Historisches Lernen in der Grundschule. Ist das überhaupt schon möglich? Diese Frage habe ich oft zu hören bekommen, wenn ich mich mit Außenstehenden (Nicht- Grundschullehrern und -lehrerinnen) über das geschichtliche Lernen in der Grundschule unterhalten habe. Denn Geschichte als eigenständiges Schulfach gibt es in der Grundschule nicht. Trotzdem sind geschichtliche Inhalte bereits in den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen des Sachunterrichts der einzelnen Bundesländer verankert. Demnach ist das historische Lernen, von offizieller Seite aus, ein Bestandteil des Unterrichts an Grundschulen.
In dieser Arbeit möchte ich der Frage nachgehen, wie das Geschichtsbewusstsein in der Grundschule im Rahmen des Sachunterrichts gefördert werden kann. Für die Beantwortung dieser Frage sind aber einige Vorarbeiten zu leisten. Schon der Begriff „Geschichte“ ist sehr vielfältig und wird sehr oft verwendet. Auch in der Grundschule werden häufig Geschichten erzählt. Doch diese Geschichten haben mit dem Begriff der Geschichte, so wie er von der Geschichtswissenschaft verstanden wird, nichts zu tun. Daher wird zu Beginn des ersten Kapitels der Begriff klar definiert.
Im Anschluss daran gilt es, das Modell des Geschichtsbewusstseins nach Hans-Jürgen Pandel zu betrachten. Dieses gilt als Voraussetzung für das historische Lernen überhaupt. Das Modell, welches insgesamt sieben verschiedene Dimensionen des Geschichtsbewusstseins benennt, wird zunächst erläutert und zusätzlich an praxisnahen Aufgaben aus dem Themenbereich des Mittelalters konkretisiert. Die gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend dazu benutzt, das Feld des historischen Lernens in der Grundschule näher zu bestimmen.
Nachdem die theoretischen Grundlagen des geschichtlichen Lernens geklärt sind, sollen anschließend die Lernvoraussetzungen für das historische Lernen näher betrachtet werden. Die Grundlage für das Verständnis von geschichtlichen Themen bildet das Zeitverständnis. Neben den Theorien zur Ausbildung des Zeitverständnisses werden auch konkrete Zeitvorstellungen von Kindern im Grundschulalter aufgegriffen. Es gilt zu klären, ob die Kinder im Grundschulalter aus entwicklungspsychologischer Sicht bereits dazu in der Lage sind, geschichtliche Inhalte zu verstehen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Historisches Lernen
2.1 Was ist Geschichte?
2.2 Das Geschichtsbewusstsein
2.2.1 Dimensionen der Geschichtlichkeit
2.2.2 Dimensionen der Gesellschaftlichkeit
2.2.3 Erweiterung des Modells
2.3 Historisches Lernen in der Grundschule
3 Geschichtliche Themen für die Grundschule?
3.1 Zeitverständnis
3.1.1 Theorien des Zeitverständnisses
3.1.2 Faktoren der Zeitbegriffsentwicklung
3.1.3 Zeitvorstellungen von Grundschulkindern
3.2 Legitimation der Inhalte
3.2.1 Lehrplan
3.2.2 Perspektivrahmen Sachunterricht
3.2.3 Gegenwartsbezug
3.3 Zielvorstellungen
4 Historisches Lernen in der Praxis
4.1 Eckpfeiler
4.1.1 Handlungsorientierung
4.1.2 Entdeckendes Lernen
4.1.3 Fächerübergreifende Unterrichtsgestaltung
4.2 Werkstattunterricht
4.2.1 Vorstellung der Arbeitsform
4.2.2 Organisation
4.2.3 Ziele
5 Vorschlag einer Werkstatt zum Thema „Das Leben im Mittelalter“
5.1 Die Mittelalterwerkstatt
5.2 Zielsetzungen
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Aufbau des Geschichtsbewusstseins
Abbildung 2: Zeitleiste Mittelalter
1 Einleitung
Historisches Lernen in der Grundschule. Ist das überhaupt schon möglich? Diese Frage habe ich oft zu hören bekommen, wenn ich mich mit Außenstehenden (Nicht- Grundschullehrern und -lehrerinnen) über das geschichtliche Lernen in der Grundschule unterhalten habe. Denn Geschichte als eigenständiges Schulfach gibt es in der Grundschule nicht. Trotzdem sind geschichtliche Inhalte bereits in den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen des Sachunterrichts der einzelnen Bundesländer verankert. Demnach ist das historische Lernen, von offizieller Seite aus, ein Bestandteil des Unterrichts an Grundschulen.
In dieser Arbeit möchte ich der Frage nachgehen, wie das Geschichtsbewusstsein in der Grundschule im Rahmen des Sachunterrichts gefördert werden kann. Für die Beantwortung dieser Frage sind aber einige Vorarbeiten zu leisten. Schon der Begriff „Geschichte“ ist sehr vielfältig und wird sehr oft verwendet. Auch in der Grundschule werden häufig Geschichten erzählt. Doch diese Geschichten haben mit dem Begriff der Geschichte, so wie er von der Geschichtswissenschaft verstanden wird, nichts zu tun. Daher wird zu Beginn des ersten Kapitels der Begriff klar definiert.
Im Anschluss daran gilt es, das Modell des Geschichtsbewusstseins nach Hans-Jürgen Pandel zu betrachten. Dieses gilt als Voraussetzung für das historische Lernen überhaupt. Das Modell, welches insgesamt sieben verschiedene Dimensionen des Geschichtsbewusstseins benennt, wird zunächst erläutert und zusätzlich an praxisnahen Aufgaben aus dem Themenbereich des Mittelalters konkretisiert. Die gewonnenen Erkenntnisse werden anschließend dazu benutzt, das Feld des historischen Lernens in der Grundschule näher zu bestimmen.
Nachdem die theoretischen Grundlagen des geschichtlichen Lernens geklärt sind, sollen anschließend die Lernvoraussetzungen für das historische Lernen näher betrachtet werden. Die Grundlage für das Verständnis von geschichtlichen Themen bildet das Zeitverständnis. Neben den Theorien zur Ausbildung des Zeitverständnisses werden auch konkrete Zeitvorstellungen von Kindern im Grundschulalter aufgegriffen. Es gilt zu klären, ob die Kinder im Grundschulalter aus entwicklungspsychologischer Sicht bereits dazu in der Lage sind, geschichtliche Inhalte zu verstehen. In einem zweiten Schritt sollen die historischen Inhalte grundlegend legitimiert werden. Neben dem Lehrplan des Sachunterrichts des Landes Nordrhein-Westfalen wird der Perspektivrahmen Sachunterricht der GDSU (Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts) herangezogen. Daneben sollen die Inhalte aber auch mit Hilfe des Gegenwartsbezuges legitimiert werden, der besonders für die Auswahl der Themen in der Grundschule von besonderer Bedeutung ist. Am Ende des Kapitels wird näher auf die Zielsetzungen, die mit dem historischen Lernen in der Grundschule verbunden sind, eingegangen.
Das vierte Kapitel ist sehr praxisorientiert. Es geht um die Frage, wie der Unterricht organisiert werden muss, um das Geschichtsbewusstsein im Rahmen des historischen Lernens optimal fördern zu können. Die sogenannten Eckpfeiler beschreiben das Rahmengerüst. Dazu zählen neben der Handlungsorientierung das Entdeckende Lernen sowie die fächerübergreifende Unterrichtsgestaltung. Noch konkreter wird es im zweiten Teil des Kapitels. Als eine mögliche Arbeitsform für das historische Lernen wird der Werkstattunterricht vorgestellt. Neben der Vorstellung der Arbeitsform werden auch organisatorische Punkte sowie die Ziele dieser Unterrichtsform thematisiert. Es gilt die Frage zu beantworten, ob der Werkstattunterricht dazu geeignet ist, das Geschichtsbewusstsein optimal zu fördern.
Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit werden alle vorher gewonnenen Erkenntnisse zusammengeführt. Am Beispiel einer Werkstatt zum Thema „Das Leben im Mittelalter“ soll erläutert werden, wie das historische Lernen und die damit verbundene Förderung des Geschichtsbewusstseins organisiert werden kann. Der thematische Inhalt der Mittelalterwerkstatt wird ausführlich beschrieben. Desweiteren wird auch auf die Organisation sowie die Ziele der Werkstattarbeit eingegangen.
2 Historisches Lernen
2.1 Was ist Geschichte?
Der Begriff „Geschichte“ an sich ist ein sehr geläufiger Begriff. Er wird häufig im Zusammenhang mit Ereignissen aus der Vergangenheit verwendet. In den weiterführenden Schulen ist sogar das Schulfach Geschichte nach ihm benannt. In der Grundschule ist das Fach Geschichte dagegen nur ein Teil des Lernbereichs des Sachunterrichts. Von Geschichtsunterricht im Zusammenhang mit dem Fach Sachunterricht ist an keiner Stelle der Lehrpläne die Rede. Trotzdem geht es auch beim historischen Lernen im Kern um die Vermittlung geschichtlicher Einsichten. Deshalb ist eine genauere Definition des Begriffs „Geschichte“ erforderlich. Geschichte hat immer etwas mit der Vergangenheit zu tun. Ereignisse, die bereits zurückliegen, werden aus der Perspektive der Gegenwart betrachtet und analysiert: „Geschichte ist also ein Prozess der Rekonstruktion und Konstruktion von Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart mit der Zielsetzung, in Gegenwart und Zukunft die eigene Fähigkeit zum Verständnis gesellschaftlicher und individueller Prozesse zu vertiefen und Handlungskompetenz zu gewinnen.“1
Aus dieser Definition geht hervor, dass sich geschichtliches Lernen auch auf die Zukunft bezieht. Zwar geht es nicht darum, aus der Geschichte zu lernen, d.h. geschichtliche Ereignisse 1:1 auf gegenwärtige und zukünftige Probleme zu übertragen, sondern vielmehr darum, historische Prozesse zu verstehen. Mit dieser Kompetenz können gegenwärtige Ereignisse analysiert und in Bezug auf die Zukunft hin gedeutet werden. Gegenwart und Zukunft sind somit von grundlegender Bedeutung für das Verständnis von Vergangenem. Insgesamt besteht ein enger Zusammenhang zwischen den drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.2
Als nächstes gilt es zu klären, was den eigentlichen Gegenstand der Geschichte ausmacht. Bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit im Rahmen der Geschichte geht es auch immer um Geschichte von und mit Menschen. Geschichte bezeichnet den „Gesamtkomplex menschlicher Praxis in der Vergangenheit in all ihren Veränderungen, seien sie durch absichtsvolles, zweckrationales Handeln, seien sie durch materielle, objektive Bedingungen und Bezüge bewirkt.“3 Klaus Bergmann bezeichnet die Geschichte auch als ein „Schatzhaus menschlicher Erfahrungen.“ 4 Daher handelt es sich beispielsweise bei dem Thema „Geschichte der Pflanzen“ nicht um ein geschichtliches Thema, welches im Rahmen des historischen Lernens zu behandeln ist. Im Zentrum steht die Geschichte, die von Menschen gemacht wurde. Die Geschichtswissenschaft kann somit als eine historische Sozialwissenschaft angesehen werden, die das Ziel einer Gesellschaftsgeschichte verfolgt, indem Wechselbeziehungen von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur untersucht werden. Dabei wird das Verhalten von Menschen und Gruppen zu erklären versucht.5
Bei geschichtlichen Themen handelt es sich nicht um frei erfundene Geschichten, sondern um tatsächlich stattgefundene Ereignisse, die so tatsachengetreu wie möglich rekonstruiert werden müssen.6 Man prüft das Vorhandene kritisch und belegt Aussagen und Behauptungen mit historischen Quellen, sodass sie jeder überprüfen und kritisieren kann.7 Aus den vorliegenden Quellen können dann Erkenntnisse aus der Vergangenheit gewonnen werden. Werden diese kindgerecht aufbereitet, können sie sogar schon in der Grundschule verwendet werden. Dafür ist natürlich eine Anpassung an die kognitiven Fähigkeiten der Kinder nötig. Zudem besteht der Inhalt der Geschichte auch nicht aus chronologisch angeordneten Wissensbeständen, so wie es den Kindern in den weiterführenden Schulen oft vermittelt wird.8 Daten, Fakten, Epochen und Personen sind vielmehr das Material, aus dem die Geschichte überhaupt erst entsteht. Dafür sind aber bestimmt kognitive Verarbeitungsprozesse nötig.9 Erst durch die Auswertung der gesammelten Daten und eine sinnvolle Verknüpfung derselben entsteht eine Geschichte.10 Vielmehr handelt es sich also bei dem Begriff „Geschichte“ um eine Denkweise, die dazu hilfreich ist, sich in der Gegenwart zu Recht zu finden und Bezüge zur Vergangenheit herstellen zu können.11 Die Erinnerung, ein menschliches Bedürfnis, ist dafür eine wichtige Voraussetzung, um geschichtliche Ereignisse und Prozesse genauer untersuchen und verstehen zu können.12 Erst dadurch können Zusammenhänge zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hergestellt werden, um die gewonnenen Erkenntnisse anschließend auf die Zukunft hin anwenden zu können.13
2.2 Das Geschichtsbewusstsein
Das Geschichtsbewusstsein kann beschrieben werden als „die Kompetenz des menschlichen Individuums, seinen Platz in einer sich entwickelnden und fortschreitenden Umwelt relativ zu einem Vorher, einem Hier und Jetzt und einem Nachher zu definieren.14“ Michalik definiert das Geschichtsbewusstsein „als eine Kompetenz, die der Orientierung in den zeitlichen Veränderungen unseres Lebens und unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit dient.“15 Durch die Definitionen wird deutlich, dass beim Geschichtsbewusstsein die Orientierung in den drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Vordergrund steht. Dazu gehört auch das Wahrnehmen von Entwicklungen und Veränderungen, die das eigene Leben betreffen.
Nach Pandel handelt es sich beim Geschichtsbewusstsein formal gesehen um eine narrative Kompetenz, nämlich um die Fähigkeit, Geschichte(n) zu erzählen und zu verstehen.16 Dabei müssen aber die Geschichten, die als erzählte verstanden werden, von den Geschichten des Alltags getrennt werden. Demnach hat das Geschichtsbewusstsein auch nichts mit „Erinnern“ zu tun, da wir selbst die Geschichten nicht erlebt haben.17 In diesem Punkt kann ich Pandel aber nicht zustimmen. Zwar trifft seine Annahme, dass die Geschichten nicht „live“ miterlebt wurden, in den meisten Fällen sicherlich zu. Was ist aber beispielsweise mit Zeitzeugen? Diese haben die „Geschichte(n)“ selbst miterlebt und können darüber berichten. Dafür müssen sie sich aber erinnern. Des Weiteren sehe ich die Fähigkeit der Erinnerung als eine Vorstufe auf dem Weg zu einem reflektierten Geschichtsbewusstsein. Denn ohne die eigene Erinnerung an Vergangenes ist Geschichte eben nicht zu verstehen. Durch den Rückblick auf die eigene Geschichte wird bewusst, dass auch geschichtliche Ereignisse in der Vergangenheit stattgefunden haben. Das Geschichtsbewusstsein erinnert somit „deutend die vergangene Zeit als Horizont der Gegenwart im kommunikativen Akt kultureller und sozialer Spannungsgefüge.“18
Das Geschichtsbewusstsein ist, auf das Individuum bezogen, eine individuelle mentale Struktur, die durch ein System zusammenhängender Kategorien gekennzeichnet ist.19 Die Einteilung in Kategorien ist für das Verständnis von besonderer Bedeutung. Nach Hans- Jürgen Pandel besteht das Geschichtsbewusstsein aus sieben aufeinander verweisende Doppelkategorien. Neben dem Modell von Pandel existieren auch noch weitere Modelle zum Geschichtsbewusstsein. Diese ähneln sich zwar, weisen aber auch einige Unterschiede auf. Die weiteren Modelle sollen aber in dieser Arbeit nicht weiter thematisiert werden. In den aktuellen geschichtsdidaktischen Diskussionen wird das „Pandel’sche Modell“ von einer breiten Mehrheit akzeptiert und findet auch eine häufige Verwendung in neueren Bucherscheinungen.20
Die folgende Abbildung zeigt eine schematische Darstellung des Geschichtsbewusstseins nach Pandel:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Aufbau des Geschichtsbewusstseins21
Das Geschichtsbewusstsein wird in insgesamt sieben unterschiedliche Dimensionen unterteilt. Die ersten drei, das Temporalbewusstsein, das Wirklichkeitsbewusstsein und das Historizitätsbewusstsein zählen zu den Dimensionen der Geschichtlichkeit. Diese bilden das Fundament des Geschichtsbewusstseins. Die weiteren vier Dimensionen, das Identitätsbewusstsein, das politische Bewusstsein, das ökonomisch-soziale Bewusstsein und das moralische Bewusstsein zählen zu den Dimensionen der Gesellschaftlichkeit. Mit diesen wird der Bezug zum Leben der Menschen aus vergangenen Zeiten hergestellt. Alle Dimensionen bilden für sich Kategorien aus, durch die sie grundlegend definiert werden. Das Modell erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für Klaus Bergmann besteht das Geschichtsbewusstsein aus mindestens acht miteinander sich verbindenden und vernetzten Doppelkategorien, die eine Erschließung von Zeit und Gesellschaft ermöglichen.22 Neben den sieben Dimensionen von Pandel nennt Bergmann noch die Dimension des Geschlechtsbewusstseins mit den Kategorien männlich - weiblich. Ebenfalls eine weitere Dimension nennt Peter Gautschi. Für ihn ist das Raumbewusstsein, also der Umgang mit räumlichen Vorstellungen, ebenfalls von großer Bedeutung23 (vgl. Kapitel 2.2.3 für die Erweiterungen des Modells).
Doch wie kann das Modell des Geschichtsbewusstseins für die Grundschule handhabbar gemacht werden? Für Reeken ist das Geschichtsbewusstsein ein Produkt alltagsweltlicher Erfahrungen, welches einem kontinuierlichen Wandel unterworfen ist. Es wird vom Kindesalter an bis ins hohe Erwachsenenalter ständig erweitert und ausgebaut.24 Es handelt sich aber nicht um eine bloße Ansammlung von Wissen, sondern besitzt auch eine emotionale Komponente, denn mit historischen Ereignissen und Personen werden oft auch positive und negative Gefühle in Verbindung gebracht.25 Letztlich hat das Modell des Geschichtsbewusstseins auch einen unschätzbaren Wert für die Lehrperson. Denn das Modell kann als Frageraster für die Ideenfindung historischer Themen herangezogen werden. Aus den Stoffen und Themen, die zur Verfügung stehen, können interessante, vielseitige und inhaltlich wie methodisch gehaltvolle Fragen- und Aufgabenstellungen entwickelt werden, die den Kindern mehr vermitteln als deklaratives „Lexikonwissen“ oder einen rein spielerischen Zugang.26 Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und das Modell auch für das Finden von Lernzielen heranziehen. Mithilfe der einzelnen Kategorien und den didaktischen Aufgaben, die beschrieben werden, können sehr zielgerichtete Lernziele entworfen werden. Um das Geschichtsbewusstsein optimal in der Grundschule fördern zu können, ist ein gewisses „Know-How“ auf Seiten der Lehrkräfte nötig. Werden geschichtliche Themen für die Grundschule auf die oben genannten Kategorien hin überprüft, so kann schnell festgestellt werden, welche Dimensionen bereits abgedeckt sind. Die Verbundenheit der Kategorien darf dabei nicht aus dem Blickfeld geraten. Daher erscheint es fast unmöglich (und auch nicht sinnvoll!), nur einzelne Dimensionen bewusst zu fördern und andere auszusparen. Auf der anderen Seite sollte aber auch nicht versucht werden, alle Dimensionen zwanghaft in einem Thema unterzubringen. Nach und nach sollte man als Lehrer bzw. Lehrerin ein Gefühl dafür entwickeln, das Geschichtsbewusstsein möglichst optimal fördern zu können.
Der generelle Wert der Pandel’schen Strukturierung liegt sicherlich darin, das Geschichtsbewusstsein als vernetzte, mentale Struktur bewusst zu halten.27 Darin liegt der größte Wert des Modells. Es ist leicht verständlich, auf die wesentlichen Punkte reduziert und bildet somit ein gutes Fundament, auf dem das historische Lernen aufbauen kann.
2.2.1 Dimensionen der Geschichtlichkeit
In diesem Abschnitt werden die drei Dimensionen der Geschichtlichkeit nach Hans-Jürgen Pandels Modell des Geschichtsbewusstseins vorgestellt. Neben der allgemeinen Vorstellung der Dimensionen werden auch einige Umsetzungsmöglichkeiten in Bezug auf die Mittelalterwerkstatt genannt, um das Modell gleichzeitig aus einer praktischen Perspektive heraus betrachten zu können.
1. Temporalbewusstsein
„Was ist also ,Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, daß es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre.“28 Dieses Zitat stammt von Aurelius, einem römischen Redner und Politiker aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Es verdeutlicht den Kern des Zeitbewusstseins, nämlich den Zusammenhang der drei Zeitdimensionen. Weiter schreibt Aurelius: „Zeiten ,sind‘ drei: eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem.“29 Die Gegenwart von Vergangenem bezeichnet er als Erinnerung, die Gegenwart von Gegenwärtigem als Augenschein sowie die Gegenwart von Künftigem als Erwartung.30 Diese Definition von Aurelius, die mittlerweile über 2000 Jahre alt ist, hat auch noch heute Bestand und lässt sich somit auf die Dimension des Zeitbewusstseins übertragen Nach Pandel handelt es sich beim Zeitbewusstsein um eine grundlegende Kategorie, um die verschiedenen Zeitmodi Vergangenheit-Gegenwart- Zukunft sowie gestern-heute-morgen voneinander unterscheiden zu können.31 Auf der Ebene der Sprache drückt sich das Zeitbewusstsein in der Fähigkeit aus, Ereignisse mit den Begriffen gestern, heute und morgen zu 32 versehen.
Auch Bergmann versteht unter dem Begriff des Zeitbewusstseins das Vermögen, früher von heute und morgen und Vergangenheit von Gegenwart und Zukunft unterscheiden zu können.33 Im Grunde laufen alle Definitionen auf dasselbe hinaus: Es geht um die Orientierungsfähigkeit, also das Zurechtfinden in den drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
In Bezug auf das Zeitbewusstsein im Sinne des Geschichtsbewusstseins ist es wichtig, die physikalische von der historischen Zeit zu unterscheiden. Denn nur Letztere ist Gegenstand des Zeitbewusstseins.34 Die Messung von Zeit (-spannen) sowie die Einteilung der Zeit ist dabei nicht entscheidend. Es geht einzig um den Zusammenhang von Zeit und historischen Ereignissen. In den meisten Kulturen dominieren jedoch die zyklischen und linearen Zeitvorstellungen. Die Uhr, der Kalender sowie die Jahreszeiten als periodische Wiederholungen haben alle Kulturen gemein.35 Doch in Bezug auf das historische Zeitbewusstsein ist es nicht unproblematisch, dieses über das Erlernen und die Kenntnis der physikalischen und biologischen Zeit fördern zu wollen.36 Dagegen sprechen mehrere Argumente: Die physikalische Zeit an sich ist zunächst inhaltsleer und unterscheidet sich damit grundlegend von der Historischen. Bei der biologischen Zeit handelt es sich um wiederkehrende Kreisläufe der Jahreszeiten. Erst die Ereignisse in der Zeit, also deren Inhalte, machen Aussagen über die Zeit und diese damit wichtig und gehaltvoll.37 Im Gegensatz zur physikalischen und biologischen Zeit wiederholen sich die geschichtlichen Ereignisse nicht. Daher ist es auch nicht möglich, obwohl oft behauptet, aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen. Geschichtliche Ereignisse wiederholen sich niemals 1:1, da es sehr viele Faktoren gibt, die für den Verlauf von geschichtlichen Ereignissen verantwortlich sind.
Innerhalb der Dimensionen des Geschichtsbewusstseins nimmt das Zeitbewusstsein eine Schlüsselkategorie ein.38 Es zeigt sich in den kognitiven Handlungen der Kinder, wie weit ihre Vorstellungen in die Vergangenheit zurückreichen, wie diese strukturiert sind und wie weit sich ihre Wünsche in die Zukunft erstrecken.39 Das Zeitbewusstsein ist für mich die wichtigste Kategorie des Geschichtsbewusstseins, auf der alle weiteren Kategorien aufbauen. Erst in Verbindung mit den anderen Kategorien hat das Zeitbewusstsein für das Lernen von Geschichte einen Wert.40 In Bezug auf das Wirklichkeitsbewusstsein müssen die Ereignisse zunächst zeitlich eingeordnet werden, um ihren Wahrheitsgehalt bestimmen zu können. Zudem ist die Vorstellung von zeitlicher Entfernung als Ausgangspunkt für das Verstehen von Andersartigkeit und Fremdheit beim Verständnis des Historizitätsbewusstseins wichtig.41 „So bildet historisches Zeitbewusstsein die Voraussetzung für die Lokalisation, Umgrenzung und Durchdringung der gedanklich konstruierten und narrativ verfassten Vergangenheit.“42 Das Zeitbewusstsein steht auch in enger Verbindung mit dem moralischen Bewusstsein.43 Denn Perspektivübernahme und Empathie, bezogen auf Personen und Handlungen vergangener Zeiten, bedürfen einem gut ausgeprägten Zeitbewusstsein, um sich in angemessener Form in die Menschen hineinzuversetzen und ihre Handlungen angemessen bewerten zu können.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Zusammenhang des Zeitbewusstseins mit der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Diese beiden Punkte hängen eng miteinander zusammen.44 Das Zeitbewusstsein kann als Gradmesser für den Stand der Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes herangezogen werden. Das Zeitbewusstsein reagiert wie ein Seismograph auf Störungen der Persönlichkeitsentwicklung.45 Es wird angenommen, dass das Zeitbewusstsein direkt beeinflusst werden kann und daraus unterschiedliche Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung resultieren können.46 Kindern mit Schwächen in der Persönlichkeitsentwicklung kann somit durch eine gezielte Förderung des Geschichtsbewusstseins, speziell des Zeitbewusstseins, geholfen werden.
Im Folgenden sollen einige Vorschläge gemacht werden, mit denen das Zeitbewusstsein in der Grundschule am Thema des Mittelalters gefördert werden kann. Eine geeignete Methode besteht in der Anfertigung einer Zeitleiste. Das grafische Veranschaulichen von Ereignissen trägt bei den Kindern dazu bei, den Verlauf der Geschichte sichtbar vor Augen zu haben. Die Zeitleiste hat eine Orientierungsfunktion und die Kinder können im Verlauf des Unterrichts immer wieder darauf zurückgreifen. Die folgende Abbildung zeigt eine mögliche Zeitleiste für das Mittelalter:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Zeitleiste Mittelalter
Die Zeitleiste sollte in einem angemessenen Maßstab angefertigt werden, um den Überblick zu erhöhen. Für ein Jahrhundert sollten daher mindestens 10 cm, besser 20 cm verwendet werden. Um das Mittelalter angemessen darzustellen, ist es sinnvoll, zwei Zeitleisten in verschiedenen Maßstäben zu erstellen. Auf einer ersten Überblickszeitleiste, die von der Zeit der Pyramiden 3000 v. Chr. bis in das heutige Jahr 2010 reicht, werden die wichtigsten Epochen und Ereignisse eingetragen. Dazu zählen beispielsweise die Zeit der Pharaonen und Pyramiden in Ägypten, die Geburt Jesu, die Zeit der Römer, das Mittelalter vom Jahr 500 bis 1500, daran anschließend die Neuzeit, beispielsweise mit der Erfindung des Buchdrucks, der Eisenbahn, des Flugzeugs, des Computers, usw. Diese hier genannten Ideen sind nur einige Beispiele, die verwendet werden können. Wichtig ist es, das Wissen der Kinder mit einzubeziehen. Denn diese wissen oft mehr als man ihnen in diesem Alter zutraut.
Auf der zweiten Zeitleiste wird das Zeitalter des Mittelalters näher veranschaulicht. Dafür kann ein kleinerer Maßstab gewählt werden, um den Überblick über die zu behandelnde Epoche zu erhöhen. Ereignisse des Mittelalters sind beispielsweise die Zeit der ersten Städtegründungen, der Beginn der Seefahrt, die Zeit der Ritter und Burgen oder Kolumbus Entdeckung von Amerika.
Mit Hilfe dieser Zeitleisten können die Kinder die Epoche des Mittelalters besser einordnen. Bildlich sehen sie, was davor war und was danach kam. Zudem können durch die genannten Ereignisse auch Anregungen gesammelt werden, die später in einer Werkstatt zum Mittelalter als Thema umgesetzt werden können.
2. Wirklichkeitsbewusstsein
Das Wirklichkeitsbewusstsein, oft auch als Realitätsbewusstsein bezeichnet, bildet die zweite Dimension der Geschichtlichkeit. Im Mittelpunkt steht die Fähigkeit, zwischen realen und fiktiven Personen, Handlungen und Ereignissen in zeitlicher Perspektive unterscheiden zu können.47 Das Wirklichkeitsbewusstsein zieht also eine Grenze zwischen realer und fiktiver Welt, und zwar im Bewusstsein jedes Einzelnen. Wo genau aber diese Grenze gezogen wird, ist bei jedem unterschiedlich.48 Mit Hilfe der Kategorien real - fiktiv bzw. wahr - unwahr sollen die Kinder lernen, wirklich stattgefundene Ereignisse, Personen und Handlungen von Erfundenen zu unterscheiden.
Das Erlernen dieser Fähigkeit ist für Kinder im Grundschulalter eine große Herausforderung. Zunächst gehen die Kinder von der Realität von Personen und Handlungen aus und lernen erst mit der Zeit, Existenzvorbehalte zu machen.49 Dazu gehören beispielsweise Geschichten und Märchen wie die vom Weihnachtsmann, vom Rotkäppchen oder von Asterix und Obelix. Eine Schwierigkeit ergibt sich aber bei historischen Personen und Situationen. Diese sind nämlich nicht „nicht existent“, sondern nur gegenwärtig „nicht mehr“ existent.50 Eben diese geschichtlichen Personen und Ereignisse können nicht mehr direkt wahrgenommen und erfahren werden.
Für den Bereich der Geschichte ist das Wirklichkeitsbewusstsein von sehr großer Bedeutung, eben weil die Personen und Handlungen heute nicht mehr existieren. Es geht um die Rekonstruktion von Vergangenheit. Im Mittelpunkt darf deshalb nicht die Imagination stehen.51
Für das Verständnis des Wirklichkeitsbewusstseins sind bestimmte Abstraktionsprozesse notwendig, die in der Grundschule mit zunehmendem Alter erst erworben werden müssen. Die Existenz bzw. Nichtexistenz von historischen Figuren bereitet aber auch noch älteren Schülern und sogar Studenten Probleme.52 Legenden, Mythen und Märchen tragen sicherlich einen Teil dazu bei. Deshalb ist ein ausgeprägtes Wirklichkeitsbewusstsein nötig, um Legenden, Mythen, Märchen, Lügen und Vorurteile zu erkennen und angemessen darauf reagieren zu können.53 Das Wirklichkeitsbewusstsein darf daher nicht auf die real-historische Seite reduziert werden. Die Mythen und Legenden gehören unweigerlich dazu, wie wir selbst aus unserer alltäglichen Erfahrung wissen.54
[...]
1 Reeken (2009), S. 5.
2 Vgl. ebenda.
3 Weyrauch (1985), S. 85.
4 Bergmann, Rohrbach (2001), S. 6.
5 Vgl. Reeken (2009), S. 6.
6 Vgl. Popp (2004), S. 41.
7 Vgl. ebenda.
8 Vgl. Bergmann (2001), S. 6.
9 Vgl. ebenda, S. 17.
10 Vgl. ebenda.
11 Vgl. ebenda, S. 6.
12 Vgl. ebenda, S. 8.
13 Ebenda, S. 8.
14 Létourneau (2001), S. 177.
15 Michalik (2004), S. 17f.
16 Vgl. Pandel (1991), S. 57.
17 Vgl. ebenda.
18 Jeismann (1988), S. 11.
19 Vgl. Pandel (1991), S. 58.
20 In den Büchern und Aufsätzen von Reeken, Bergmann, Popp und Michalik wird das „Pandel’sche Modell“ häufig zitiert.
21 Abbildung entnommen aus: Reeken (2009), S. 9.
22 Vgl. Bergmann (2001), S. 19f.
23 Vgl. Gautschi (2000), S. 14f.
24 Vgl. Reeken (2001), S. 12.
25 Vgl. ebenda.
26 Vgl. Popp (2004), S. 40.
27 Vgl. Schreiber (2004), S. 39.
28 Aurelius Augustinus (1955), S. 629.
29 Ebenda, S. 641ff.
30 Vgl. ebenda, S. 643.
31 Vgl. Pandel (1991), S. 59.
32 Vgl. ebenda, S.60.
33 Vgl. Bergmann (2001), S. 20.
34 Vgl. Reeken (2009), S. 9.
35 Vgl. Schmitt (1998), S. 18.
36 Vgl. Bergmann (2001), S. 21.
37 Vgl. Schmitt (1998), S. 18.
38 Vgl. Beilner (2000), S. 24.
39 Vgl. ebenda.
40 Vgl. Pandel (1991), S. 60.
41 Vgl. Beilner (2000), S. 24.
42 Ebenda. S. 25.
43 Vgl. Bergmann (2001), S. 23.
44 Vgl. ebenda.
45 Vgl. Schmitt (1998), S. 18.
46 Vgl. ebenda.
47 Vgl. Reeken (2009), S. 10.
48 Vgl. Pandel (1991), S. 62.
49 Vgl. ebenda.
50 Vgl. ebenda.
51 Vgl. Reeken (2009), S. 10.
52 Vgl. ebenda.
53 Vgl. Pandel (1996), S. 15-19.
54 Vgl. Pandel (1991), S. 63.
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