Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Problemstellung und Themenrelevanz
1.2. Zentrale Fragestellung
1.3. Aufbau der Arbeit
2. Theoretischer Background: Policy Change
2.1. Der „Discourse coalition“-Ansatz nach M. Hajer
2.2. Sabatiers Advocacy Coalition Approach
2.3. Discourse vs. Advocacy-Coalitions
3. Der Brenner Basistunnel: Ein länderübergreifendes Politikum
3.1. Der BBT: Geschichte, Zahlen, Daten, Fakten
3.2. Geteilte Meinungen
3.3. Analyse des vorherrschenden Diskurses
3.4. Policy Change in Tirols Verkehrspolitik
4. Konklusion
4.1. Resümee
4.2. Beantwortung der Forschungsfrage
LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
1.1. Problemstellung und Themenrelevanz
Tirol ist ein Bundesland, das stark vom Transitverkehr in Mitleidenschaft gezogen ist. Eine Hauptverkehrsverbindung, nämlich die Brenner-Autobahn nach Italien, soll durch ein milliardenschweres Verkehrsprojekt entlastet werden – der Brenner Basistunnel, kurz BBT. Im Herbst 2006 wurden die Pläne für den Bau, der unter anderem von der Europäischen Union finanziert wird, konkret. Seit etwa 20 Jahren aber denkt man schon an einen solchen 55 Kilometer langen Tunnel unter dem Brennerpass. Der Brenner Basistunnel ist neben dem Schweizer Gotthardtunnel der längste Alpentunnel und das wichtigste Teilstück im Rahmen des Transeuropäischen Netzes (TEN) auf der 2200 Kilometer langen Strecken von Berlin nach Palermo (vgl. Kußtatscher 2008, 11ff.).
Das Projekt rund um den BBT bezieht eine Vielzahl an Akteuren mit ein. Zum einen ist hier die Bevölkerung entlang des Wipptales und der Brenner Autobahn, die mit dem zunehmenden Verkehrsaufkommen auch unter Lärm und Umweltverschmutzung leidet. Der Tunnel ist ein Projekt zweier EU-Länder (und damit auch der Landesregierungen), die sich die Finanzierung gemeinsam mit der Europäischen Union teilen (jeweils ein Drittel zahlen Österreich, Italien und die EU). Auch die Transportlobby/Frächterlobby ist im Diskurs um den Brenner Basistunnel integriert, ebenso wie die Baulobby und Umweltschützer wie das Transitforum Tirol und Südtirol (vgl. Kußtatscher 2008, 12).
Das Megaprojekt BBT soll 2010 in Bau gehen und zwischen 2020 und 2022 fertig gestellt werden.
Der Diskurs um den BBT zielt in verschiedene Richtungen und ist ausgehend von zwei theoretischen Konzepten, nämlich Maarten Hajers „Discourse coalition“ und Paul Sabatiers „Advocacy Coalition“ analysierbar. Zum einen stellt der Tunnel in den Augen vieler nicht die Lösung für das Problem rund um den Verkehr im Wipptal dar (die Bevölkerung der einzelnen Gemeinden ist hier gespalten). Ein sektorales Lkw-Fahrverbot oder ein Nachtfahrverbot wird beispielsweise schon längst gefordert. Zudem wird die Rentabilität des Tunnels, der immerhin mit Steuergeldern finanziert wird, in Frage gestellt. Bis zur Fertigstellung wird der Verkehr über den Brennerpass und damit der Brenner-Autobahn weiter anwachsen. Der Tunnel wäre nach Meinung vieler also nur in der Lage, die bis dahin zusätzlichen Schwertransporte zu kompensieren, nicht jedoch das bereits bis jetzt sehr hohe Verkehrsaufkommen zu reduzieren, sondern nur das Anwachsen zu verlangsamen. Es stellt sich daher die Frage, ob der Tunnel in 20 Jahren noch gebraucht wird. Auf der anderen Seite sehen zahlreiche Bürgermeister der betroffenen Gemeinden den BBT als Ideallösung an. Auch von wirtschaftlicher Seite kommen Bedenken, ob sich der Tunnel rentiert oder ob er einfach nur ein Milliardengrab darstellt.
1.2. Zentrale Fragestellung
Ausgehend von diesen Überlegungen stellt sich zu Beginn der Arbeit nun folgende zentrale Fragestellung:
- F1: Wie kommt es zum Politikwandel (policy change) in Tirols Verkehrspolitik rund um die Debatten um den Brenner Basistunnel? Was sind die zentralen Faktoren für policy change?
Daraus abgeleitet stelle ich aufbauend auf die verschiedenen theoretischen Konzepte von Hajer und Sabatier folgende Hypothese auf:
- H1: Die vorherrschende/n story line/s (im Sinne von Hajers Diskurskoalitionen-Ansatz) sind ausschlaggebend für den Policy Change in Tirols Verkehrspolitik.
1.3. Aufbau der Arbeit
Im folgenden Kapitel werden die beiden theoretischen Analysemodelle von Maarten Hajer auf der einen und Paul Sabatier auf der anderen Seite vorgestellt – sie sollen Grundlage für diese Proseminararbeit sein. Kapitel 3 befasst sich explizit mit dem Brenner Basistunnel, den Fakten zum Projekt und den jahrelangen kontroversiell geführten Debatten in der Öffentlichkeit. Der vorherrschende Diskurs und die Koalitionen sollen letztlich nach den Modellen von Hajer und Sabatier verortet werden. Im abschließenden vierten Kapitel wird die eingangs aufgestellte Forschungsfrage beantwortet und die Hypothese verifiziert oder falsifiziert.
Es gilt letztlich auch herauszufinden, welcher theoretische Ansatz sich „besser“ für diese spezifische Politikfeldanalyse und bezogen auf diese Fallstudie eignet bzw. wo die Grenzen der Beschreibung liegen. Auch muss man hier berücksichtigen, dass der Policy-Wandel eventuell noch nicht in dem Maße eingetreten oder erkennbar ist.
Die Fallstudie wird anhand von Medienberichten, Sekundärliteratur sowie Dokumenten, Presseaussendungen und Stellungnahmen der Akteure erstellt – dies kann also zeitweise zu einem mehr anekdotischen denn wissenschaftlichen Charakter führen.
2. Theoretischer Background: Policy Change
Ein Politikfeld und ein Politikproblem verändern sich im Laufe der Zeit. Der viel zitierte Policy Change tritt nach dem Ansatz von Maarten Hajer und Paul Sabatier aber auf unterschiedliche Weise ein.
2.1. Der „Discourse coalition“-Ansatz nach M. Hajer
Politische Probleme sind sozial konstruiert. Ob eine Situation zu einem politischen Problem wird, hängt von den Narrativen ab, in denen es diskutiert wird. Beispielsweise stellen tote bzw. kranke Bäume noch kein politisches Problem dar. Wird die Situation aber im Kontext von Klimawandel oder Umweltverschmutzung bzw. Schadstoffbelastung diskutiert, erhält dies eine andere Dimension. Die Verwendung der Sprache spielt hier eine wichtige Rolle in der Politik (vgl. Hajer 1993, 44). Wie über ein bestimmtes Problem gesprochen wird ist aber nur eine Frage in Maarten Hajers Überlegungen zur Diskursanalyse. So stellt sich vor allem auch die Frage, wer über ein spezifisches Problem spricht und was getan werden kann bzw. sollte. Es ist also nicht nur wichtig, die Worte innerhalb eines Diskurses zu untersuchen, sondern auch die Positionen der jeweiligen Sprecher (vgl. Hajer 1993, 45).
Der Begriff „Diskurs“ muss hier näher erläutert werden. Maarten Hajer beschreibt Diskurs als
„an ensemble of ideas, concepts, and categories through which meaning is given to phenomena. Discourses frame certain problems; that ist to say, they distinguish some aspects of a situation rather than others.“ (Hajer 1993, 45).
Ein Diskurs ist also ein Ensemble aus Ideen, Konzepten und Kategorien durch die ein Phänomen eine Bedeutung erfährt. Diskurse „rahmen“ (framen) bestimmte Probleme – das heißt sie heben bestimmte Aspekte hervor. Häufig wird der Terminus „Diskurs“ nur im Singular gebraucht, richtiger wäre es, den Plural hier zu verwenden, da selten nur ein Diskurs stattfindet. Die Formulierung eines Diskurses findet auf vielen Ebenen statt, vor allem in der Politik. Als Beispiel nennt Hajer hier die Umweltpolitik – hier ist anzunehmen, dass die Naturwissenschaft einen sehr starken und legitimierten Diskurs erzeugt (vgl. Hajer 1993, 46).
Eine Diskurskoalition „is basically a group of actors who share a social construct“ (Hajer 1995, 45). Wobei solche sozialen Konstrukte nicht in einem historischen Vakuum entstehen. Man muss also auch auf die Zeitkomponente achten, in der ein Diskurs aufkommt (vgl. Hajer 1993, 45). Hajer definiert eine Diskurskoalition aber noch weiter:
„A discourse coalition is thus the ensemble of a set of story lines, the actors that utter these story lines, all organized around a discourse. The discourse coalition approach suggests that politics is a process in which different actors from various backgrounds form specific coalitions around specific story lines“ (Hajer 1993, 47)
Diskurskoalitionen bilden sich also vor dem Hintergrund von Argumentationsmustern mit der Intention, „diese Darstellungsformen und Problemsichtweisen von der Wirklichkeit durchzusetzen“ (Schneider/Janning 2006, 182).
Entscheidend ist, dass sich die Akteure rund um diese Story lines bilden und diese im Vordergrund steht.
„Story-lines sind häufig reproduzierte narrative Konstrukte, wodurch Elemente aus unterschiedlichen diskursiven Bereichen miteinander in Verbindung gebracht werden“ (Hajer 1995)
Story lines vereinfachen ein komplexes Problem, sind multi-interpretierbar und ein Koordinationsfaktor für die Diskurskoalitionen. Der aktuelle politische Prozess ist von den Ideen des Diskurses geführt. Die Story lines dominieren, ein Diskurs setzt sich durch.
Maarten Hajer wendet seinen Ansatz auf das Problem des Sauren Regens (acid rain) in Großbritannien und den Niederlanden an. In seiner Analyse filtert er zwei dominante aber gegensätzliche Diskurskoalitionen heraus („traditional pragmatist discourse“ und „ecological modernization discourse“), die das Umweltproblem mit unterschiedlichen Story lines erklären (vgl. Hajer 1993, 48f.).
2.2. Sabatiers Advocacy Coalition Approach
Der Advocacy-Koalitionen-Ansatz von Paul Sabatier und Hank Jenkins-Smith hat das Ziel, den Policy-Wandel und damit verbunden das policy-orientierte Lernen zu beschreiben. Eine Advocacy Coalition
„is conceived of as an alliance of political groups in a policy subsystem sharing the same interests and ideas that come together to argue against other policy coaltions concerned with the same policy issues“ (Fischer 2003, 95).
Dabei geht der Advocacy Coalition-Ansatz von vier Grundannahmen aus: 1) Policy-Wandel muss in einem Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt analysiert werden, 2) man sollte sich auf ein Policy-Subsystem konzentrieren, d.h. die Interaktion der Akteure von verschiedenen Institutionen, die sich mit einem Politikfeld bzw. einem Problem auseinandersetzen, nicht ausschließlich Regierungen sondern Akteure sämtlicher Bereiche, 3) diese Subsysteme müssen alle Ebenen, also auch die intergovernementale, miteinbeziehen („actors from all level of government“) und 4) die öffentlichen Policies können als „belief system“ verstanden werden, also als ein Set von Werten, Prioritäten und kausalen Annahmen (vgl. Sabatier 1993, 16). Es sind also nicht nur Politiker in einer Advokativkoalition vertreten, sondern auch Journalisten, Wissenschaftler, Akteure aus der Verwaltung und Gesellschaft sowie Interessensgruppen (vgl. Fischer 2003, 95).
Entscheidend, um Policy-Wandel zu verstehen und zu analysieren, sind die Policy-Subsysteme, die Sabatier folgendermaßen definiert:
„set of actors who are involved in dealing with a policy problem such as air pollution control, mental health, or energy“ (Sabatier 1993, 24)
Wie entsteht nun so ein Subsystem? Eine Gruppe von Akteuren ist unzufrieden mit der Auseinandersetzung um ein Problem (vgl. Sabatier 1993, 24). In diesem Subsystem gibt es nun zwischen zwei und vier Advokativkoalitionen, die gemeinsame Normen und Werte teilen (vgl. Fischer 2003, 95). Über das „belief system“ und die Ressourcen versucht eine Advokativkoalition nun, eine Strategie zu entwickeln und so den Policy-Output zu beeinflussen. Dazwischen können so genannte „Policy Brokers“ existieren, die (neutral) zwischen den Koalitionen stehen (vgl. Sabatier 1993, 18). Das „belief system“ weist dabei eine dreigliedrige Struktur auf – es gibt den Hauptkern (deep core) an Überzeugungen – die grundlegenden Werthaltungen sowie „normativen und ontologischen Übezeugungen (Schneider/Janning 2003, 196), die sich über sämtliche Politikfelder erstrecken und gültig sind, den nahen (policy) Kern, damit meint Sabatier die allgemeinen Überzeugungen und Positionen in Bezug auf ein Politikfeld und zuletzt die sekundären Aspekte, also die spezifischen Einstellungen und instrumentellen Handlungsweisen (vgl. Sabatier 1993, 30 und Fischer 2003, 96). Der Hauptkern ist nur schwer veränderbar, während hingegen die sekundären Aspekte leicht abänderbar sind (vgl. Schneider/Janning 2003, 196).
Sabatier berücksichtigt in seinem Ansatz aber auch die externen Faktoren, die den Policy-Wandel und das Policy-Subsystem beeinflussen und maßgeblich zum Policy Change beitragen. So unterscheidet er relativ stabile Parameter von jenen, die einer starken Fluktuation unterworfen sind. Zu den Faktoren, die relativ resistent gegen Veränderung sind, zählt Sabatier die „Grundlegenden Merkmale des Problembereichs“, die „Grundlegende Verteilung der natürlichen Ressourcen“, die „Grundlegende soziokulturelle Wertvorstellungen und Sozialstruktur“ und die „Grundlegende Merkmale der Verfassungsstruktur (rechtliche Regeln) (Sabatier 1993, 18).
Zu den „external events“, also zu den Faktoren mit sehr wahrscheinlichem Veränderungsgrad, zählen der „Wandel in den sozioökonomischen Bedingungen“, der „Wandel in der regierenden Koalition“ und der „Policy-Entscheidungen und Auswirkungen aus anderen Subsystemen“ (Sabatier 1993, 18).
Der Advocacy-Coalition-Ansatz von Sabatier gibt zwei Gründe für Policy-Change an: Zum einen sind dies Umbrüche innerhalb eines Subsystems, „hervorgerufen durch Veränderungen in den Wertvorstellungen der Koalitionsmitglieder“ (Schneide/Janning 2003, 196), zum anderen sind dies wie oben beschrieben externe Effekte, also Störungen außerhalb des Policy-Subsystems, die wahrscheinlicher für Politikwandel sind (vgl. Schneider/Janning 2003, 197ff.).
2.3. Discourse vs. Advocacy-Coalitions
Wo liegen nun die zentralen Unterschiede zwischen dem interpretativen Discourse Coalitions-Ansatz von Maarten Hajer und dem empirisch-orientierten Advocacy Coalition-Ansatz von Paul Sabatier? Beiden gemeinsam ist, dass sie Policy-Wandel erklären wollen, allerdings mit unterschiedlichen Ansichten.
Sabatiers Ansatz bezieht die Eliten des politischen Diskurs mit ein während bei Hajer mehrere Akteure unterschiedlicher Ebenen, also auch die Bevölkerungen, NGOs, etc dabei sind, die eine Diskurskoalition formen. Für letzteren sind die multi-interpretierbaren story lines entscheidend, die die Akteure in Diskurskoalitionen vereinigt während Sabatier von einem „belief system“ ausgeht, das den Akteuren zugrundeliegt. Dieses belief system wird als relativ stabil angesehen, während Hajer bei ein und demselben Akteur auch eine Änderung der Meinung mit einbezieht. In den Diskurskoalitionen muss nicht jeder zwingend dasselbe „belief system“ haben. Sabatiers Analyse der Advocacy Coalitions verläuft über eine länger Zeitperiode (mindestens ein Jahrzehnt) um die Wirkungen im Politikfeld zu beobachten, während Hajer keinen Zeitrahmen vorgibt, sein Beispiel des Sauren Regens aber über mehrere Jahrzehnte verfolgt.
Policy-Wandel vollzieht sich nach Sabatier durch die Einwirkung externer Effekte, also beispielsweise durch Regierungswechsel, öffentliche Meinung, etc., oder durch Umbrüche im Subsystem selbst, was als weniger wahrscheinlich gilt.
Für Hajer vollzieht sich Policy-Wandel durch narrative story-lines (Erzählverläufe), die in einem Politikfeld dominieren und als wahr angesehen werden.
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