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Borderline-Syndrom bei jungen Frauen. Horizontale und vertikale Verhaltensanalysen an einem Fallbeispiel

Title: Borderline-Syndrom bei jungen Frauen. Horizontale und vertikale Verhaltensanalysen an einem Fallbeispiel

Case Study , 2023 , 44 Pages , Grade: 1,0

Autor:in: Niclas Gallwitz (Author)

Psychology - Clinical Psychology, Psychopathology, Prevention
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Ausgangslage der hier vorliegenden Arbeit ist eine Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung anhand des Fallbeispiels der Borderline-Patientin "Frau S.". Dabei soll eine horizontale und vertikale Verhaltensanalyse durchgeführt und beispielhaft dargestellt werden. Ziel dieser Arbeit ist es die Fragestellung, warum insbesondere junge Frauen von der Borderline-Erkrankung betroffen sind, zu beantworten. Dazu werden im Theorieteil zunächst die wichtigsten theoretischen und empirischen Grundlagen erläutert. Es wird herausgearbeitet, was das Borderline-Syndrom genau ist, welche Symptome diese Erkrankung aufweisen kann und welche möglichen Entstehungsursachen vorhanden sind. Weiter wer den allgemeine Prävalenzraten in der Bevölkerung und spezifisch bei jugendlichen Männern und Frauen dargestellt. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden dann Mikro- und Makroanalysen anhand des Falles von Frau S. beispielhaft dargestellt und durchgeführt. Die Einzelfallanalyse beginnt mit einer Makroanalyse, in der die biographischen Lernerfahrungen des Patienten erarbeitet werden. Dabei wird ein Zusammenhang zu dem bio-psycho-sozialen-Krankheitsmodell her gestellt und mögliche disponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren diskutiert, wobei Belastungen bzw. Stressoren und Ressourcen gegenüber gestellt werden. Anschließend an die Makroanalyse wird die Mikroanalyse anhand des SOR(K)C-Modells erläutert. Den Abschluss dieser Arbeit bildet im Diskussionsteil die kritische Reflexion zur Thematik. Dabei werden wichtige Handlungsempfehlungen zur Prävention von Borderline abgeleitet. Die Arbeit schließt mit einem Fazit ab.

Excerpt

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Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

A Einleitung

B Theoretische und empirische Grundlagen

C Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung

D Diskussion

E Ausblick und Fazit

Literaturverzeichnis


Abkürzungsverzeichnis

 

Abbildungsverzeichnis

 

Abbildung 1: Häufigkeit von psychischen und Verhaltensstörungen unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Jahr 2020 (Quelle: DAK – Kinder- und Jugendreport (2021), S. 65)

Abbildung 2: Falldauer der Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Störungen in Deutschland nach Diagnose und Geschlecht im Jahr 2020 (Quelle: BKK Gesundheitsreport (2021), S. 105)

Abbildung 3: Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen bei Frauen nach Alter in Deutschland in den Jahren 2020 bis 2022 (Quelle: DAK – Gesundheitsreport (2023), S. 21)

Abbildung 4: Bio-Psycho-Soziales Modell (Quelle: https://www.uni-augsburg.de/de/fa-kultaet/med/profs/medpsych/lehre/schwerpunkte-lehre/bps/)

Abbildung 5: Entstehungsmodell der BPS (Quelle: Bohus & Reicherzer, 2012)

Abbildung 6: Allgemeines heuristisches Modell zur Ätiologie und zum Verlauf psychischer Störungen (Quelle: Mattejat & Quaschner (2013), S. 26)

Abbildung 7: Lebenslinie Stressoren vs. Ressourcen (Quelle: eigene Darstellung)

Abbildung 8: Horizontale Verhaltensanalyse nach dem S-O-R-K-C-Modell (Quelle: Abbruzzese & Kübler, 2013, S. 110, nach Neudeck & Mühling, 2013)

Abbildung 9: Arbeitsblatt einer Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung. (Quelle: Mattejat & Quaschner, 2012, S. 770)

A Einleitung

 

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung oder genauer gesagt die emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typus, wie sie der ICD-10 definiert (F60.31)[1], ist eine schwerwiegende psychische Erkrankung. Häufige Symptome sind Impulsivität, instabile zwischenmenschliche Beziehungen, starke Gefühls- und Stimmungsschwankungen, die zu extremer innerlicher Anspannung führen können, in Zusammenhang mit selbstschädigenden Verhaltensweisen, indem Betroffene sich z.B. an den Armen und Beinen ritzen, um die Anspannung zu verringern.[2] Mehrere Studien zeigen eine stetige Abnahme der Prävalenz mit zunehmendem Alter.[3] Die Mehrzahl der Studien kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Borderline bei jungen Frauen häufiger vorkommt als bei jungen Männern, wobei Frauen häufiger in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung auftreten. Dabei wird die Frage diskutiert, ob Männer lediglich andere Symptome erleben und daher öfter straffällig werden als klinisch auffällig.[4] Zu den möglichen Ursachen für die Borderline-Persönlichkeitsstörung zählen biographische Erfahrungen wie Gewalterfahrungen und sexueller Missbrauch. Allerdings kann eine Borderline-Störung auch ohne diese Erfahrungen vorkommen.[5]

 

Ausgangslage der hier vorliegenden Arbeit ist eine Fallkonzeptualisierung und Therapieplanung anhand des Fallbeispiels der Borderline-Patientin Frau S.[6] Dabei soll eine horizontale und vertikale Verhaltensanalyse durchgeführt und beispielhaft dargestellt werden. Ziel dieser Arbeit ist es die Fragestellung, warum insbesondere junge Frauen von der Borderline-Erkrankung betroffen sind, zu beantworten. Dazu werden im Theorieteil zunächst die wichtigsten theoretischen und empirischen Grundlagen erläutert. Es wird herausgearbeitet, was das Borderline-Syndrom genau ist, welche Symptome diese Erkrankung aufweisen kann und welche möglichen Entstehungsursachen vorhanden sind. Weiter werden allgemeine Prävalenzraten in der Bevölkerung und spezifisch bei jugendlichen Männern und Frauen dargestellt. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden dann Mikro- und Makroanalysen anhand des Falles von Frau S. beispielhaft dargestellt und durchgeführt. Die Einzelfallanalyse beginnt mit einer Makroanalyse, in der die biographischen Lernerfahrungen des Patienten erarbeitet werden. Dabei wird ein Zusammenhang zu dem bio-psycho-sozialen-Krankheitsmodell hergestellt und mögliche disponierende, auslösende und aufrechterhaltende Faktoren diskutiert, wobei Belastungen bzw. Stressoren und Ressourcen gegenübergestellt werden. Anschließend an die Makroanalyse wird die Mikroanalyse anhand des SOR(K)C-Modells erläutert. Den Abschluss dieser Arbeit bildet im Diskussionsteil die kritische Reflexion zur Thematik. Dabei werden wichtige Handlungsempfehlungen zur Prävention von Borderline abgeleitet. Die Arbeit schließt mit einem Fazit ab.

 

I Der Fall von Frau S.

 

Die 35-jährige Frau S., jugendliches Äußeres und gemäß ihrer Angaben Mutter eines 2-jährigen Sohnes, kommt auf eigene Initiative in die Beratungsstelle. Sie berichtet im Erstgespräch, dass sie bis vor einigen Monaten eine „toxische Beziehung“ geführt habe. Ihr Exfreund sei alkoholabhängig gewesen. Sie hätten sich oft gestritten, wobei sowohl er als auch sie körperlich aggressiv geworden seien, und es habe während der 2-jährigen Beziehung mehrere Zerwürfnisse gegeben. Sie habe häufig Wutausbrüche gehabt und ihren Exfreund absichtlich eifersüchtig gemacht. Weiterhin habe sie ihren Exfreund mit dessen Bruder betrogen. Nach kurzzeitigen Kontaktabbrüchen habe sie immer wieder Kontakt zu ihm gesucht und gewollt, dass er ihre Situation verstehe. Sie hätten sich immer wieder versöhnt, bis sich die Situation schließlich so zugespitzt habe, dass sie immer öfter darüber nachgedacht habe, nicht mehr leben zu wollen. Nach einem heftigen Streit habe sie schließlich den Kontakt zu ihm bis heute abgebrochen. Seit Ende ihrer Beziehung und dem Auszug gehe es ihr generell etwas besser und sie verspüre wieder mehr Lebensfreude. Insbesondere wenn sie allein daheim sei, leide sie jedoch häufig unter Angstzuständen mit subjektiver Atemnot und einem starken Druckgefühl in der Brust. Sie befürchte, dass ihr Expartner im Rausch plötzlich wieder vor ihrer Tür stehen könnte. Generell sei sie schnell sehr aufgeregt und ständig hoch angespannt „wie unter Strom“, habe einen starken Bewegungsdrang. Wenn der Druck zu groß sei, verletzte sie sich gelegentlich selbst, v.a. durch oberflächliche Schnitte an den Unterarmen oder indem sie ihre Hand gegen die Wand schlage. Gelegentlich „kiffe“ sie auch, um ruhiger zu werden. Um sich abzulenken, putze sie oft die Wohnung oder räume Sachen um. Es helfe ihr manchmal auch laute Musik zu hören und dabei zu tanzen. Sie fühle sich oft ängstlich und allein gelassen, da sie doch „eh nicht liebenswert“ sei. Manchmal fühle sie sich auch nur innerlich „leer“. Sie sei generell sehr chaotisch und es falle ihr manchmal schwer, ihren Alltag zu managen und konzentriert bei einer Sache zu bleiben. Sie sei schnell überfordert, wolle aber alles tun, damit es ihrem Sohn gut gehe. Die Bindung zwischen den beiden sei sehr gut. Gleichzeitig habe sie Probleme damit, Kontrolle abzugeben und sich auf andere zu verlassen, obwohl sie sich eigentlich sehnlichst eine eigene „normale Familie“ wünsche. Sie wolle ihre Ruhe haben und endlich ankommen, sei jedoch mit der letzten Beziehung „mal wieder gescheitert“. Als körperliche Beschwerden nennt Frau S. eine starke Skoliose sowie eine Multiple Sklerose. Zu ihrer Biografie berichtet Frau S., dass sich ihre Eltern kurz nach ihrer Geburt getrennt hätten. An ihren Vater, der ausgezogen sei und den sie nur an Wochenenden gesehen habe, habe sie „viele schöne Erinnerungen“. Seit der Vater während ihrer Jugend eine neue Frau kennengelernt habe, melde er sich jedoch nur noch selten und sie fühle sich oft von ihm im Stich gelassen. Ihre Mutter sei nach Auffassung von Frau S. ebenfalls „Borderlinerin“ und in der Kindheit wenig für sie da gewesen. Als kleines Kind sei sie von der Mutter oft nachts allein zuhause gelassen worden, während ihre Mutter in Kneipen unterwegs war. Häufig sei ihre Mutter betrunken nach Hause gekommen und morgens nicht aus dem Bett gekommen, manchmal habe ihre Mutter auch fremde Männer mit nach Hause gebracht. Ab dem 6. Lebensjahr sei Frau S. bei ihrer Großmutter mütterlicherseits und ihrem Stiefgroßvater aufgewachsen. Ihre Mutter habe sie gelegentlich an Wochenenden gesehen, sich in ihrer Gegenwart jedoch „nie wohl gefühlt“. Ihr Stiefgroßvater habe sie rückblickend „zum Missbrauch herangezogen“, z.B. indem er im Grundschulalter zusammen mit ihr Pornos geschaut habe. Zu sexuellen Übergriffen sei es jedoch nicht gekommen; ihr Stiefgroßvater sei „zum Glück“ früh verstorben. Ihre Großmutter habe sich zwar insgesamt liebevoll um sie gekümmert, aber auch oft „weggeschaut“. Schon im frühen Jugendalter habe sich Frau S. gelegentlich selbst verletzt. Als Jugendliche sei sie oft mit Freunden „draußen“ unterwegs gewesen, habe auch oft gefeiert und Alkohol getrunken. Außer Cannabis habe sie nie andere Drogen konsumiert. Gelegentlich habe sie One-Night-Stands gehabt, obwohl sie die Nähe und den sexuellen Kontakt letztendlich oft kaum habe ertragen können. Ihre Beziehungen seien eher kurz gewesen. Mit 17 Jahren sei sie kurzfristig mit einer Frau zusammen gewesen, habe sich ein Jahr später jedoch wieder Männern zugewandt. Seit ihrem 15. Lebensjahr bis zur Geburt ihres Sohnes habe sie unter Bulimie gelitten. Bis heute trinke sie manchmal Wasser bis zum Erbrechen. Sie fühle sich oft hässlich und wertlos. Als sie 25 Jahre alt gewesen sei, habe sich ihre Mutter suizidiert. Danach hätten sich ihre psychischen Probleme verstärkt und sie sei mehrere Wochen in einer Klinik gewesen. Oft hätten sie Schuldgefühle geplagt, weil sie in den Wochen vor dem Suizid die Kontaktversuche ihrer Mutter abgeblockt habe. Gleichzeitig habe sie sich wütend und allein gelassen gefühlt. Mittlerweile habe sie ihrer Mutter „vergeben“ können. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen habe sie mit Anfang 20 einen Mann kennengelernt, mit dem sie eine längere Beziehung gehabt habe. Die beiden hätten schließlich geheiratet, allerdings sei die Ehe nach nur wenigen Monaten, kurz nach dem Tod der Mutter, wieder geschieden worden. Seit der Trennung von ihrem Ex-Partner vor ein paar Monaten habe sie keine feste Partnerschaft. Sie sei nach der Trennung mit ihrem Sohn in eine Mietwohnung gezogen, in der sie sich generell wohl fühle. Die Wohnung sei jedoch eigentlich zu groß und zu teuer, da sie aktuell ALG-II beziehe. Die Selbstversorgung sei überwiegend gewährleistet; Frau S. werde seit einigen Wochen außerdem von einer Familienhelferin im Alltag begleitet. Sie habe einige gute Freunde („wie meine Familie“), mit ihrer besten Freundin gebe es jedoch auch immer mal wieder Streit. Außerdem werde sie durch ihren Cousin und ihre Patentante unterstützt. Sie habe noch einen acht Jahre älteren Halbbruder, der weiter weg lebe und mit dem sie immer schon kaum Kontakt gehabt habe. Ihre drei Jahre ältere Halbschwester lebe in der Nähe, sie würden sich regelmäßig sehen, hätten aber öfter Streit. Oft habe Frau S. das Gefühl, dass der gemeinsame Vater ihre Schwester und deren Kinder bevorzuge. Zu ihrer Großmutter habe sie nur sporadisch Kontakt; sie habe ihr jedoch ebenfalls „vergeben“. In ihrer Freizeit gehe sie gerne mit ihrem Hund spazieren („meine Therapie“) und wandern. Zu ihrem beruflichen Werdegang gibt Frau S. an, dass sie trotz gelegentlichen Schwierigkeiten in der Schule ihr Fachabitur geschafft habe. Im Anschluss daran habe sie zunächst eine Berufsausbildung als Kauffrau für Dialogmarketing und nach dem Mutterschutz eine weitere Ausbildung als Bürokauffrau gemacht habe. Zuletzt habe sie als Sekretärin in einer Arztpraxis gearbeitet. An ihrem letzten Arbeitsplatz habe sich Frau S. jedoch oft allein und isoliert gefühlt. Für ihre Tätigkeit habe ihr das spezifische (u.a. medizinische) Hintergrundwissen gefehlt. Hier habe sie sich bei einem generell hohen Anspruch an sich selbst viel Druck gemacht. Ansonsten sei sie insgesamt eher unterfordert mit den ihr übertragenen Aufgaben gewesen und habe häufig „Leerlauf“ überbrücken müssen; dies habe bei ihr eher zu Konzentrationsmangel und vermehrten Fehlern geführt. Gedanklich sei sie durch die private Belastungssituation oft abgelenkt gewesen. Der Vertrag sei zum Ende des Vorjahres ausgelaufen und nicht verlängert worden. Derzeit sei sie noch krankgeschrieben. Sie wolle sich nach weiterer Stabilisierung eine Tätigkeit in einem Call-Center suchen. Insgesamt machte Frau S. im Gespräch einen freundlichen, dabei jedoch belasteten, subdepressiven ersten Eindruck. Sie ist mitteilsam, ihre Stimmung schwankt während des Gesprächs zwischen hoffnungsvoll/optimistisch, hilflos-überfordert und wütend.

B Theoretische und empirische Grundlagen

 

I Borderline-Persönlichkeitsstörung

 

Die American Psychiatric Association (2013) definiert die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) als eine psychische Störung, die durch Instabilität in den Bereichen Stimmung, Beziehungen, Selbstbild und Impulskontrolle gekennzeichnet ist.[7] Betroffene haben oft Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren und neigen zu impulsivem und selbstschädigendem Verhalten. Dabei erleben Menschen mit dem Borderline-Syndrom häufig intensive Stimmungsschwankungen, die von extremer Euphorie bis hin zu tiefster Verzweiflung geprägt sind.[8] Siegmund Freud (1856 – 1939) verwendet den Begriff der Borderline-Störung bereits 1925, um Krankheitsbilder zwischen Neurosen und Psychosen zu beschreiben.[9]

 

Der ICD-10 klassifiziert das Borderline-Syndrom als emotional instabile Persönlichkeitsstörung.[10] Neben der Tendenz zu impulsiven Verhalten „ohne Berücksichtigung von Konsequenzen [.], verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter Stimmung“[11], zeichnet sich diese Persönlichkeitsstörung vor allem durch eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und der Unfähigkeit diese zu kontrollieren aus. Betroffene zeigen sich zudem anfällig für zwischenmenschliche Konflikte. Dabei besteht die Neigung zu „streitsüchtigem Verhalten […], insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden.“[12]

 

Der ICD-10 grenzt grundsätzlich zwei verschiedene Erscheinungsformen der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung ab.[13] Der impulsive Typus ist „vorwiegend gekennzeichnet durch emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle“[14], während sich der Borderline-Typus zusätzlich „durch Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen, durch ein chronisches Gefühl von Leere, durch intensive, aber unbeständige Beziehungen und eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen“[15] kennzeichnet.

 

Bohus (2002) gliedert die Symptomatik auf klinischer Ebene grundlegend in die drei Dimensionen Emotionsregulation, Identität und soziale Interaktion.[16] Die Emotionsregulation beschreibt er dabei als die Schwierigkeit von Betroffenen, ihre Emotionen angemessen zu regulieren und mit ihnen umzugehen. Vor allem in der Sensitivität, der Intensivität sowie der Dauer von erlebten Emotionen unterscheiden sich Betroffene laut Bohus stark von „gesunden“ Menschen.[17] Menschen, die unter einer BPS leiden, stehen häufig unter aversiver Anspannung und ausgeprägten Affektschwankungen, die sich vor allem in starkem Ärger, Reizbarkeit, Angst oder Gefühlen der Leere äußern.[18]

 

Die Dimension der Identität umfasst das impulsive Verhalten in verschiedenen Bereichen des Lebens. Dazu gehören riskante sexuelle Beziehungen, Substanzmissbrauch, übermäßiges Essen, Selbstverletzung, Suizidversuche, unkontrollierte Geldausgaben oder rücksichtsloses Fahrverhalten.[19] Dies ist nach Bohus (2002) vor allem auf die „ausgeprägte und andauernde Instabilität […] der Selbstwahrnehmung“[20] zurückzuführen. Menschen mit einer BPS haben demnach oft Schwierigkeiten, ihre eigenen Werte, Ziele, Interessen und Persönlichkeitsmerkmale klar zu definieren. Identitätskrisen und eine uneinheitliche Selbstwahrnehmung sind laut Bohus (2002) dabei häufige Merkmale.

 

Auch die soziale Interaktion ist von gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt.[21] Betroffene der BPS erleben laut Bohus (2002) häufig instabile und schwierige zwischenmenschliche Beziehungen, da sie sich in diesen unsicher fühlen, Angst vor dem Verlassenwerden haben, häufige Konflikte erleben und eine Neigung zu Idealisierung aber auch Entwertung von Bezugspersonen zeigen.[22]

 

II Borderline bei jungen Frauen

 

Schätzungen zufolge beträgt die Prävalenz der Borderline-Störung in der allgemeinen Bevölkerung zwischen 1-2 Prozent. In klinischen Stichproben, die Menschen mit psychischen Störungen untersuchen, sind sogar höhere Prävalenzraten der BPS zu beobachten.[23] Bereits im Kinder- und Jugendalter ist ein erhöhtes Aufkommen zu erkennen. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis einer Querschnittsstudie im Auftrag der DAK zur Häufigkeit von psychischen und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen (0-17 Jahre) in Deutschland im Jahr 2020. Von 1.000 Kindern und Jugendlichen litten in diesem Jahr durchschnittlich 13,5 unter einer Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, unter die auch die Borderline-Störung fällt (ICD-10: F6).[24]

 

 

Abbildung 1: Häufigkeit von psychischen und Verhaltensstörungen unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Jahr 2020 (Quelle: DAK – Kinder- und Jugendreport (2021), S. 65)

 

Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Borderline bei jungen Frauen häufiger vorkommt als bei jungen Männern. Eine Statistik aus dem Jahr 2009 zeigt die ambulanten Diagnoseraten psychischer Störungen bei Studierenden im Alter von 20-34 Jahren in Deutschland. Die Diagnoserate bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen lag in dieser Altersgruppe bei Frauen bei 2,79% und bei Männern bei 1%.[25] Eine weitere Studie des BKK-Dachverbands (Abbildung 2) zeigt die Falldauer der Arbeitsunfähigkeit (AU) aufgrund psychischer Störungen in Deutschland nach Diagnose und Geschlecht im Jahr 2020. In diesem Jahr belief sich bei Frauen die durchschnittliche AU-Falldauer bei einer spezifischen Persönlichkeitsstörung (F60) auf 76,3 AU-Tage. Bei Männern hingegen verzeichnet die Studie keinen einzigen Fall.[26]

 

 

Abbildung 2: Falldauer der Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Störungen in Deutschland nach Diagnose und Geschlecht im Jahr 2020 (Quelle: BKK Gesundheitsreport (2021), S. 105)

 

Abbildung 3 zeigt die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen bei Frauen nach Alter in Deutschland in den Jahren 2020 bis 2022. In allen Altersgruppen ist eine Zunahme der durchschnittlichen AU-Tage zu erkennen.[27]

 

 

Abbildung 3: Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen bei Frauen nach Alter in Deutschland in den Jahren 2020 bis 2022 (Quelle: DAK – Gesundheitsreport (2023), S. 21)

 

III Ätiologie des Borderline-Syndroms

 

Nach Fleischhaker und Schulz (2010) basieren die Ursachen für eine Persönlichkeitsstörung mit dem Borderline-Typus auf einem ätiologischen Modell, das Wechselwirkungen zwischen genetischen und psychosozialen Variablen sowie dysfunktionalen Verhaltens- und Interaktionsmustern beschreibt.[28] Die genauen Ursachen sind allerdings nicht eindeutig geklärt und können daher nicht als kausal angesehen werden.

 

Einige Ursachen lassen sich gemäß dem ätiologischen Modell primär herausstellen. So tragen nach Zimmerman (2021) Belastungen während der frühen Kindheit zur Entwicklung einer BPS bei.[29]

 

„Eine Kindheitsgeschichte mit körperlichem und sexuellem Missbrauch, Vernachlässigung, Trennung von Betreuungspersonen und/oder Verlust eines Elternteils ist bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung häufig. Bestimmte Personen können eine genetische Tendenz zu pathologischen Reaktionen auf Belastungen im Leben haben, und die Borderline-Persönlichkeitsstörung scheint eindeutig eine vererbbare Komponente zu haben. Bei Verwandten ersten Grades von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ist es 5-mal wahrscheinlicher, dass sie die Störung bekommen als die allgemeine Bevölkerung.“[30]

 

Die Multikausalität des Borderline-Syndroms kann mit dem Bio-Psycho-Sozialen-Störungsmodell nach George L. Engel (1913–1999) erklärt werden.[31] Berberich (2014) beschreibt das Modell basierend auf der Systemtheorie, die besagt, dass in einem dynamischen System die komplexeren und größeren Einheiten auf die weniger komplexen und kleineren Einheiten aufbauen. Alle Ebenen sind miteinander verbunden, sodass eine Änderung einer Ebene zu einer Änderung einer anderen Ebene führen kann, insbesondere der direkt benachbarten Ebene. Dasselbe Prinzip lässt sich auf das menschliche System übertragen.[32] Bei der Entstehung einer BPS kann somit von genetisch bedingten Vulnerabilitäten ausgegangen werden, die sich über soziale Vermittlungsprozesse neurobiologisch und psychologisch manifestieren und auf biologische Faktoren zurückwirken.

 

 

Abbildung 4: Bio-Psycho-Soziales Modell (Quelle: https://www.uni-augsburg.de/de/fa-kultaet/med/profs/medpsych/lehre/schwerpunkte-lehre/bps/)

 

Bestimmte Risikofaktoren können dabei die Entwicklung einer BPS begünstigen. Die S3-Leitlinie für die Borderline-Persönlichkeitsstörung fasst dabei biologische, soziale und psychische Risiken zusammen.[33] So werden biologische Risiken beschrieben, die Einschränkungen in exekutiven Funktionen sowie genetische Veranlagungen umfassen.[34] Es wird von einer mittleren bis hohen Erblichkeit der BPS gesprochen, was durch Zwillingsstudien unterstützt wird. Zudem liegen Einschränkungen in neuropsychologischen Bereichen wie Emotionsregulation, exekutiven Funktionen und sozialen Kognitionen vor.[35]

 

Weiter zählt die S3-Leitlinie soziale Risiken wie dysfunktionale Eltern-Kind-Beziehungen, die von „negativen Beziehungen, geringer Fürsorge bei gleichzeitiger Überprotektion und inkonsistentem Erziehungsverhalten“ geprägt sind, auf.[36] Bei weiblichen Kindern kann dabei eine „beeinträchtigte mütterliche Bindung […]“ und eine „erhöhte Neigung zu [sogenanntem] novelty seeking“ festgestellt werden.[37] Kindesmisshandlung, dysfunktionales Elternverhalten und mangelnde elterliche Sensitivität sowie niedrige elterliche Mentalisierung zählt die S3-Leitlinie ebenfalls als ein Risiko auf.[38] Auch Erfahrungen von Missbrauch (sexuell, physisch, verbal), Vernachlässigung und mütterlicher Feindseligkeit sowie Mobbingerfahrungen in der Kindheit und Jugend können dabei das Risiko einer BPS erhöhen.[39]

 

Die psychischen Risiken beschreibt die S3-Leitlinie wie folgt: „Die umschriebenen biologischen und sozialen Risiken werden in Verbindung gebracht mit psychischen Einschränkungen im Persönlichkeitsfunktionsniveau, d.h. BPS-Betroffene können unter den bio-sozialen Rahmenbedingungen spezifische Fertigkeiten wie z. B. Selbststeuerung, Affektregulation, soziale Kognitionen, Mentalisierung und/ oder ihre Identität nur eingeschränkt entwickeln. Sie entwickeln maladaptive Schemata über sich und andere bzw. unsichere/desorganisierte Bindungsrepräsentationen, die sie in sozialen Beziehungen einschränken.“[40]

 

 

Abbildung 5: Entstehungsmodell der BPS (Quelle: Bohus & Reicherzer, 2012)

 

IV Diagnostik und Therapie

Um eine Diagnose stellen zu können, müssen gemäß dem ICD-10 verschiedene Kriterien erfüllt sein. Wie bereits erwähnt, fasst der ICD-10 die BPS unter der Kategorie der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung, die in die zwei Unterkategorien Impulsiver-Typus (F60.30) und Borderline-Typus (F60.31) differenziert ist.[41] Zunächst müssen die allgemeinen Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung (F60) erfüllt sein.[42] Gemäß dem ICD-10 werden Persönlichkeitsstörungen (F60) durch eine „tief verwurzelte und dauerhafte Abweichung im Denken, in der Wahrnehmung, in der Beziehung zu anderen Menschen und in der Kontrolle der Affekte und Impulse“[43] gekennzeichnet. Weiter müssen mindestens drei der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen, darunter 2.:[44]

 

1.      Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln,

2.      Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden,

3.      Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens,

4.      Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden,

5.      Unbeständige und launische Stimmung

 

Sind mindestens drei der genannten Voraussetzungen erfüllt, müssen laut der S3-Leitlinie (2022) zusätzlich mindestens zwei der folgenden Eigenschaften und Verhaltensweisen vorliegen:

 

1.      Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild, Zielen und „inneren Präferenzen“ (einschließlich sexueller),

2.      Neigung, sich in intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen,

3.      übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden,

4.      wiederholt Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung,

5.      anhaltende Gefühle von Leere.

 

Die Behandlung einer BPS erfolgt in der Regel mit Psychotherapie und Medikamenten. Ziel dabei ist es suizidales Verhalten zu verringern, Depression zu lindern und die Funktion bei Betroffenen zu verbessern.[45] Eine rein medikamentöse Therapie existiert laut Zimmerman (2021) nicht. Allerdings gibt es Medikamente, die stabilisierend und unterstützend eingesetzt werden können.

 

Die gängigste kognitive Therapieform stellt die Dialektisch behaviorale Therapie (DBT) dar, welche auf die emotionale Fehlregulation und den Mangel an sozialen Fähigkeiten abzielt.[46] Entwickelt wurde diese von der Psychologin Marsha M. Linehan. Jaguschewski und Zimmer (2020) erklären, dass die DBT auf dem dialektischen Prinzip der Synthese von Gegensätzen basiert und eine Kombination aus Fertigkeitstraining (sogenannten Skills), kognitiver Umstrukturierung, psychodynamischen Ansätzen, spirituellen Elementen und meditativen Techniken beinhaltet. Die Therapie wird sowohl in Form der Gruppentherapie als auch der Einzeltherapie angewandt, wobei die Auseinandersetzung in der Gruppentherapie maßgeblich ist, und durch Einzeltherapie ergänzt wird.[47]

 

Eine weitere Behandlungsmethode ist die Schematherapie (SFT). Diese geht von der Annahme aus, dass aufgrund ungünstiger Kindheitserlebnisse früh entstandene Schemata die Hauptursache für die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen darstellen. Diese Schemata liegen auf einer tiefen, dem Bewusstsein schwer zugänglichen Ebene und sind stark mit negativen Gefühlen verbunden. Es wird vermutet, dass Borderline-Patienten zwischen fünf unterschiedlichen Schemata wechseln. Das Ziel der SFT ist es, die unbewussten Schemata zu verändern, sodass Betroffene wie „gesunde“ Erwachsene agieren können.[48]

 

Nachdem die theoretischen Grundlagen dargestellt wurden, werden im Folgenden Kapitel eine horizontale- sowie vertikale Verhaltensanalyse anhand des zuvor geschilderten Fallbeispiels von Frau S. dargestellt und durchgeführt sowie eine Therapieplanung anhand der dargestellten Theorie erläutert.

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Details

Title
Borderline-Syndrom bei jungen Frauen. Horizontale und vertikale Verhaltensanalysen an einem Fallbeispiel
College
SRH - Mobile University
Course
Horizontale und vertikale Verhaltensanalysen
Grade
1,0
Author
Niclas Gallwitz (Author)
Publication Year
2023
Pages
44
Catalog Number
V1590585
ISBN (eBook)
9783389138977
ISBN (Book)
9783389138984
Language
German
Tags
psychologie klinische psychologie horizontale verhaltensanalyse vertikale verhaltensanalyse verhaltensanalyse borderline-persönlichkeitsstörung bps borderline-syndrom diagnostik therapie problemanalyse fallkonzeptualisierung therapieplanung biografische anamnese konditionierung Mikoranalsye Makroanalyse SORKC-Modell Einzelfallanalyse bio-psycho-soziales-Krankheitsmodell
Product Safety
GRIN Publishing GmbH
Quote paper
Niclas Gallwitz (Author), 2023, Borderline-Syndrom bei jungen Frauen. Horizontale und vertikale Verhaltensanalysen an einem Fallbeispiel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1590585
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