Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Zum Konzept des Vergnügens im 85. Artikel Brockes’ und Richeys Moralischer Wochenschrift „Der Patriot“
3. Zur Bedeutung des Konzepts und dessen Einfluss auf das lyrische Verständnis Brockes’
4. Widerhall des Konzepts des Vergnügens in Brockes’ Gedicht „Die Welt“
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das Gros der jüngeren Forschung begreift Brockes‘ Lyrik traditionell immer noch hauptsächlich in dem Versuch der Verschränkung von Gott und Natur, christlicher Gotteserkenntnis und wissenschaftlicher Beobachtung der Natur. In den meisten Untersuchungen kommt deshalb der physikotheologischen Ausrichtung seines Werks große Bedeutung zu.[1] Die Idee der vorliegenden Arbeit ist es, einmal nicht die Betrachtung der Lyrik des Dichters zu ihrem Ausgang zu wählen. Es soll sich ihr vielmehr über das Verständnis eines Primärtexts genähert werden, den Brockes als Mitherausgeber der frühaufklärerischen Hamburger Moralischen Wochenzeitschrift „Der Patriot“ als deren 85. Artikel am 16. August 1725, im zweiten Jahr ihres insgesamt dreijährigen Erscheinens, publizierte.[2]
Diese Arbeit wird beweisen, dass das im besagten Artikel diskutierte Konzept des Vergnügens die lyrische Suche der Dichtung Brockes‘ nach der Entsprechung zwischen einer natürlichen, göttlichen und weltlichen Ordnung reflektiert. Sie offenbart unter ihrem zweiten Gliederungspunkt, inwiefern diese Suche in Form der Vergnügung zeitgleich als ein Ausdruck weltlicher Tugendhaftigkeit und Weg zu „ewiger Glückseligkeit“ zu betrachten ist.
Im folgenden Schritt ist unter dem dritten Punkt und unter Berücksichtigung der Arbeit von Wolfram Mauser zu belegen, wie sich aus dem Konzept des Vergnügens eine eigenständige Existenzberechtigung des Bürgertums formuliert. Diese, so wird gezeigt, folgt der Gotteserkenntnis, ohne dabei mit der Progressivität der sozialhistorischen Verhältnisse im bürgerlich prosperierenden Hamburg des angehenden 18. Jahrhunderts in Konflikt zu geraten.
Unter dem vierten Punkt der vorliegenden Arbeit werden die bis dahin getroffenen Erkenntnisse an ausgewählten Textstellen von Brockes Gedicht „Die Welt“ nachvollzogen und überprüft. Sie schließt mit einer kritischen Betrachtung ihres Erkenntnisgewinns und einem Umriss möglichen weiteren Forschungspotentials ab.
2. Zum Konzept des Vergnügens im 85. Artikel Brockes‘ und Richeys Moralischer Wochenzeitschrift „Der Patriot“
Es handelt sich hierbei um eine Übersetzung eines Beitrags aus dem Guardian, einem ähnlich wichtigen frühaufklärerisch-literarischen Organ im englischsprachigen Raum.[3] Wie wichtig den zwei hauptverantwortlichen Herausgebern Richey und Brockes die Verhandlung dieses Themas und die Kernaussagen des veröffentlichten Artikels sind, belegt allein die Tatsache, dass sie seine Publizierung mittelbar über den fiktiven Erzähler des „Patriot“ verhandeln. Der Wunsch nach Originalität der Beiträge in der Wochenschrift wird hier im Interesse der Bildung ihrer Leser hinten angestellt, da diese „in diesem Entwurffe viele so herrliche und nützliche, als angenehme und leichte Wahrheiten entdecken werden.“.[4] Ob die im Text behauptete Einsendung der Übersetzung in Form eines Leserbriefs aber tatsächlich der Wahrheit entspricht oder es sich hier um ein fingiertes Szenario und literarisches Mittel zur Spannungssteigerung, also schlichtweg eine intelligente Vermarktungsstrategie der Verleger handelt, ist heute nicht mehr zweifelsfrei nachweisbar.
Besagter Artikeldiskutiert auf theoretischer Ebene ein wahres, natürliches und ein eingebildetes, phantastisches Vergnügen, grenzt beide Konzepte voneinander ab. Innerhalb dieser Unterscheidung sind zwei tragende Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen handelt es sich um eine aus der theologischen Dimension heraus erschlossene Differenzierung, denn erster und einziger Ursprung des Vergnügens ist der „gütige Urheber der Natur“.[5] Zum anderen aber wird der Weg zur Vergnügung dargestellt als eine Pflicht des Menschengegenüber seinem Denken und Handeln, er führt über den „ordentlichen Gebrauche derjenigen Seelen= und Leibes=Kräffte“, die Gott dem Menschen übertragen hat.[6] Um nun die pragmatische Bedeutung dieses Konzepts zu verdeutlichen, führt der Text die Kategorien Lust und Vernunft ein. „Was derohalben die Sinne also kitzelt, daß die Vernunft dadurch beleidiget wird, ist kein natürliches Vergnügen: weil die Vernunft dem Menschen nicht weniger wesentlich ist, als die Sinne.“.[7] Vergnügen, argumentiert der Text, ist verbunden mit dem Streben des Menschen nach Trieberfüllung, und deshalb ist es nur billig, dass es jederzeit im Widerspruch zur „fleischlichen Lust“ stehen kann.[8] Allemal ist es aber nur das Göttliche, so die grundsätzliche Aussage, in dem der Mensch diese Erfüllung finden kann. Nur Gott als „Werk=Meister unsers Wesens“ weiß, „was für ein Vergnügen wir entweder mit der wenigsten Mühe suchen, oder mit der gründlichsten Lust geniessen können.“.[9]
Wie stark diese Herleitung die dichterischen Bestrebungen Brockes’ vitalisiert und motorisiert haben muss, wird deutlich, wenn er in seinem Hauptwerk von den irdischen Vergnügen schreibt:
Von einem jeglichen Vergnügen sollt billig Gottes Lob das Ende,
Das Ende von dem Lobe Gottes ein Anfang vom Vergnügen sein.[10]
Worin genau besteht nun diese wahre, auf Gott ausgerichtete Vergnügung und wie grenzt sie sich von der eingebildeten ab? Erstere kann, so der Patriot, über die Mannigfaltigkeit allerDinge dieser Welt erlangt werden.[11] Um aus dem theoretischen Konzept des Vergnügens nun einen pragmatischen Gehalt zu kanalisieren, gebraucht der Text die Allegorese.[12] Er stellt bildlich die Erquickung an und in der Natur ihrer Nutzbarmachung und Ausbeutung um des reinen Profits Willen, die Betrachtung von Kunst und kunstvollen Gegenständen deren Verwendung als bloßem Zierrat aus Koketterie, die pragmatische Verwendung der Dinge des täglichen Lebensderen Aufwertung und Überstilisierung zum Zweck der Selbstdarstellung, die Tätigkeit zum Nutzen und Guten des Menschen der egozentrierten Gelehrsamkeit und dem Ordensstolz gegenüber.[13] Alle diese Betrachtungen sind eingewoben in ein Spektrum der Bewegung und Beobachtung.
Der Erzähler durchläuft sinnbildlich die ihn umgebende Welt – das Land, die Stadt, den Hof - nimmt äußere Merkmale wahr und schließt auf innere Eigenschaften. Das Sehen in Form der Beobachtung schärft seine Vernunft, formuliert und verdeutlicht sein Vergnügen. Die Beobachtung des Erzählers in ihrer Sinnhaftigkeit als Sehen und Empfinden führt den Text ebenso zu seiner Zielaussage, wie sie den Leser über dessen Reflexion zum Vergnügen führen soll. Dieser Prozess der Beobachtung muss aufgeschlüsselt werden, um die Bedeutung des Texts offenzulegen.
[...]
[1] Wenn sich auch der Fokus in der Betrachtung Brockes‘ Lyrik zu Gunsten ihrer Untersuchung als deskriptive Naturgedichte, eng mit der Entwicklung der Wissenschaften verwobenen Fragestellungen verschoben hat, überwiegen entsprechende Deutungshypothesen.
[2] Zum Überblick über ihre Editionsgeschichte, zu ihrer Einordnung und Schlüsselbedeutung für die deutschsprachigen, frühaufklärerischen Moralischen Wochenzeitschriften: Vgl. Martens, Wolfgang (1968): Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenzeitschriften. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, S. 18ff.
[3] Vgl. Martens, Wolfgang (Hrsg.): Der Patriot. Nach der Original-Ausgabe Hamburg 1724-26 in 3 Textbd. und einem Kommentarbd., Der Patriot: Kommentarband, Bd. 2, Berlin; New York: de Gruyter 1984, S. 272.
[4] Brockes, Barthold Heinrich; Richey, Michael (Hrsg.): Der Patriot (1725). Zweytes Jahr. Neue und verbesserte Ausgabe, mit vollständigem Register. Hamburg: Conrad König 1747. Digitalisiert von Google Books im Auftrag der Taylor Institution Library der Oxford University am 21.09.2007. Internet: URL http://books.google.de/books?printsec=frontcover&dq=brockes&ei=FXNoTMWaHtWRjAfl4eXUBA&ct=result&pg=PP2&id=KHwHAAAAQAAJ#v=onepage&q&f=false. Stand 21.08. 2010, S. 294.
[5] Ebd., S. 295.
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 296.
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 295 f.
[10] Brockes, Barthold Hinrich: Irdisches Vergnügen in Gott. Bestehend in physicalisch- und moralischen Gedichten. Nachdruck der Ausgaben 1721 bis 1748. 9 Bde., Bd. 8. Bern: Peter Lang 1971, S. 513.
[11] Vgl. Brockes; Richey1725, S. 297.
[12] Gemeint ist die von Peil nach Lauberg zitierte Allegorie „als Gedanken-Tropus fortgesetzte Metapher“. Zur umfassenden Differenzierung: Peil, Dietmar (1975): Emblematisches, Allegorisches und Metaphorisches im ‚Patrioten‘, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte, hg. von Rainer Gruenter und Arthur Henkel. Heidelberg: Universitätsverlag Carl Winter, Vol. 69, S. 6 f.
[13] Vgl. Richey; Brockes 1725, S. 298 ff;
Zur attributiven Merkmalszuweisung in Allegorien im ‚Patriot‘ siehe Peil:
Peil, Dietmar (1977): Allegorische Gemälde im ‚Patrioten‘(1724-1726), in: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster, hg. von Karl Hauck. Berlin; New York: de Gruyter, FMSt, Bd. 11, S. 371.