Vor Eröffnung der privaten „Heilanstalt für Epileptiker“ 1855 durch Hermann A. Reimer gab es in Görlitz und der Umgebung keine spezialisierte Betreuung und Behandlung von Epilepsiekranken. Die Aufnahme von Epileptikern in öffentlichen „Irrenanstalten“ war im Regierungsbezirk Liegnitz sogar verboten. Somit hatte Reimer nachweislich in Deutschland, wenn nicht sogar in Europa, eine der ersten ärztlich geleiteten und spezialisierten Einrichtungen für Epileptiker gegründet.
Aufgrund des nur ungenügenden Patientenzustroms im ersten Jahr nach Anstaltseröffnung musste Reimer das Spektrum der zu behandelnden Patienten auch auf Patienten mit anderen Geistesstörungen ausweiten. Mit der Erweiterung seiner Institution im Jahr 1856 zur privaten „Heil- und Pflegeanstalt für Gehirn- und Nervenkranke“ entstand in Görlitz erstmals die Möglichkeit, auch psychisch Kranke speziell zu versorgen und zu behandeln.
1866 stellte Reimer den Nervenarzt und Privatdozenten Karl Ludwig Kahlbaum als ersten Assistenten ein, dem er bereits 1867 seine Anstalt übergab. Bereits während Kahlbaums Anstellung an der staatlichen „Heil- und Pflegeanstalt Allenberg“ konzentrierte er sich auf die klinische Beobachtung und Dokumentation der psychiatrischen Patienten, woraus er entgegen der seinerzeit vertretenen „Einheitspsychose“- eine klinisch-orientierte Klassifikation für psychiatrische Krankheitsbilder zu entwickeln versuchte. Mit der klinischen Betrachtungsweise seiner Patienten war nicht nur eine Differenzierung der Patienten, sondern auch die Erstellung neuer Diagnosen und damit auch eine Prognoseabschätzung möglich geworden, die schließlich auch zu einer weiteren Spezialisierung im Fachgebiet Psychiatrie führten. Im Zuge der Spezialisierung entstand nicht nur eine Pflegeabteilung für chronisch Kranke, sondern auch erstmals ein sogenanntes „Ärztliches Pädagogium“ speziell für psychisch kranke Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene des männlichen Geschlechts. Auch gab es bereits seit den 1870er Jahren regelmäßig Sprechstundenzeiten im Sinne einer ambulanten Patientenbetreuung.
Beide Ärzte bemühten sich frühzeitig um ein balanciertes Arzt-Patienten-Verhältnis im Sinne eines „moral management“ mit zunehmender Distanz weg von „Zwangsanwendungen“, hin zu einem „no-restraint System“ und offenem Fürsorgekonzepts.
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- Friederike Schlichting (Author), 2021, Die Entwicklung der Psychiatrie in Görlitz unter Dr. Reimer und Dr. Kahlbaum, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1582474