Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Struktur des Textes
2.1 Formale und inhaltliche Kriterien einer Autobiographie
2.2 Formale u nd inhaltliche Analyse von Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert
3 Benjamins Erinnerungstheorie
3.1 Sammlung
3.2 Metaphorisierung von Gedächtnis und Erinnerung
4 Kritische Beurteilung und Schlussbemerkungen
5 Primärliteratur
1 Einleitung
Mit der Berliner Kindheit um neunzehnhundert verfasst Benjamin einen Text, der nach allgemeinem Konsens als seine Autobiographie gilt. Das zentrale Thema, mit dem ich mich in dieser Arbeit beschäftige, ist der Unterschied zur „klassischen Biographie“, den Benjamins Werk deutlich aufweist. Ich möchte den Unterschied nicht nur beschreiben, sondern mein Ziel ist, zu zeigen, dass Benjamins Erinnerungstheorie Form und Inhalt der „Berliner Kindheit“ in hohem Maße bestimmt bzw. beeinflusst hat. Zunächst möchte ich dabei untersuchen, welche typischen formalen und inhaltlichen Charakteristika wir einem Text in der Regel zugrundelegen, wenn wir ihn eine „Autobiographie“ nennen. Hierzu gehören zweifellos der narrative Charakter des Textes, sowie die darin beschriebene Entwicklung des Ich-Erzählers. Dabei wird offensichtlich, dass Benjamins Text diese beiden Punkte nicht erfüllt – zumindest nicht in augenfälliger Weise. Daher werden in einem gesonderten Punkt die formalen Charakteristika von Benjamins Werk analysiert und die Unterschiede zur „typischen“ Autobiographie herausgearbeitet.
In einem weiteren Punkt möchte ich die Thesen, die Benjamins Erinnerungstheorie bestimmen skizzieren und letztendlich ihren Einfluss auf den Text und die Gestaltung der Berliner Kindheit um neunzehnhundert aufzeigen. Benjamin entwickelt seine Erinnerungstheorie nicht in einem einzelnen Werk, sondern versetzt seine Texte, wie z. B. die Berliner Chronik, mit Stücken seiner Theorie, so dass ein einheitliches Bild nicht leicht gewonnen werden kann. Darüber hinaus trägt die Berliner Kindheit nicht allein autobiographische Züge, sondern verknüpft die individuelle Erinnerung („Kindheit“) mit der kollektiven Geschichte des „Berlin um neunzehnhundert“. Ziel meiner Arbeit ist es also, Benjamins Erinnerungstheorie zu skizzieren und ihre Auswirkungen in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert aufzuzeigen. Auf weitere Einflüsse, die Spuren in Inhalt und Form der Berliner Kindheit hinterlassen haben, wie sozialistische Ideen, Ideen der Avantgarde und medienkritische Ansätze, gehe ich erst in der kritischen Beurteilung in Punkt 4 ein, denn (nicht zuletzt aus Platzgründen) zentriere ich den Fokus meiner Arbeit auf das Thema der Erinnerungstheorie.
2 Die Struktur des Textes
Benjamins Text „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ wird als seine Autobiographie betrachtet. Jedoch nimmt der Text unter den Autobiographien sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht eine Sonderstellung ein: er weist keine Entwicklung des Individuums auf und erzählt keine kohärente Geschichte, sondern besteht aus Miniaturen, die auf den ersten Blick wenig miteinander in Zusammenhang stehen. Ich möchte daher zunächst die Erwartungen formulieren, die man an eine Autobiographie typischerweise hat und in einem weiteren Punkt Benjamins Werk beschreiben und damit kontrastieren.
2.1 Formale und inhaltliche Kriterien einer Autobiographie
Die Autobiographie gilt als literarisches Genre, obwohl die ihm zugeordneten Texte sehr heterogener Natur sind.[1] Misch definiert Autobiographie daher vage als die Beschreibung des Lebens eines Einzelnen durch diesen selbst.[2] Unter „Leben“ versteht er dabei einen integralen Zusammenhang von Erlebnissen, der in Form einer kohärenten Geschichte darstellbar ist.[3]
Typisch für Autobiographien sind die chronologische Ordnung, eine rückschauende Perspektive, ein narrativ gestalteter Zusammenhang, in dem das individuelle Leben zu bestimmten (z.B. zeitgeschichtlichen) Ereignissen in einen Sinnzusammenhang gestellt wird. Autobiographien stehen im Zusammenhang mit dem Themenkreis des „Sammelns“: Erinnerungen werden gesammelt und in der Regel in einem narrativen Prosatext dargestellt. Bereits Augustinus deutet in seinen Confessiones einen Zusammenhang zwischen dem Erinnern und dem Sammeln an. Wer sich erinnere, sammele denkend die im Gedächtnis verstreut enthaltenen Dinge ein.[4]
Die Kontingenz der Geschichte, in der der Autobiograph seine Erinnerungen bündelt, erscheint dabei retrospektiv: Der Sinn konstituiert sich beim Erzählen im Hinblick auf den vorläufigen Endpunkt der Existenz des Erzählenden. Das Geschehene wird also nicht einfach als eine Abfolge von Fakten reproduziert, sondern erhält seine Struktur im Hinblick auf das aktuelle Selbstbild des Autobiographen. Häufig gibt es in der Geschichte einen entscheidenden Wendepunkt, anhand dessen die Identität des „Ich“ festgemacht wird. Bei Augustinus ist dies die Konversion zum Christentum, bei Rousseau der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Die Autobiographie erfüllt damit eine sinnstiftende Funktion, indem sie in einer schlüssigen und oftmals teleologischen Geschichte das „Ich“ konstituiert.[5]
Der Fokus liegt dabei auf der Darstellung der inneren Entwicklung des Protagonisten. Sie ist ein literarisches Selbstporträt, das den Charakter des Verfassers bewertend reflektiert und seine Persönlichkeitsbildung durch „die Entfaltung geistig-seelischer Kräfte im Austausch mit der äußeren Welt“[6] beschreibt.[7] Damit grenzt sich das Genre der Autobiographie von dem der Memoiren (den Erinnerungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens) ab und begegnet dem seit der Aufklärung bestehenden Interesse nicht allein an biographischen Darstellungen, sondern auch an deren theoretischer Reflexion.[8] Eine literarische Besonderheit des Genres ist dabei, dass Autor, Erzähler und Protagonist des Textes miteinander identisch sind, was zu einem besonderen Anspruch an die Objektivität und Authentizität des Textes führt.[9] Ob dieser Anspruch gerechtfertigt ist, ist aufgrund der retrospektiven und subjektiven Strukturierung des Textes jedoch fraglich: Laut Misch wird die autobiographische Erinnerung im Prozess der Sinnfindung umgestaltet[10] und „wieder neu erfunden“; die Erinnerung ist kein statisches Gebilde, und das Gewesene unterliegt einer ständigen Revision. Misch konstituiert daher für die Autobiographie einen Wahrheitsbegriff im Sinne der Dichtung: Ihre Wahrheit sei keine der Fakten, sondern der Selbstdeutung.[11]
[...]
[1] Vgl. Moser, Christian: Gedächtnis und Erinnerung in der Autobiographie. Studienkurs 03544 der FernUniversität in Hagen. Sommersemester 2010. S. 2.
[2] Vgl. Misch, Georg: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. V. Günter Niggl. Darmstadt 1998, S. 33-54, hier: S. 38 (=Einleitung zur 3. Auflage des ersten Bandes der „Geschichte der Autobiographie“).
[3] Vgl. Moser, Chr.: Gedächtnis und Erinnerung in der Autobiographie. S. 5.
[4] Vgl. ebd. S. 14
[5] Vgl. ebd. S. 3f.
[6] Vgl. Schweikle, Günther und Irmgard (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Metzler, 1990. S. 34.
[7] Vgl. Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001. (= rowohlts enzyklopädie 55636) S. 64
[8] Vgl. Metzler Literatur Lexikon. S. 34.
[9] Vgl.http://www.uni-due.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/washeisst/autobiogr.htm (Letzter Zugriff am 04.08.2010).
[10] Vgl. Moser, Chr.: Gedächtnis und Erinnerung in der Autobiographie. S. 4.
[11] Vgl. ebd. S. 5.
- Arbeit zitieren
- Alexandra Stoßnach (Autor), 2010, Analyse Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/158734
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