47].
Ein bikultureller Mensch findet beide Kulturen ebenso wertvoll, ist mit beiden kulturellen Mustern fest vertraut, kennt die Gefühle und Lebensweisen jeder sozialen Gruppe und fühlt sich in beiden wohl. Er ist in der Lage, Freundschaften und Verbindungen mit den beiden Kulturen aufrechtzuerhalten, fühlt sich den beiden angehörig und empfindet es als eine Bereicherung. Für die Entwicklung einer Bikultiralität ist vor allem der sichere Umgang mit den Sprachen der beiden Gesellschaften wichtig, auch der Kontakt zu den Einheimischen und Aufgeschlossenheit gegenüber neuer Lebensgestaltung. Gerade das Herstellen des Kontakts zu den Mitgliedern der Majoritätsgesellschaft und eine gemeinsame Kommunikation erweist sich als sehr problematisch. Die Segmentation der Migranten ist nicht selten auf die mangelnde Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft zur Kooperation zurückzuführen. Den Migranten wird von der Aufnahmegesellschaft die Außenseiterrolle zugewiesen, der Weg zu gesellschaftlichem Aufstieg wird versperrt und der Grund dafür wird auf die kulturellen Unterschiede geschoben.
Trotzdem stellen die Personen mit bikultureller Identität in Deutschland keine Ausnahme mehr dar. Ülger Polat[48] befragte 1995 im Rahmen einer empirischen Studie die türkischstämmigen Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 30 nach ihren momentanen Gefühlen der sozialen Zugehörigkeit. Von 306 befragten Personen fühlten sich 56 % eher türkisch, 30% sowohl türkisch als auch deutsch und nur 1% deutsch. Demgemäß erklärten 30 % der türkischen Jugendlichen die bikulturelle Identität zu besitzen. Eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Bikulturalität hat laut dieser Studie die Häufigkeit der Kontakte zu deutschstämmigen Personen und das Gefühl der Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft. Zweiter Einflussfaktor ist das Bildungsniveau, die Personen mit bikultureller Identität erwiesen tendenziell einen höheren Bildungs- und Berufsstatus als Befragte mit türkischer Identität[49]. Vergleichbare Ergebnisse erzielte auch die Befragung von Schutz und Sackmann 2001[50]: 45% der Befragten definieren sich als Türken, 30% als „Deutsch-Türken“ und nur zwei von 122 Personen bezeichneten sich als Deutsche.
Die Frage, ob Bikulturalität ein Gewinn oder eine Belastung darstellt, ist schwer zu beantworten. Ekaterini Dorfmüller-Karpusa sagt, es sei beides. „Die Privilegien sind hauptsächlich kognitiver Natur, die Belastungen dagegen emotionaler“[51]. Einerseits bereichert Bikulturalität durch die Teilnahme an den zwei kulturellen Gütern, anderseits erfordert die Erstellung dieser Synthese eine große Arbeit. Die deutsche Gesellschaft macht es den Migranten auch nicht leicht, der Kampf gegen Vorurteile und Ausgrenzungen stellt noch eine zusätzliche Belastung auf dem Weg zur Bikulturalität dar.
2. Sozialisation türkischer Migranten
Die Identitätsentwicklung vollzieht sich im Rahmen der Sozialisation. Bei den Migrantenkindern, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, handelt es sich um eine bikulturelle Sozialisation, d. h. sie stehen unter den Einflüssen zweier verschiedener kultureller Makrosysteme. Die Sozialisation innerhalb zweier verschiedener Kulturen ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, was auch seinen Ausdruck in der problematischen Identitätsbildung findet.
Sozialisation ist „ein Prozess, in dem der Mensch in die umgebene Gesellschaft und Kultur hineinwächst und zugleich zu einem eigenverantwortlich und eigensinnig handlungsfähigen Individuum wird“[52]. Sozialisation wird heutzutage nicht als eine begrenzte Entwicklungsperiode verstanden, sondern als ein Prozess, der lebenslang andauert. Man unterscheidet zwischen primärer Sozialisation, die die Entwicklung basaler Sprach- und Handlungsfähigkeiten einschließt, und sekundärer Sozialisation, die alle Vorgänge erfasst, in denen spezifische Kompetenzen erworben werden. Zu den wichtigsten Sozialisationsinstanzen zählen Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe, Beruf, Medien, die immer eine große Wirkung auf die Persönlichkeitsbildung ausüben. In der Kindheit spielt die Familie die Hauptrolle im Sozialisationsprozess. Durch die Familie werden die türkischen Migrantenkinder primär in die Kultur des Herkunftslandes der Eltern sozialisiert. In dem Kindergarten, in der Schule erlernen und internalisieren sie dann die Kultur der deutschen Gesellschaft. Die Kinder und Jugendlichen werden dabei mit zwei verschiedenen, oft widersprüchlichen Wertvorstellungen, Verhaltenserwartungen und Lebensgewohnheiten konfrontiert, was zu einem inneren Konflikt führen kann. Oliver Hämmig sagt dazu: „Diese ambivalente Erziehung zwischen den sozialen Institutionen und Sozialisationsinstanzen Schule (als Repräsentantin der Aufnahmekultur) und der Familie (als Vertreterin der Heimatkultur) kann für die zweite Generation eine regelrechte innere Zerrei ßprobe darstellen. Denn es besteht ein potenziell spannungs- und konfliktreicher Widerspruch zwischen primärer bzw. familiärer Sozialisation und sekundärer bzw. schulischer Sozialisation“[53].
Der Spagat zwischen zwei Kulturen ist das Leben türkischer Jugendlicher. Welche Anteile welcher Kultur in den Vordergrund treten, hängt von vielen Faktoren ab. Ümit Öztoplak[54] nennt hier folgende Bedingungen als gewichtig: der Gebrauch der deutschen Sprache in der Familie, das Integrations- und Bildungsniveau der Eltern, der Besuch des Kindergartens, die ethnische Dichte in der Nachbarschaft und der Ausländeranteil in der Schulklasse. Je größer die ethnische Dichte in der Nachbarschaft und der Ausländeranteil in der Schulklasse sind, desto mehr sind die Kinder auf die Heimatkultur orientiert.
2.1 Die Akkulturation
Man kann im Laufe der Sozialisation der türkischen Kinder von dem Prozess der Akkulturation sprechen, die die türkischen Migrantenkinder nach dem Beenden ihrer primären familiären Sozialisation in der Schule durchlaufen.
„Akkulturation ist der Prozess der Übernahme von Elementen einer bis dahin fremden Kultur durch Einzelpersonen, Gruppen oder ganze Gesellschaften. Diese Übernahme betrifft Wissen und Werte, Normen und Institutionen, Fertigkeiten, Techniken und Gewohnheiten, Identifikationen und Überzeugungen, Handlungsbereitschaften und tatsächliches Verhalten, insbes. aber auch die Sprache“[55]. Nach Ümit Oztoplak besteht die Akkulturationsleistung der Migrantenkinder der zweiten Generation in einem Hineinwachsen in zwei Kulturen[56].
Nach welchen Regeln dieser Prozess erfolgt, versuchen die Akkulturationsmodelle zu erklären.
2.1.1 Das Akkulturationsmodell von Berry
Eines der einflussreichsten Modelle der Akkulturation stellt das Modell von John W.Berry und Kollegen[57] dar, das auf 20 Jahren Forschung beruht. Das zweidimensionale Modell gilt für die multikulturellen Gesellschaften und baut darauf, dass die Migranten die Möglichkeit haben zu entscheiden, wie sie sich akkulturieren wollen. Abhängig von den Einstellungen der Migranten zu den Fragen der Notwendigkeit der Bewahrung der kulturellen Identität und kultureller Merkmale der eigenen Gruppe und dem Bedarf der Aufnahme von Beziehungen zu den anderen Gruppen, unterscheidet Berry vier Akkulturationsstrategien:
Abbildung 2: Das Akkulturationsmodell nach Berry
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Berry 1992, S. 82
1. Integration bedeutet die gleichzeitige Bindung an die Kultur der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft, also die Identifikation mit beiden kulturellen Gruppen. Diese Variante ist die adaptivste Akkulturationstrategie, die zu bestem psychologischen Wohlbefinden führt.
2. Assimilation ist die Anpassung an die Aufnahmegesellschaft, man gibt nach und nach die eigene Kultur zugunsten der Mehrheitskultur auf. Diese Strategie, die früher als das Ziel der Akkulturation galt, wird bei Berry nicht als einzig mögliche und wünschenswerte Variante gesehen.
3. Separation; es wird die Beibehaltung der eigenen kulturellen Identität und kein Kontakt zur neuen Kultur angestrebt. Diese Strategie ist unter der ersten Generation verbreitet. Solche Faktoren wie niedriges Bildungsniveau und geringes Einkommen begünstigen die Separation der Migranten.
4. Marginalisierung; man versteht darunter, dass man entweder auf die Aufrechterhaltung der Herkunftskultur oder die Annahme einer neuen Kultur großen Wert legt. Das ist eine ungünstige Strategie, die oft mit Orientierungslosigkeit und Identitätsproblemen verbunden ist.
Auf die Auswahl der Akkulturationsstrategie haben einen Einfluss die Persönlichkeit des Individuums, Merkmale der Aufnahmegesellschaft und Herkunftskultur. Wenn zum Beispiel die Person bereits in der Heimat mangelnde Integration aufwies, was oft einen Anstoß zur Auswanderung gibt, gibt es eine große Wahrscheinlichkeit, dass sie auch in dem neuen Kreis marginalisiert wird. Die Wahl der Akkulturationsstrategie ist auch von der Mehrheitgesellschaft abhängig. In einer monokulturellen Gesellschaft wird die Anpassung der Migranten an die Mehrheitskultur verlangt und sie werden zur Integration aufgefordert[58].
Es handelt sich bei den beschriebenen Akkulturationsformen um theoretische Konstrukte, die in der Praxis nicht in reiner Form, sondern eher in Mischformen auftreten. Das Individuum kann in Bezug auf verschiedene Lebensbereiche und Perioden verschiedene Strategien wählen[59]. Z. B. kann die Person im Familiären- und Freundeskreis eher separatistische Tendenzen aufweisen, im beruflichen Kontext zur Assimilation streben und in Bezug auf die Sprache Integration (Bilingualismus) wählen.
Man muss auch bemerken, dass die Wahl der Akkulturationsform auch durch die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen beschränkt wird. Für die erfolgreiche Integration ist die Aufgeschlossenheit der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Migranten wichtig. Die Migranten können die Kontakte zu den Einheimischen nur im Falle des gegenseitigen Interesses aufnehmen. Die Separation ist möglich, wenn es genügend Angehörige der Minderheitskultur gibt, die sich an diese Strategie halten.
2.1.2 Das Interaktive Akkulturationsmodell von Bourhis et al.
Auf die Interaktion zwischen aufnehmender Gesellschaft und Migranten setzt das Akkulturationsmodell von Bourhis et al. vom Jahre 1997[60]. Dieses Modell versucht die Akkulturationsprozesse anhand von Berrys Modell dynamisch darzustellen, indem es Präferenzen der Einheimischen gegenüber den Akkulturazionstrategien der Migranten mit den Präferenzen der Migranten vereinbart. Bei der Strategie Marginalisierung führen die Autoren die Unterscheidung zwischen Anomie und Individualismus ein, der in verschiedenen Motiven der Ablehnung beider Kulturen liegt. Bei Anomie können die Personen sich mit keiner der Kulturen identifizieren. Bei Individualismus wollen die Personen aus den Kulturen heraustreten und sich als ein Individuum und nicht als Mitglied einer Migrantengruppe oder Mehrheitskultur verstehen.
Abbildung 3: Das Interaktive Akkulturationsmodell (IAM)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Bourhis et al. 1997, S. 96
Durch dieses Modell kann das Ergebnis der Interaktion der beiden Gruppen vorhergesagt werden. Die positive Prognose gibt es nur in drei Fällen, wenn beide Gruppen auf Integration, Assimilation oder Individualisierung orientiert sind. Andere Konstellationen beinhalten einen Konflikt und sind problematisch, da die Erwartungen beider Seiten unterschiedlich sind und keine Kommunikation stattfindet.
Der große Verdienst des Modells liegt daran, dass es die gesellschaftlichen Bedingungen einbezieht und die Akkulturation als einen wechselseitigen Prozess zwischen der Gesellschaft und Migranten versteht. Denn die Merkmale der aufnehmenden Gesellschaft spielen bei der Eingliederung der neuen Bürger eine nicht weniger bedeutende Rolle als die Bemühungen der Betroffenen. Der Erfolg der Eingliederung der Migranten in die neue Gesellschaft ist von den Integrationsmöglichkeiten abhängig, die den Migranten in jeder Gesellschaft zur Verfügung stehen.
2.2 Sozialisationsmodell von Schräder u.a.
Der erste Versuch, die Sozialisations- und Akkulturationsprozesse von Migratenkindern theoretisch zu erklären, stammt von Schrader, A., Nikles, B. und Griese, H. M. aus dem Jahre 1976[61]. Die Autoren lenken ihre Aufmerksamkeit auf die Identitätsentwicklung unter Bedingungen der bikulturellen Sozialisation, was den Ansatz von Schräder u.a. für unsere Fragestellung relevant macht. Nach dem Modell entwickeln die Einwandererkinder abhängig vom Einreisealter drei Identitätstypen[62]:
1. Das Schulkind: Die zwischen dem 6. und 14. Lebensjahr eingereisten Kinder identifizieren sich mit dem Heimatland, bilden eine monokulturelle Basispersönlichkeit und eine Identität als „Ausländer“ aus. Sie übernehmen einige Elemente der neuen Kultur, erlernen nötige Verhaltensweisen, lassen sich aber nicht assimilieren, behalten die soziale Identität ihrer Herkunftskultur.
2. Das Vorschulkind: Die zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr eingereisten Kinder entwickeln eine diffuse Basispersönlichkeit und eine bikulturelle Identität, ihre Identifikation ist ambivalent. Sie werden zu „Anpassungskünstlern“, die zwischen verschiedenen Verhaltensweisen und Sprachen je nach Umgebung wechseln können.
3. Das Kleinstkind: Die in Deutschland geborenen oder als Säuglinge eingereisten Kinder werden sich größtenteils mit der Fremdkultur identifizieren, eine mischkulturelle Persönlichkeit und Identität als „Neu-Deutsche“ entwickeln. Sie wachsen mischkulturell auf und assimilieren sich leicht in die Aufnahmekultur.
Der Ansatz von Schrader u. a verbindet die Sozialisation, Akkulturation und Identitätsentwicklung in einem Modell und wendet es auf die zweite Generation der Migranten an, was als Pionierversuch in diesem Bereich beachtenswert ist. Aber das Modell geht vom Einreisealter als Einzelkriterium für Erfolg der Akkulturationsprozesse aus und übersieht die anderen relevanten Faktoren wie die Merkmale der Aufnahmegesellschaft, die sozioökonomische Lage der Familie, die Orientierungen der Eltern und familiäre Erziehung, sowie die Erfahrungen der Diskriminierung und Ausgrenzung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Zusammenfassend kann man sagen, dass das dargestellte Modell zu allgemein konzipiert ist und heute kaum standhalten kann.
2.3 Sozialisationsbedingungen türkischer Jugendlicher der zweiten Generation
Um die Identitätsentwicklung türkischer Jugendlicher der zweiten Generation besser nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll, konkrete Lebensbedingungen der Zielgruppe genauer anzuschauen. In diesem Kapitel werden die Hauptsozialisationsinstanzen und ihr Einfluss auf die Identitätsbildung betrachtet, nämlich Familie, Schule, Peer-groups, Ausbildung und Beruf.
2.3.1 Familie
Die Hauptrolle der Familie im Prozess der Sozialisation eines Kindes ist unbestritten. Die türkischen Familien sowie die Erziehungsvorstellungen der türkischen Eltern in Deutschland sind sehr unterschiedlich, deswegen lassen sich Generalisationen zu Erziehungsorientierungen in den türkischen Familien schwer treffen. Solche Faktoren wie Aufenthaltsdauer, Einkommen, Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten, Bildungsgrad, Grad der religiösen Wertorientierung, ethnische Zugehörigkeit, Kontakte nach außen, Wohnsituation usw. zeigen eine große Wirkung auf die Erziehungsziele und –praktiken in den türkischen Familien in Deutschland[63].
Ungeachtet der einzelnen durch Migration verursachten Wandlungen in Verhaltensweisen und Einstellungen bleibt für den Großteil der in Deutschland wohnenden türkischen Familien die traditionelle Orientierung charakteristisch. In einer eher traditionell orientierten türkischen Familie, die in Deutschland lebt, wird versucht, das Kind nach traditionellen türkischen Normen und Werten zu erziehen. Eine der grundlegenden Normen in der traditionellen türkischen Gesellschaft ist die scharfe Unterscheidung zwischen den Geschlechtern und die Trennung der Lebenswelten der Geschlechter[64]. Deswegen wird die Erziehung vom Kleinkindalter auf das Erlernen sozialer Rollen gerichtet und ist geschlechtsspezifisch. Die Söhne werden auf ihre Rolle als Familienernährer vorbereitet, für sie wird eine erfolgreiche Karriere angestrebt. Die Mädchen werden auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter erzogen und auf die Ausübung häuslicher Tätigkeiten vorbereitet. Den Jungen wird mehr Freiheit, Aggressivität erlaubt, im Gegensatz dazu bekommen die Mädchen nicht so viel Freiheit, was man daran erkennen kann, dass von ihnen mehr Gehorsam und Ergebenheit verlangt wird.
Eine der wichtigsten regulierenden Normen der türkischen Kultur ist das Konzept der Ehre („namus“). Ein Teil dieses Konzeptes ist die Reinheit der Frauen im sexuellen Sinne. „Die Ehre im Sinne von „namus“ impliziert, daß die Männer die Sexualität ihrer Frauen kontrollieren („ihre“ Frauen sind: Ehefrauen, Töchter, Schwester und andere weibliche Verwandte) und dass Männer Ehre besitzen, wenn diese Kontrolle sozial anerkannt und gerechtfertigt wird“[65]. Da von dem Verhalten der Tochter die Ehre der ganzen Familie abhängig ist, wird das Mädchen in der traditionell orientierten Familie streng kontrolliert und in ihrer Freiheit beschränkt. Dabei setzen die türkischen Eltern ihre Tochter in Deutschland einer noch strengeren Kontrolle aus, um sie vor den gefährlichen Einflüssen der deutschen, von den Eltern als unmoralisch empfundenen Umwelt zu schützen.
Kennzeichnend für die traditionell orientierte türkische Familie ist auch die ausprägte Hierarchie nach Alter und Geschlecht. Die Rangfolge in der Familie geht vom Vater über die Mutter zu den Kindern, wobei ein erwachsener Sohn den Platz der Mutter einnehmen kann[66]. Respekt und Gehorsamkeit gegenüber den Älteren werden stark befördert, dabei muss der Jüngere nicht nur gegenüber Eltern und Großeltern den Respekt erweisen, sondern auch gegenüber älteren Brüdern und Schwestern. Die älteren Geschwister werden nicht mit den Vornahmen angesprochen, sondern nur höflich „agabey“ (älterer Bruder) oder „abla“ (ältere Schwester) genannt. Die türkische Familie ist durch ein hohes Maß an Zusammenhang gekennzeichnet und die Kinder werden zum Gehorsam, der Loyalität gegenüber der Familie, der Rücksichtnahme gegenüber anderen und Ehrfurcht gegenüber Älteren erzogen. Solche Eigenschaften wie Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein werden nicht speziell gefördert, sind sogar oft nicht sehr erwünscht als Gegensatz zu der an der ersten Stelle rangierenden Gehorsamkeit. Dass die Loyalität gegenüber der Familie vor den eigenen Interessen steht, ist eine Norm in der traditionellen türkischen Familie.
Auf die Verbundenheit zu den traditionellen Wertvorstellungen hat die Schul- und Berufsbildung der Eltern einen Einfluss. Je niedriger die Schul- und Berufsbildung ist, desto stärker ist die Tendenz zur starren traditionellen Orientierung. Die Ergebnisse der Untersuchung von Yasar Uysal[67] zeigen, dass traditionelle Erziehungsziele bei den Eltern der Hauptschüler stärker ausgeprägt sind als bei den Eltern der Gymnasiasten. Dieses Resultat ist mit dem Bildungsstand der Eltern in Verbindung zu setzen, der einen Einfluss auf den Schulerfolg der Kinder hat.
2.3.2 Schule
In der Schule werden die türkischen Kinder und Jugendlichen mit den Werten und Normen der deutschen Kultur konfrontiert. Die in der deutschen Schule vermittelten Normen und Werte und die erforderlichen Verhaltensweisen sind zum Teil ein Gegensatz zu den häuslichen. Als Höchsterziehungsziele in Deutschland gelten die Erziehung zur Mündigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Die deutsche Schule fördert ein selbstständiges Handeln, Individualismus und Eigenverantwortung.
Die Kinder müssen sich zwischen diesen unterschiedlichen Anforderungen alleine zurechtfinden. Die Schule bietet keine bikulturelle Erziehung an und die Eltern können ihren Kindern keine Hilfe leisten, denn sie sind nur mit einer Kultur fest vertraut und es ist ihnen vor allem wichtig, dass sich die Kinder die heimatlichen kulturellen Normen aneignen. Den Eltern ist oft nicht bekannt, unter welchem Druck ihre Kinder stehen. Eine Auseinandersetzung mit der Situation ihrer Kinder findet erst dann statt, wenn es zu Konflikten kommt.
Dazu kommen noch die Schwierigkeiten mit der Bewältigung der inhaltlichen Stoffe in der Schule. Die türkischen Schüler schneiden im Vergleich zu den deutschen Schülern viel schlechter ab. Türkische Kinder und Jugendliche sind unterrepräsentiert an Gymnasien und an den Hauptschulen überrepräsentiert. Die Gründe der schlechten schulischen Abschlüsse türkischer Jugendlicher sind sprachliche Probleme, eine schlechte soziale Lage der Familie, das fehlende Wissen der Eltern über den Aufbau des deutschen Schulsystems und mangelhafte Hilfe von ihrer Seite. Die Eltern sind z. B. wenig bereit, für den Nachhilfeunterricht zu zahlen. Auch die oft vorhandenen Rückkehrabsichten der Eltern motivieren die Kinder nicht, sich in der Schule anzustrengen.
Die türkischen Eltern setzen trotzdem sehr hohe Ansprüche an die schulische Leistung ihrer Kinder, was auch die Schell-Studie 2000 bestätigt[68]. Obwohl die türkischen Eltern aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse ihren Kindern bei schulischen Aufgaben nicht behilflich sein und nicht immer den Kinder die ausreichende Lernbedingungen (ein eigener Lernplatz, eine Lernatmosphäre) bereitstellen können sowie kaum Kontakt zu der Schule aufnehmen, sind die Bildungserwartungen an die Kinder in türkischen Familien gleich denen in deutschen Familien. Entgegen verbreiteter Meinungen, dass die Bildung der Töchter in türkischen Familien als weniger wichtig betrachtet wird, streben die Eltern auch für ihre Töchter eine gute Bildung an und unterstützen sie in ihren Ausbildungswünschen[69].
Riesner[70] stellt folgende Gründe für die hohen Bildungserwartungen der Eltern heraus:
- Die Eltern versuchen ihr eigenes geringes berufliches und gesellschaftliches Ansehen über einen sozialen Aufstieg der Kinder zu kompensieren.
- Die Migration hat vermeintlich die Möglichkeit geschaffen, über eine verbesserte Schulbildung die Zukunft der Familie in der Heimat zu sichern.
- Die Uninformiertheit über das deutsche Schulsystem führt zu daraus resultierenden unrealistischen Vorstellungen.
Die Jugendlichen übernehmen die hohen Bildungsaspirationen ihrer Eltern, was zu unrealistischen Einschätzungen ihrer konkreten Möglichkeiten führt. Bei dem Einstieg ins Berufsleben werden sie mit der Realität konfrontiert, dass sie nicht so gute Ausbildungs- und Beschäftigungschancen haben.
2.3.3 Peer-Groups
Die nächste wichtige Sozialisationsinstanz, deren Bedeutung besonders im Jugendalter steigt, stellen die Gleichaltrigengruppen dar. Klawe definiert die Peer-groups als „eine freiwillige, eigenständige und meist gemischt geschlechtliche Kleingruppe im Freizeitbereich, die sich durch ähnliche Ziele, Wertvorstellungen, Interessen, Geheimnisse, Stilrichtungen, Bindungen der Zuneigung und Bewunderung zusammenfindet und in der Jugendliche wesentliche Teile ihrer Freizeit gestalten“[71].
Die Beziehungen mit Gleichaltrigen sind von hervorragender Bedeutung im Jugendalter. Die Gleichaltrigengruppe „erfüllt das Bedürfnis nach Status, bildet ein bedeutsames und umfassendes Bezugssystem, wirkt identitätsstabilisierend und bietet Handlungsorientierung, Schutz und emotionale Unterstützung“[72]. Wie auch von Kolip erwähnt wurde, ohne sie kann es zu schwerwiegenden emotionalen, physischen und psychischen Störungen kommen[73].
Die Studien zum Freizeitverhalten türkischer Jugendlicher zeigen, dass sie meistens unter sich bleiben. Heckmann et al.[74] stellen fest, „dass sich fast zwei Drittel aller Freundschaften (63,2%) auf türkische Landsleute beziehen“. Es wurden auch geschlechtsspezifische Unterschiede im Freizeitverhalten festgestellt.
Die türkischen Mädchen verbringen ihre Freizeit meistens im Kreis türkischer Freundinnen in häuslicher Umgebung. Neuere Untersuchungen[75] haben festgestellt, dass türkische Mädchen nicht selten ihren Spielraum in der Freizeit selbst einschränken und Begrenzungen der Eltern nicht unbedingt zu familiären Konflikten führen. Gründe für dieses Verhalten liegen im Wissen um die Ängste der Eltern und im Verstehen ihrer Besorgnisse sowie in dem Wunsch die Harmonie in der Familie nicht zu gefährden.
Die türkischen Jungs bekommen mehr Freiraum, gehen einem vergleichsweise größeren Spektrum der Freizeitaktivitäten nach und haben mehr interethnische Kontakte. Bei den Kontakten überwiegen aber die eigenethnischen Beziehungen, häufig sind Freundschaften mit anderen Zuwanderernationalitäten, an der letzten Stelle stehen Kontakte mit deutschen Gleichaltrigen. In den Gruppen von Gleichaltrigen türkischer Herkunft oder anderer Ausländer finden sie eher Anerkennung, Verständnis ihrer Probleme und emotionalen Rückhalt. Die gemeinsam erfahrenen Diskriminierungen und Ausgrenzungen zwingen sie, sich zusammenzuschließen und nach Lösungen zu suchen. Sie entwickeln dabei eine eigene Jugendsubkultur, die ihnen die Möglichkeit des Rückzugs bietet. Sie treffen sich in Gruppen von Gleichaltrigen mit den gleichen Problemen und sozialen Chancen, hier fühlen sie sich sicher und verstanden, bekommen Unterstützung und Anerkennung. Die ethnischen Peer-groups bieten eine wichtige Stütze in der Bewältigung alltäglicher Probleme für die türkischen Jugendlichen.
2.3.4 Ausbildung
Die im Vergleich zu Deutschen schlechteren Schulabschlüsse türkischer Jugendlicher und ihr Ausländerstatus haben negative Auswirkungen auf ihre Ausbildungs- und Beschäftigungschancen. Dies wird von deutscher und türkischer Seite unterschiedlich betrachtet. Dass die türkischen Jugendlichen nicht so erfolgreich wie deutsche Jugendliche sind, wird von deutscher Seite auf mangelnde Qualifikationen zurückgeführt, im Gegenzug dazu denken viele Türken, dass sie wegen ihrer Herkunft benachteiligt werden. Die Bereitschaft der ausländischen Schüler/Jugendlichen, die auf sie zukommenden Probleme emotional zu erklären, ist groß und nicht immer rechtmäßig, aber sie entsteht nicht völlig ohne Anstöße.
Es wird durch Studien bestätigt, dass die Migrantenjugendlichen auch mit qualifizierten Schulabschlüssen schlechtere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt haben als deutsche Jugendliche. Die türkischen Bewerber bekommen oft einen Ausbildungsplatz erst dann, wenn kein deutscher Bewerber mit vergleichbaren Qualifikationen mitkonkurriert. Eine Untersuchung des SINUS-Instituts[76] zeigte, dass in vielen Betrieben Vorbehalte gegenüber Bewerbern mit Migrationshintergrund zu verzeichnen sind. Man befürchte, dass einerseits das innerbetriebliche Klima durch die Zusammenarbeit mit Migranten beeinträchtigt werden und andererseits die Anwesenheit von Migranten negative Wirkung auf Kunden ausüben könnte. Es ist ein Verlust, dass das große Potenzial Jugendlicher mit Migrationshintergrund, z.B. sprachliche Kompetenzen, interkulturelle Erfahrungen von den Betrieben nicht erkannt und genutzt wird.
Ein guter Hintergrund ist eine wichtige Voraussetzung für einen guten Beruf auf dem Markt, deswegen sollten Jugendliche schon als Kind von ihrer Familie zielgerichtet unterstützt werden, damit der Faktor „Migrationhintergrund“ nicht ein Nachteil sondern ein Vorteil sein kann.
3. Identität und Migration in Zeiten der Globalisierung
Es ist eine Tatsache, dass wir heute in einer globalen Welt leben, in der sich alles schneller als früher bewegt und alles stärker miteinander verbunden ist. Der Begriff Globalisierung bedeutet nicht nur Flexibilität von Waren und Kapital, sondern beinhaltet auch Flexibilität von Menschen. Die Frage, welche Auswirkungen die Globalisierung auf die Identität einzelner Personen oder Minderheitengruppen hat, lässt sich nicht einfach beantworten. Erstens wirkt die Globalisierung als ein starker Umwandlungsprozess auf die Finanzmärkte, staatliche Institutionen, Familien, Kommunikationswelten usw. Zweitens ist es schwer ausführlich zu beurteilen, welche Auswirkungen die Globalisierung auf die Identität der Menschen hat, weil der Begriff Globalisierung dafür neu ist. Um Unterschiede zwischen den Generationen festzustellen, benötigt man einen langen Zeitraum.
In einer globalen Welt sind Menschen von anderen Kulturen stark beeinflusst. Die Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen werden immer fließender. Also könnte man von den „Weltbürgern“ sprechen. Ein wichtiger Punkt, den man nicht außer Acht lassen darf, ist, dass der Begriff „Weltbürger“ je nach den persönlichen Einstellungen, der Religiosität, Ausbildung und Kultur ganz unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Das heißt, dass der Globalisierungsprozess gleichzeitig positive und negative Effekte auf die Identität einzelner Personen und Gruppen haben kann. Wenn eine Person oder eine Gruppe diesen Prozess als Chance betrachtet, um sich zu entwickeln und seinen Horizont zu erweitern, dann schafft dieser Prozess eine offene und friedlich miteinander lebende Gesellschaft, wenn aber eine Person oder eine Gruppe diesen Prozess als eine Bedrohung sieht, werden sie sich von der Gesellschaft ausschließen um ihre eigene Identität zu bewahren, was zur Gettoisierung führen kann.
Die Art und Weise der Migration ändert sich stark durch die Globalisierung. Nach Stephen Castles kennzeichnen vier Trends die heutige weltweite Migration, nämlich Beschleunigung, Globalisierung, Differenzierung und Regionalisierung[77]. Er meint, dass immer mehr Menschen in einem anderen Land leben, immer mehr Länder Ziel der Bevölkerungsbewegung werden, immer mehr verschiedene Migrationtypen auftauchen werden und durch wirtschaftliche Vereinigungen regionaler Orte eine Zirkulation von Menschen entsteht.
3.1 Nationale Identität und Migration
Einen wichtigen Bestandteil der Identität eines Menschen stellt seine nationale Identität dar. Der Mensch erfährt sich selbst in einem bestimmten politischen Territorium und einem ziemlich homogenen Kulturraum. Die Eigenschaften dieses Kulturraums sind u. a. Sprache, Abstammung, Religion, die bei der Entwicklung der Identität einer Person eine sehr große Rolle spielen.
Es ist selbstverständlich, dass Zugehörigkeit zu einer Nation und Migration in einer engen Verbindung stehen. Der Mensch besitzt eine nationale Identität und es ist heute undenkbar, dass er über keine verfügt. Bei der Migration wird durch einen Ortswechsel die räumliche Verbindung unterbrochen, obwohl die emotionale Verbindung weiter existieren kann. Edward Said erklärt diese Verbindung durch „imaginäre Geographien“ der Identitäten und sagt, Identitäten besitzen „ihre charakteristische ‚Landschaft’, ihr Gefühl für einen Ort, ein Zuhause, eine Heimat, und ebenso gut für ihre Verortung in der Zeit – in erfundenen Traditionen, die Vergangenheit und Gegenwart verbinden, in Ursprungsmythen, die die Gegenwart in die Vergangenheit zurückprojizieren und in Erzählungen der Nation, die das Individuum mit größeren, bedeutenderen nationalen historischen Ereignissen verbinden“[78].
[...]
[1] Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2008, S. 47
[2] Aus den Gründen der besseren Lesbarkeit schließt der Begriff „Migranten“ sowohl Männer als auch Frauen ein
[3] Bell 1979, S.114
[4] Frey & Haußer 1987, S. 10
[5] Erikson 1966, 18
[6] Auernheimer 1988, S. 82
[7] Frey/Häußer 1987, 3
[8] Frey/Häußer 1987, 11
[9] Frey/Häußer 1987, 11
[10] Mummendey 1984, S. 6
[11] Mummendey 1984, S. 13
[12] Tajfel 1982, S. 102
[13] Tajfel 1982, S. 103
[14] Mummendey 1984, S. 14
[15] Turner et al. 1987
[16] Fuhrer/Trautner 2005, S. 372
[17] Herkner 1991, S. 491
[18] Coles 1974, S. 201
[19] Erikson 1966, S. 57
[20] Erikson 1966, S. 62
[21] Erikson 1966, S. 78
[22] Erikson 1966, S.93
[23] Erikson 1966, S. 101
[24] Erikson 1966, S. 109
[25] Erikson 1966, S. 107
[26] Erikson 1966, S. 117
[27] Erikson 1966, S. 118
[28] Erikson 1970, S. 161
[29] Griese 2007, S. 70
[30] Griese 2007, S. 73
[31] Straub 2000, S. 285
[32] Keupp 2004, S. 5
[33] Keupp 1989, S. 64
[34] Griese 2007, S. 64
[35] Keupp 2002, S. 224
[36] Keupp 2002, S. 232
[37] Keupp 2002, S. 64
[38] Keupp 2004, S. 10
[39] Keupp 2004, S. 33
[40] Keupp 2004, S. 10
[41] Keupp 2004, S. 34
[42] Hettlage-Varias 1992, S. 152
[43] Hettlage-Varias 1992, S. 147
[44] Hettlage-Varias 1992 S. 148
[45] Hettlage-Varias/ Hettlage 1984, S. 354
[46] Hettlage-Varias 1992, S. 154
[47] Hettlage-Varias 1992, S. 154
[48] Polat 2000, S.17
[49] Polat 2000, S. 20-21
[50] Schultz/Sackmann 2001, S. 40 - 45
[51] Dorfmüller-Karpusa 1992, S. 182
[52] Schäfers/Kopp 2006, S.266
[53] Hämmig 2000, S. 50, Hervorhebung im Original
[54] Öztoplak 2007, S.22
[55] Schäfers/Kopp 2006, S. 9
[56] Öztoplak 2007, S.22
[57] Berry 1992
[58] Berry/Sam 1996, S. 298
[59] Berry/Sam 1996, S. 297
[60] Bourhis et al. 1997
[61] Schrader/Nikles/Griese 1976
[62] Schrader/Nikles/Griese 1976, S. 66 - 73
[63] Uysal 1998, S. 69
[64] Kagitcibasi/Sunar 1997, S.148
[65] Kagitcibasi/Sunar 1997, S.148
[66] Kagitcibasi/Sunar 1997, S. 157
[67] Uysal 1998, S. 78
[68] Deutsche Schell 2000, S.85
[69] Popp/Tillmann S. 107
[70] Riesner, S. 42
[71] Klawe 1991, S. 172
[72] Nestvogel 2002, S.359
[73] Kolip 1994, S. 21
[74] Heckmann/Wunderlich/Worbs/Lederer 2000, S.48
[75] Boos-Nünning/Karakasoglu 2005, S.136
[76] Bundesinstitut für Berufsbildung 1991, zitiert nach Polat 1998, S.19
[77] Castles 1992
[78] Said 1990, zitiert nach Penitsch 2003, S.22