Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Hauptteil
1. Die Bedeutung des sozialen Umfelds im Kindesalter
2. Soziale Kompetenzen
3. Soziales Kapital
4. Konkrete Risiken bei einem Umzug im Kindesalter
4.1. Auswirkungen auf die schulischen Leistungen
4.2. Auswirkungen auf die Gesundheit
4.3. Fallbeispiel
C. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
A. Einleitung
Während in der Lebensphase der Jugend der Begriff der „Orientierung“ eine zentrale Rolle spielt, schreibt man der Lebensphase der Kindheit eher den Begriff der „Entdeckung“ zu. Die Bezeichnung „Orientierungsprobleme“ wird man daher üblicherweise eher im Jugendalter als in der Kindheit verorten. Doch nicht nur der Terminus „Orientierung“, sondern auch Schlagwörter wie „Orientierungshilfe“, „Orientierungstest“ und „Orientierungsgespräch“ lassen eher auf Probleme bzw. Herausforderungen in Zusammenhang mit Jugendlichen und Heranwachsenden, als auf problembehaftete Umstände in Zusammenhang mit Kindern schließen.
Und trotzdem können nicht nur im Jugendalter, sondern auch schon in der Kindheit einschneidende Ereignisse mehr oder weniger große Orientierungsprobleme mit sich bringen. Ereignisse wie zum Beispiel ein Umzug. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „Umzug“ in der folgenden Arbeit als mit dem Wechsel des sozialen Umfelds einhergehend zu betrachten ist. Die potenziellen Orientierungsprobleme und die veränderten Sozialisierungsbedingungen, die ein Umzug mit sich bringt, haben zur Folge, dass „Umzug“, speziell im Zusammenhang mit dem Begriff der „Kindheit“ bzw. „Kindern“, sehr häufig negativ konnotiert ist, und das nicht ohne Grund. In dieser Arbeit möchte ich auf die Risiken eingehen, die ein Umzug mit sich bringt.
Bei Themen wie „Umzug und die Auswirkungen auf die soziale Entwicklung eines Kindes“, und dessen umfassender wissenschaftlicher Beleuchtung, können und müssen viele Bereiche in den Blick genommen werden, da dies ein sehr weitläufiges Thema mit vielen Facetten ist. In dieser Arbeit möchte ich mich allerdings auf einen kleinen Teil des Gebiets der Sozialisation beschränken. Ich werde im Folgenden sowohl auf die Bedeutung des sozialen Umfelds für das Kind eingehen, als auch auf die Begriffe „soziale Kompetenz“ und „soziales Kapital“.
Der Terminus „soziales Kapital“ ist ein zentraler Begriff in Pierre Bourdieus Sozialisationstheorie. Bourdieu hat durch diese Theorie deutlich gemacht, dass das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in einem sozialen Umfeld weit mehr von der gesellschaftlich ungleichen Verteilung verschiedener Kapitalformen1 abhängt, als vom erzieherischen Handeln von Pädagoginnen und Pädagogen.2 Deswegen ist es wichtig, in Zusammenhang mit dem Sozialisationsprozess eines Kindes, und speziell mit dem Umzug in der Kindheit, zumindest auf eine Form des Kapitals, nämlich die des sozialen Kapitals, einzugehen.
Am Rande erwähnt sei, dass ein Umzug im Inland oder ins Ausland durchaus auch positive Aspekte als Konsequenz haben kann. Einige Beispiele sind die frühe Entfaltung kognitiver Fähigkeiten, toleranter Werte und offener Normstrukturen, inter- und intrakultureller Kompetenzen, sowie der Sprachkompetenz.3 Die positiven Einflüsse die ein Umzug auf die soziale Entwicklung eines Kindes hat sind allerdings nicht Teil dieser Arbeit. Ich möchte mich lediglich der deskriptiven Annäherung an die Probleme, die aus sozialisationstheoretischer Perspektive bei einem Umzug im Kindesalter enstehen können, widmen.
B. Hauptteil
1. Die Bedeutung des sozialen Umfelds im Kindesalter
Bevor man sich dem Begriff des „sozialen Umfelds“ nähert, sollte zuerst genauer auf den Oberbegriff der „Sozialisation“ eingegangen werden. Unter „Sozialisation“ versteht man im Allgemeinen den Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit zwischen dem Individuum und der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt4. Mit anderen Worten meint Sozialisation das Wechselspiel von physischen und psychischen
Grundstrukturen und sozialen und physikalischen Umweltbedingungen.5 Anhand dieser beiden Definitionen, sowie der unten aufgeführten Abbildung, lässt sich erkennen, dass die Persönlichkeitsentwicklung als Schnittmenge aus Anlage und Umwelt gesehen werden kann.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 1: Das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt bei der Persönlichkeitsentwicklung)
Das Kind setzt sich also mit sich selbst und seiner Umwelt auseinander und entwickelt dadurch die eigene Persönlichkeit. In den folgenden Kapiteln wird genauer auf diese Umweltbedingungen, im Speziellen auf das soziale Umfeld, das den Schauplatz der Sozialisation darstellt, eingegangen.
Für Kinder ist das soziale Umfeld insofern von Bedeutung, als dass sie sich schon in jungen Jahren nicht nur im familiären Kontext, sondern auch im Kindergarten, in der Schule und in anderen sozialen Gruppen soziale Kontakte aufbauen, und somit soziale Kompetenzen entwickeln und soziales Kapital erwerben, um in einem spezifischen sozialen Umfeld eine Rolle einnehmen zu können.
2. Soziale Kompetenzen
„Soziale Kompetenzen meint Fähigkeiten, die es Menschen erleichtern, erfolgreich an alltäglichen Prozessen der Interaktion und Kommunikation in einem spezifischen sozialen Umfeld teilzunehmen.“6 An konkreten Verhaltensweisen festgemacht sind soziale Kompetenzen für die Professorin der Sozialwissenschaften Eileen Gambrill an der University of California zum Beispiel „nein sagen, Versuchungen zurückweisen, auf Kritik reagieren, Änderungen bei störendem Verhalten verlangen, Widerspruch äußern, erwünschte Kontakte arrangieren, Gefühle offen zeigen, etc.“7
Ein Wohnortwechsel der gleichzeitig einen Wechsel des sozialen Umfelds bedeutet, geht mit der zwangsläufigen Aufgabe der Gruppenzugehörigkeit und dem Verlust der Ortsidentität einher. Hierdurch kommt es zu Sozialisationsstörungen, die Kinder in „abweichendes Verhalten“ treiben können8, also Verhalten, das eine negativ abweichende Tendenz gegenüber den dem Durchschnitt entsprechenden Sozialverhaltensmustern aufweist.
Dieses abweichende Verhalten lässt sich begrifflich mit „sozialen Kompetenz-problemen“ gleichsetzen. Nach Gambrill liegen soziale Kompetenzprobleme, oder wie sie es nennt „sozial inkompetentes Verhalten“, dann vor, wenn jemand die eingangs erwähnten Verhaltensweisen in entsprechenden Situationen nicht oder nur unvollkommen verwirklichen kann.9
Negative Folgen sozial inkompetenten Verhaltens, bzw. nicht vorhandener sozialer Kompetenzen können sein, dass Kinder durch den Wohnortwechsel Probleme mit der Bewältigung sozialer Situationen (z.B. sich in die neuen Gegebenheiten, beispielsweise in eine neue Schulklasse, einfügen; soziale Kontakte knüpfen; kritikfähig sein) bekommen, und diese Situationen, und alles was mit ihnen in
Verbindung steht, häufig sogar als Bedrohung ansehen.
Lioba Baving, Lehrstuhlinhaberin für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Kiel, sieht Wohnortwechsel ebenfalls als mögliche auslösende Ursachen, bzw. aufrechterhaltende Ursachen für eine Störung des Sozialverhaltens.
Häufige Wohnortwechsel, wie sie bei HMKs (Highly Mobile Kids) der Fall sind,
bedingen der Notwendigkeit des Erlernens der Fähigkeit, mit dem Verlust der zuvor erwähnten Gruppenzugehörigkeit und Ortsidentität umgehen zu können12, was eine große Herausforderung für ein Kind bedeutet, und somit in Bezug auf den Sozialisierungsprozess des Kindes ein Risiko darstellt.
Auf Grund der oben genannten Punkte bleibt abschließend zu sagen, dass es für ein Kind mit durch einen Umzug negativ beeinträchtigter Sozialkompetenz sehr schwer ist, sich in seiner sozialen Umwelt angemessen zu verorten bzw. zurechzufinden.
[...]
1 ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital; vgl. H.-C. Koller: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. S. 139
2 vgl. ebd. S. 154
3 vgl. T. Malti, S. Perren: Soziale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen. S. 133
4 vgl. W. Marotzki, A.-M. Nohl, W. Ortlepp: Einführung in die Erziehungswissenschaft. S. 127
5 vgl. K. Hurrelmann: Einführung in die Sozialisationstheorie. S. 26
6 vgl. C. Hopf: Frühe Bindungen und Sozialisation – Eine Einführung. S. 127
7 vgl. R. Hinsch, U. Pfingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. S. 4
8 vgl. U. Berg: Jugendliche am Scheideweg – Das Herakles-Phänomen. S. 125
9 vgl. R. Hinsch, U. Pfingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. S. 6