Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Jean-Jacques Rousseau und die Kindheit
1.1 Sein Einfluss auf die Wahrnehmung von Kindheit
1.2 Sein Menschenbild
1.3 Seine Verständnis von Kindheit und Erziehung
2... Drei Erklärungsansätze zur Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert
2.1 SozialerAnsatz
2.2 Psychogenetischer Ansatz
2.3 Technologischer Ansatz
3. Kritik und Zusammenfassung
Schlussbemerkung
Verwendete Literatur
Einleitung
Steht man vor einer Frage, deren Antwort komplizierter wird, je mehr man sich um sie bemüht, so beginnt man wohl am besten am Ursprung. Im vergangenen Proseminar zum Thema „Kinderkultur im 19. und 20. Jahrhundert“ schwebte immer wieder die Frage durch den Raum, ob es eine spezielle Kultur eigens für Kinder oder eine Kultur der Kinder überhaupt gäbe. Ohne diese Frage im Umfang dieser Arbeit beantworten zu können, soll zumindest festgestellt werden, wann man denn angefangen haben könnte, sich diese Frage zu stellen. In der vorliegenden Arbeit wird der Formulierung „Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert“ auf den Grund gegangen. Das erzwingt eine Auseinandersetzung mit der Position der meinungsführenden Gesellschaftsschicht zu der Zeit, des Bürgertums. Stellvertretend für die bürgerliche Meinung bezüglich Kindheit und Erziehung wurde dafür Jean-Jacques Rousseaus Roman Émile ou De l'éducation aus dem Jahre 1762 bearbeitet, da er sehr schnell zum damaligen Paradigma des modernen Kindheitsbewusstseins werden sollte.
Im Anschluss an die Analyse von Rousseaus einflussreichen Ansichten findet sich eine Darstellung dreier Kindheitstheorien. Mit Philippe Ariès’ bis heute bedeutsamerAbhandlung über die Entdeckung der Kindheit, von Lloyd deMauses historischem Entwicklungsmodell und Neil Postmans Ansatz einer technologischen Revolution werden drei höchst unterschiedliche Lehrmeinungen vorgestellt. Das abschließende Kapitel trägt zwei Absichten mit sich: Erstens soll kurz auf die angeführten drei Theorien in einer Weise eingegangen werden, wie dies vorher aus einer argumentativen Logik heraus nicht möglich war. Zweitens baut dieses Kapitel auch abseits der vorgestellten Erklärungen eine eigene Beweisführung auf, die der eingangs gestellten Aufgabe, der Formulierung „Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert“ auf den Grund zu gehen, ein Ergebnis entgegenstellen soll.
Hauptsächliche Verwendung für diese Arbeit fanden die Hauptwerke der Herren Rousseau, Ariès, deMause und Postman, an die sich eng gehalten wurde sowie das Buch von Frau Ingeborg Weber-Kellermann, das in Ergänzung mit Karl Neumanns Aufsatz im Handbuch der Kindheitsforschung vieles erhellen konnte, was in den erstgenannten Werken unklar oder nicht weiter behandelt blieb.
1. Jean-Jacques Rousseau und die Kindheit
1.1 Sein Einfluss aufdie Wahrnehmung von Kindheit
Das Ansehen als herausragender Denker des französischen Reichs hatte sich Rousseau bereits zu seinen Lebzeiten erarbeitet. Seine Redekunst, die „zwei [...] fast konträre Tugenden in hoher Meisterschaft zu verbinden weiß: die pointierende Schärfe - Rousseau brilliert mit geschliffenem Paradox - und den großen Atem der Rhetorik1 war Rousseau, einem Mann mit universellem wissenschaftlichen Interesse, ein ideales Werkzeug, um sich einen hohen Bekanntheitsgrad und großen Respekt zu verschaffen2.
Für das Gebiet der Pädagogik machte sich Rousseau vor allem mit seinem Werk Emile ou De l'éducation (1762) verdient. Neil Postman erkennt hier im Wesentlichen zwei Aspekte, die zur modernen Kindheitswahrnehmung hingeführt haben: Zum einen hält er die Hervorhebung der Individualität jedes Kindes für die hauptsächliche Leistung Rousseaus. Denn wie der Umgang mit Kindern bis weit ins 18. Jahrhundert hinein zeigt, schien die Idee von einer eigenen Persönlichkeit bei Kindern nicht besonders verbreitet gewesen zu sein. Erst mit derAnerkennung der Individualität des Kindes war auch ein mitfühlender Umgang und überhaupt ein neues erzieherisches Klima möglich.3 Zum anderen hebt Rousseau die kindliche Nähe zum menschlichen Naturzustand hervor, auf den im folgenden Abschnitt eingegangen wird. Diesem Naturzustand sei der Mensch im Kindesalter am nächsten, weil die gesellschaftlichen Einflüsse noch nicht wirken konnten. Das ist nun nicht nur von anthropologischem Interesse, sondern hat entscheidende Wirkung aufdie pädagogischen Ansichten seit Rousseau.4
Zahlreiche Pädagogen bezeichneten sich später, manche mehr, manche weniger, als Rousseauisten. Im deutschen Raum müssen hier Johann Bernhard Basedow, Johann Heinrich Pestalozzi und Joachim Heinrich Campe genannt werden, die das hiesige Bildungswesen entscheidend beeinflusst haben. Sie standen für religionsunabhängige Bildung, Toleranz und bürgerliches Nützlichkeitsdenken genauso wie für das Vertrauen in die menschliche Natur, woraus eine eher anleitende Lehrmethode nach dem Rousseau- schen Vorbild entsprang.5
1.2 Sein Menschenbild
In seinen Werken Discours sur les sciences et les arts (1750), Du contrat social (1762) und, für diese Arbeit von besonderer Bedeutung, Emile entwirft Rousseau einen ursprünglichen Naturzustand des Menschen. Vor Eintritt in die Gesellschaft ist der Mensch frei, unabhängig und es herrscht absolute Gleichheit. Er fühlt Selbstliebe genauso wie Mitleid und kennt von Natur aus nicht den Unterschied zwischen Gut und Böse. Ohne soziale Beziehungen oder Privateigentum bestimmt vor allem der Selbsterhaltungstrieb das Leben des Menschen. Erst der Eintritt in die Gesellschaft bzw. der Schluss des Gesellschaftsvertrages als theoriephilosophisches Konstrukt beendet diesen Zustand. Der Mensch entscheidet sich mit der Gründung einer Gemeinschaft gegen die bisherige individuelle Freiheit und für eine neue Ungleichheit. Rousseau zufolge korrumpiert er sich damit und unterwirft sich dem Gemeinwillen.6
Während Aristoteles gerade die Soziabilität des Menschen als das erkannte, was ihn erst zum Menschen machte, hielt Rousseau den Menschen für selbstsüchtig, ohne dies aber negativ zu besetzen. Bei ihm ist im Gegenteil gerade die Sozialität das Grundübel, das mit der nicht gemiedenen Ungleichheit zwischen den Menschen ins Unheil führt. Das von Rousseau gezeichnete Bild ist ganz offensichtlich nicht gerade fortschrittsoptimistisch zu nennen. Dies muss beachtet werden, wenn man sich mit seinen Auffassungen über die korrekte Kindererziehung auseinandersetzt.7
1.3 Seine Verständnis von Kindheit und Erziehung
Pädagogische Ratgeber gab es bereits früh. Zu erinnern sei nur an die frühen Sammlungen von Benimmregeln aus dem 15. und 16. Jahrhundert, beispielsweise von Erasmus von Rotterdam, die den Anfang dieser Art von Literatur darstellen. Aber Emile ist das erste Werk, in dem die seelische Entwicklung eines (fiktiven) Kindes im Mittelpunkt steht.8 Indem Rousseau hier die Position eines Erziehers annimmt, der sich um die Ausbildung eines imaginären Schülers namens Emile kümmert und seinen Werdegang bis zum 25. Lebensjahr verfolgt, legt er Erziehungsmaximen mit der Zielsetzung vor, „daß man überall da, wo Menschen geboren werden, aus ihnen macht, was ich vorzuschlagen habe, und daß, wenn dies geschehen ist, das Beste für sie selbst und andere daraus geworden ist,“9
Wie bereits gesagt, dachte Rousseau von der zivilisierten Gesellschaft, sie verderbe den Menschen. Aus diesem Glauben heraus stand für ihn fest, dass man sich als Erzieher mit dem Naturzustand auseinandersetzen müsse, um die Eigenschaften, die den Menschen ausmachen, nicht zu zerstören. Das bedeutet, dass die von Rousseau genannten pädagogischen Effekte der Bildung, der Selbstbeherrschung und der Scham eingedämmt werden müssten um die kindlichen Eigenschaften (angeführt werden: Spontaneität, Verständnis, Lauterkeit, Neugierde, Heiterkeit und Stärke (damit ist gemeint: sich selbst genug zu sein)) möglichst zu erhalten.10
„Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendiger Weise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen,“11
Es ging Rousseau also darum, die weltlichen, oder gesellschaftlichen Einflüsse auf den heranwachsenden Menschen gering zu halten, um eine möglichst natürliche Entwicklung zu gewährleisten. Das Kind solle aus eigener Kraft zu leben lernen. Natürlich sollte aus seinem Emile kein Caspar Hauser werden. Es dreht sich in diesem pädagogischen Ansatz vor allem um die anfängliche Lebensphase, derer es insgesamt, dem Gang der Natur folgend, vier gäbe, wie aus dem ursprünglichen Manuskript Rousseaus für den Emile hervorgeht: das Alter der Natur, das der Vernunft, das der Stärke und das Alter der Weisheit.12 Das sei dann erreicht, wenn man erkannt hat, dass jede menschliche Bindung in der Gesellschaft von Zerbrechlichkeit bedroht ist. Weisheit bedeutet also bei Rousseau Misstrauen gegenüber allen Mitmenschen oder, böse gesagt, die ständige Angst, enttäuscht zu werden. Der Hintergrund ist allerdings ein anderer. Nicht Angst
[...]
1 Rousseau 1963, S. 6.
2 vgl. Rousseau 1963, S. 5ff.
3 vgl. Postman 1987, S. 71; Neumann 1993, S. 192ff.
4 vgl. Postman 1987, S. 69ff..
5 vgl. Brockhaus 2006, Bde. 3, 5, 21.
6 vgl. Schmidt 2000, S. 91ff.
7 ders.
8 vgl. Rousseau 1963, S. 70.
9 Rousseau 1963, S. 104f.
10 vgl. Postman 1987, S. 23.
11 Rousseau 1993, S. 118.
12 vgl. Rousseau 1963, S. 70f.
- Arbeit zitieren
- Florian Schippmann (Autor:in), 2008, Die Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159260
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