Die Identitätsfindung und kollektive Gewalt jugendlicher Migranten in Paris und Berlin

Wie es zu den Ausschreitungen in Paris 2005 kam und warum es in Berlin vergleichsweise ruhig ist


Masterarbeit, 2009

82 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

I. Einleitung

II. Die urbanen Ausschreitungen in Paris und Krawalle in Berlin

III. Definitionen und Konzepte der Jugendgewalt

IV. Nationales Selbstverstandnis und Einwanderungspolitik in Frankreich und Deutschland

V. Die Konstruktion der Selbst- und Kollektividentitat im Zusammenhang mit der Fremdheit, dem stadtischen Raum und der Staatsangehorigkeit
V.1. Zwischen Identitat und Alteritat - Exklusion und Inklusion
V.2. Die Medien und Stigmatisierung
V.3. Die kollektive Wahrnehmung der Andersartigkeit
V.4. Identitatsspannungen zwischen der Einheimischen- und Herkunftskultur im stadtischen Raum
V. 5. Die Rolle der Staatsangehorigkeit bei der Identitatskonstruktion

VI. Die Sozialisierung der jugendlichen Migranten in der Schule
VI. 1. Der schulische Raum in der Sozialisierung, Identifizierung und Diskriminierung von Jugendlichen
VI.2. Das Nationalbild in Struktur und Mission der Schule
VI.3. Die institutionelle Diskriminierung in der Schule
VI.4. Vermittlung der Nationalbilder in den Schulen
VI.5. Der schulische Misserfolg in der Vermittlung von Perspektivlosigkeit und Frustration

VII. Der Zusammenhang zwischen der Schule, dem Nationalbild und der Identitatskonstruktion

VIII. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Die brennenden Autos bei gewalttatigen Ausschreitungen in Pariser Vororten er- regten 2005 viel Aufmerksamkeit uber die Grenzen Frankreichs hinweg, denn die ran- dalierenden Franzosen mit Migrationshintergrund schienen die Grundwerte der Repu- blik, die stolz ist auf ihre Ideale der Universalitat und Gleichheit, in Frage zu stellen. Als die Ausschreitungen in Paris im November 2005 ausbrachen, stellten Berichte uber das Thema haufig die Frage an Politiker und Kriminologen, ob solche massiven Kra- walle auch in Deutschland vorkommen konnten. Viele Befragte waren der Meinung, dass es sicherlich das Potenzial und mogliche Ausloser fur solche Ausschreitungen ga- be, denn die zunehmende Frustration unter arbeits- und ausbildungslosen Jugendlichen in den sozialen Brennpunkten schien ganz ahnlich wie in Paris. Der ehemalige innenpo- litische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Wolfgang Bosbach zum Beispiel beur- teilte die Situation kritisch: „Auch wenn die gesellschaftliche Realitat bei uns anders ist, sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass so etwas wie in Frankreich bei uns nicht geschehen konnte“ (zitiert in Frankfurter Allgemeine, 5. November 2005). Politi­ker in Deutschland wie der ehemalige Innenminister Brandenburgs Jorg Schonbaum (CDU) kritisierten, dass die Integration fur eine zu lange Zeit nicht ernst genommen wurde, was zu Gettoisierung und zusatzlicher Gewalt fuhrte (ebd.). Bis heute sind ge- walttatige Ausschreitungen jugendlicher Migranten in der Form wie in Paris auf Berli­ner StraBen allerdings nicht zu sehen gewesen. Wie Ottersbach und Zitzmann (2009) schreiben: „Die Bilder aus Frankreich von StraBenschlachten, Verfolgungsjagden und brennenden Autos haben bisher nach wie vor fur Deutsche eher einen exotischen Cha- rakter“ (S.10). Die Krawalle zwischen turkischen Jugendlichen und Berliner Polizisten im Kreuzberger Wrangelkiez 2006 sind eins der wenigen vergleichbaren Ereignisse, doch sie hielten nur einen Tag an und blieben auf den Stadtteil beschrankt.

Fur den Vergleich von Paris und Berlin in dieser Arbeit gibt es mehrere Grunde. Zu- nachst haben beide Hauptstadte einen hohen Anteil von Jugendlichen mit Migrations­hintergrund, die bereits in der 2. und 3. Generation im Land leben ohne die Absicht, in die Herkunftslander ihrer Eltern zuruckzukehren. Der hohe Anteil maghrebinischer Zu- gewanderter in Paris und die groBe Migrationsgruppe der Tiirken in Berlin sind zum groBten Teil Muslime, die haufig in der Politik und den Medien mit Kriminalitat und anfalligen Sozialverhalten in Verbindung gebracht werden. GroBe Teile beider Gruppen gehoren zu der soziookonomischen Unterschicht und wohnen in marginalisierten Stadt- quartieren (Ottersbach & Zitzmann, 2009). Der wichtigste Grund fur den Vergleich sind allerdings die Integrationsmodelle in Deutschland und Frankreich, die sich in ihrer Pra- gung durch die traditionellen Nationalbilder stark unterscheiden. Da die Lebenssituation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den beiden Stadten im Grunde genom- men ahnlich ist, muss der Unterschied im Mobilisierungspotenzial fur Krawalle wohl im Feindbild liegen, das die Ausschreitungen motiviert hat.

Es wird in dieser Arbeit nicht das Argument von Politikern und Medienberichten ange- zweifelt, dass die benachteiligte soziookonomische Situation der Jugendlichen mit Migrationshintergrund genauso wie in Paris auch in Berlin Frustration schafft. Vielmehr wird gezeigt, wie der Umgang mit dieser Frustration in den Hauptstadten unterschied- lich ist aufgrund verschiedener Selbstwahrnehmungen und Identitatskonstruktionen in den Aufnahmegesellschaften. Ein Ausloser fur Gewalt in Form der Pariser Ausschrei­tungen musste demzufolge in Berlin kraftvoll genug sein, um mehrere Barrieren zur Ausubung von Gewalt einzureiBen, die in dieser Form in Frankreich abwesend sind. Dabei spielen die Integrationsmodelle der beiden Lander, die von den traditionellen Na- tionalbildern gepragt sind, eine wichtige Rolle. Wahrend in Frankreich das Nationalbe- wusstsein von einer gemeinsamen politischen Identitat auf der Grundlage einer univer- sellen franzosischen Hochkultur gespeist wird, bildet in Deutschland die Gemeinsam- keit der ethischen Wurzeln die Grundlage fur das nationale Selbstverstandnis. Zunachst definieren diese Nationalbilder unter der einheimischen Gesellschaft, wer dazu gehort, und umreiBen die Wahrnehmung dessen, was andersartig ist. Es wird aber weiterhin deutlich werden, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund die vorhandenen kulturel- len Kategorien der Mehrheitsgesellschaft bei der Konstruktion ihrer Identitat mit einbe- ziehen, gleichgultig ob sie diese ablehnen oder sie sich integrieren wollen. Vor diesem Hintergrund bilden die Jugendlichen in Berlin Selbstidentitaten und Alteritaten heraus, die sich von denen in Paris unterscheiden. Dieser Prozess wird in Kapitel V genau un- tersucht.

Ein Unterschied zwischen den jugendlichen Migranten in Paris und Berlin fallt direkt ins Auge. Wegen des Jus Soli (Bodenrecht) in Frankreich besitzen die meisten Jugend­lichen der 2. und 3. Generationen die franzosische Staatsangehorigkeit und sind von daher prinzipiell rechtlich integriert (Brubaker, 1992). AuBerdem sprechen die Jugend- lichen in der Regel Franzosisch in der Offentlichkeit, sogar miteinander, womit sie der franzosischen Sicht gerecht werden, dass die Sprache das einzig wirkungsvolle Mittel fur die Integration in die Gesellschaft ist (Sunier, 2002). Anders in Berlin: Wegen des Jus Sanguinis (Blutrecht), das bis ins Jahr 2000 unverandert blieb, besitzt die Mehrheit der Migranten keinen deutschen Pass, obwohl viele von ihnen in Deutschland geboren wurden. Die Sprache des Herkunftslandes wird haufiger in der Offentlichkeit und auf dem Schulhof gesprochen als unter den jugendlichen Migranten in Frankreich (ebd.). In dieser Hinsicht sieht es also so aus, als seien die Jugendlichen in Paris besser integriert. Tatsachlich soll hier durchweg mit der Hypothese gearbeitet werden, dass die Jugendli­chen in Paris gerade deshalb randalierten, weil sie in dieser Form besser integriert sind als diejenigen in Berlin. Naturlich sind gewalttatige Ausschreitungen kein Anzeichen einer gelungenen Integration, aber an den Migranten in Frankreich lassen sich durchaus Erfolge bei der Assimilierung in die Gesellschaft erkennen. Das mit diesem Integrati- onsmodell einhergehende Prinzip des Laizismus ignoriert dabei im Sinne der universel- len Gleichheit ethnische und kulturelle Merkmale, was ein Segen, fur die Migranten a- ber auch ein Fluch sein kann. In Deutschland, wo ethnische und kulturelle Differenzen Teil der Gesellschaftsordnung sind, wird die Kategorisierung von In- und Auslandern hingegen oft im Alltag und politischen Diskursen verwendet. In Hinblick auf Staatsan- gehorigkeit und ethnische Differenzierung ist das deutsche Integrationsmodell somit viel exklusiver als in Frankreich. Entgegen gefuhlsmaBiger Intuition stabilisiert jedoch die mangelnde Inklusivitat der deutschen Integration die gesellschaftlichen Wechselbe- ziehungen zwischen den Migranten, den Einheimischen und dem Staat. Denn wie ge- zeigt wird, eroffnet der Zwang, sich eine eigene Identitat neben einer moglicherweise deutschen zu schaffen, gleichzeitig auch soziokulturelle Ruckzugsmoglichkeiten fur den Fall, dass die soziookonomische Integration nicht erfolgreich verlauft.

Es soll hier nicht behauptet werden, dass die jugendlichen Migranten in Berlin besser als diejenigen in Paris integriert sind, denn solch eine Untersuchung wurde vor allem auf eine willkurliche Gewichtung von Merkmalen einer guten Integration hinauslaufen. Stattdessen soll deutlich werden, dass beide Gruppen wohl auf die gleiche Weise be- nachteiligt sind, die kollektive Identitat unter den Berliner Heranwachsenden allerdings anders konstruiert wird, so dass die Mechanismen der gewalttatigen Ausschreitungen in Paris bei ihnen nicht so leicht ausgelost oder verdrangt werden. Dies wird gezeigt durch die Analyse der Erwartungen, die die Migranten an ihre Integrationsbemuhungen ha- ben, und der Versprechungen der Gesellschaft. Dabei hat die Zugehorigkeit zum Staat eine wichtige Bedeutung fur die Dynamik dieser Erwartungen.

Die kollektive Gewalt gegenuber der Polizei und offentlicher Guter in den beiden Stad- ten weist dabei nicht unbedingt darauf hin, dass die beteiligten Individuen in ihrer all- taglichen Umgebung gewaltbereit sind. Diese Geschehnisse sind nicht auf einer Ebene vergleichbar mit Einzelfallen von Gewalttaten gegen schuldlose Opfer wie zum Bei- spiel in offentlichen Verkehrsmitteln oder der Schule. Die Entstehung von Gewalt auf der individuellen Ebene wird von einer Wechselwirkung vielfaltiger Dimensionen be- dingt, wahrend bei kollektiver Gewaltbereitschaft zusatzliche Faktoren eine Rolle spie- len. Die grundlegenden Konzepte und der Entstehungsprozess von Gewalt wird in Ka- pitel III erklart.

Eine Charakteristik der Pariser Ausschreitungen, die sie von den Wrangelkiez- Krawallen unterscheidet, war die groBe Mobilisationsfahigkeit einer gewalttatigen Be- wegung uber Wochen hinweg und die Ausweitung auf mehrere Pariser Stadtteile und sogar andere Stadte in Frankreich. In Berlin blieben die Krawalle auf einen Stadtteil be- schrankt und die Zahl der Demonstranten lag deutlich niedriger als in Paris. Wahrend sich ein gewisses Potenzial fur Ausschreitungen in Berlin also nicht von der Hand wei- sen lasst, scheinen diese nicht die Sprengkraft zu besitzen, um jugendliche Migranten in anderen Regionen mitzureiBen. Im Zuge der Analyse der Identitatskonstruktion der Ju- gendlichen wird dabei ersichtlich werden, dass die Unterschiede in den Kopfen eine I- dentifikation mit Unruhen an einem anderen Ort verhindern, da der Erfahrungshorizont mit der Gesellschaft und dem Staat ein anderer ist. Auf diese Weise behindern die kul- turellen und auch politischen Unterschiede zwischen Berlin und anderen deutschen Re- gionen die Ausbreitung von Unruhen, wahrend kulturelle Einheitlichkeit in Frankreich ihre schnelle Ausbreitung begunstigte. In diesem Zusammenhang spielen die Identitaten der Stadte, die Manuel Castells (1983) Urban Meanings nennt, eine einflussreiche Rol­le, die in Kapitel V genauer betrachtet werden.

Um die Thesen in dieser Arbeit zu erortern, wird eine Nahaufnahme der Identitatskon­struktion der jugendlichen Migranten in Paris und Berlin durchgefuhrt. Aufgrund der Ahnlichkeit der Herkunftskulturkreise und des jungen Alters der fraglichen Migranten wird dabei nicht davon ausgegangen, dass sich bei diesem Prozess aus der Beziehung zur Gruppe der Migranten allein signifikante Unterschiede ergeben, die das kollektive Gewaltpotenzial erklaren konnten. Stattdessen gilt der Fokus der Pragung der Identitat durch die Mehrheitsgesellschaft und den Aufnahmestaat, gegen die sich die Proteste schlieBlich richten. Deren Einfluss erleben die Migrantenkinder zwar sicherlich jeden Tag auf der StraBe, aber gerade in den Vierteln, in denen sich soziookonomisch ausge- grenzte Migranten sammeln, wird vor allem die Schule zur wichtigsten Schnittstelle fur Erfahrungen mit der Aufnahmegesellschaft. Dementsprechend wird die offentliche Schule eine wichtige Rolle spielen als staatliche Institution, die den Schulern die Ideale und Inklusionskriterien des Nationalbildes vermittelt (Schiffauer, 2002). In Kapitel VI wird sich zeigen, dass sowohl in Berlin als auch in Paris Chancengleichheit angestrebt wird, diese jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven angestrebt wird.

Zunachst wird Kapitel II ein Uberblick uber die Ausschreitungen in Paris 2005 und die Berliner Wrangelkiezkrawalle 2006 gegeben. Wahrend Kapitel III die notwendigen Konzepte zur Jugendgewalt einfuhrt, beschreibt Kapitel IV das nationale Selbstver- standnis der Einwanderungspolitik in Paris und Berlin. Kapitel V befasst sich dann mit der Identitatskonstruktion der Migranten, bevor in Kapitel VI dieser Prozess detailliert anhand ihrer Schullaufbahn analysiert wird und Kapitel VII die Erkenntnisse zusammen tragt.

II. Die urbanen Ausschreitungen in Paris und Krawalle in Berlin

Bei den Unruhen in Frankreich handelte es sich um eine Serie von zunachst un- organisierten Sachbeschadigungen und Brandstiftungen, sowie gewalttatigen Zusam- menstoBen mit der Polizei in den Pariser Vororten, die vom 27. Oktober bis zum 18. November 2005 taglich stattfanden. Die Mehrzahl der Randalierer waren dabei Jugend- liche mit maghrebinischem Migrationshintergrund. Laut Medienberichten war der Aus- loser fur die Gewalt der Tod von zwei Jungendlichen aus maghrebinischen Immigran- tenfamilien (Zyed Benna, 17, und Bouna Traore, 15), die am 27. Oktober 2005 in Paris auf der Flucht vor der Polizei die Absperrung zu einem Transformatorenhauschen durchbrachen und dort von Stromschlagen todlich getroffen wurden (Spiegel Online, 4. November 2005). Wie spater berichtet wurde, fluchteten die Jugendlichen vor den Poli- zisten, um sich einer Personenkontrolle zu entziehen, obgleich die Polizisten eine ande- re Gruppe verfolgten. Durch Mitschnitte des Polizeifunks lieB sich ermitteln, dass die Polizisten von der Anwesenheit der Jugendlichen auf dem Gelande wussten, sich aber um sie nicht kummerten (ebd.).

Am Anfang waren die Ausschreitungen auf den Heimatort der Unfallopfer, den Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, beschrankt. Im Laufe der folgenden Tagen allerdings weiteten sich die gewalttatigen Proteste auf das Pariser Umland wie Seine-et-Marne und Val- d'Oise aus, und spater sogar auf andere franzosische Stadte wie Lille, Dijon und Lyon (ebd.). Als die Krawalle voruber waren lag die Zahl der zerstorten Autos bei uber 9,000 und die der Festnahmen bei ca. 2,832 (Welt Online, 27. November 2007).

Die Reaktion des damaligen Innenministers Nicholas Sarkozy war umstritten, denn er bezeichnete die zwei Todesopfer sowie alle Teilnehmer an den Krawallen als „racaille“ (Gesindel) und verlangte, man musse die Vororte „nettoyer au Karcher“ (mit eisernem Besen auskehren) (Ossman & Terrio, 2006). Am 8. November beschloss die Regierung zum ersten Mal die Verhangung des Ausnahmezustandes, der aus dem Notstandsrechts- gesetz des Jahres 1955 stammt und zuvor nur im Algerienkrieg Anwendung fand (Le Monde, 2005). Mit diesem Notstandsrecht konnte die Polizei preventive MaBnahmen wie Hausdurchsuchungen bei Verdachtigen ergreifen und Ausgangssperren uber Teile des Staatsgebietes verhangen. Zusatzlich verfugte Innenminister Sarkozy die Auswei- sung aller Auslander, die im Zusammenhang mit den Krawallen fur schuldig befunden wurden, egal ob sie illegal oder legal in Frankreich lebten (Ossman & Terrio, 2006). In der Offentlichkeit und den Medien beschrieb derweil Premierminister Dominique de Villepin die Ausschreitungen der Jugendlichen als eine Konsequenz sozialer Probleme und forderte die kollektive Solidarity Frankreichs, um die soziookonomisch benachtei- ligte Lebenssituation in den Banlieues auszugleichen (Haddad & Balz, 2006).

In Berlin hingegen hat eine solch massive kollektive Ausschreitung jugendlicher Migranten nie stattgefunden. Ein Fall, der den Pariser Krawallen ahnelte und sofort ei- nen Vergleich in den Medien und politischen Diskussionen nach sich zog, waren die Krawalle im Kreuzberger Wrangelkiez 2006. Die Eskalation begann als Polizisten zwei Zwolfjahrige festnahmen, weil sie versuchten, einem 15-Jahrigen einen MP3-Player zu stehlen. Nach den Berichten der Polizei wurden die Beamten plotzlich „bedrangt, be droht und beleidigt“ durch eine Menge von Jugendlichen (Spiegel Online, 16 . Novem­ber, 2006). Daraufhin kam es zu einer Massenschlagerei zwischen der Polizei und etwa 100 turkischen Jugendlichen (ebd.). Die Situation stellte sich in den Aussagen der Leute im Wrangelkiez allerdings anders dar. So hieB es, dass die Polizei unverhaltnismaBig vorgegangen und die Festnahme der zwei Zwolfjahrigen in Handschellen nicht ange- messen gewesen sei. Der 23 Jahre alte Mehmet hatte die Beamten „zur Rede stellen wollen“ und sagte: „Ihr seid doch alle gleich, nur weil ihr Uniformen anhabt, glaubt ihr, ihr konnt euch alles erlauben“ (Spiegel Online, 16. November, 2006). Da habe ihn ein Polizist angeherrscht: „Geh dahin, wo du herkommst, du hast in Deutschland nichts zu suchen“ (ebd.). Bewohner des Wrangelkiez bestatigten dieses Zitat und sagten aus, dass dies der Ausloser fur die Massenschlagerei gewesen sei. In den folgenden Tagen wurde eine Gesprachsrunde im Bezirksamt eingerichtet, die die Hintergrunde des Geschehnis- ses aufklaren sollte. Das Amt machte das Angebot die Jugendeinrichtungen zu uberpru- fen und den Wunschen der Jugendlichen anzupassen (Berliner Morgenpost, 22. No­vember, 2006). Neben langeren Offnungszeiten sollte es auch mehr Angebote im Frei- zeitbereich und Weiterqualifizierungsmoglichkeiten wie etwa Computerkurse geben (ebd.).

Die Wrangelkiez-Krawalle waren ein Einzelfall, so die Polizei, allerdings gab es solche Massenschlagereien mehrmals Anfang desselben Jahres im Berliner Stadtteil Rudow (Spiegel Online, 25. November, 2006). Ein interessanter Aspekt ist die Rolle der Polizei als Ausloser der Ausschreitungen in beiden Stadten. Sowohl in Berlin als auch in Paris erregten sich die Jugendlichen uber eine wahrgenommene Diskriminierung durch die Polizei, wahrend Polizisten sich beklagten, dass sie bei ihrer Arbeit immer mehr be droht wurden. Ob die wahrgenommene Diskriminierung unter Migranten und die ge- fuhlte Bedrohung unter Beamten in den einzelnen Fallen die Realitat reflektieren oder hochgespielt sind, ist naturlich schwer festzustellen. Auf jeden Fall bekamen die Zwi- schenfalle in Berlin deutlich weniger nationale und internationale Aufmerksamkeit als die Proteste in Paris, denn in Berlin waren diese ZusammenstoBe nur auf einen Stadtteil beschrankt und breiteten sich nicht auf das gesamte Stadt- und Bundesgebiet aus, wie es in Frankreich geschehen war. Scheinbar sind die Mobilisierungsfahigkeiten unter Pari- ser Migranten starker als in Berlin, was spater in dieser Arbeit erklart wird.

III. Definition und Formen von Gewalt

Historisch betrachtet hat der Begriff ,,Gewalt“ die neutrale Bedeutung, etwas bewirken zu konnen (Kilb, 2009). Heutzutage allerdings wird mit dem Begriff oft sofort eine negative Konnotation verbunden und er wird im Sprachgebrauch im Sinne „einer Anwendung von physischem Zwang gegenuber Menschen oder einer rohen, gegen Sitte und Recht verstoBenden Einwirkung auf Personen, als unrechtmaBiges Mittel zur Durchsetzung von Herrschaft gegen den Willen der Opfer“ verwendet (ebd., S.16). Der Begriff hat allerdings auch eine positive Konnotation. Denn im gesellschaftlichen und politischen Kontext ist „Gewalt“ ein legitimes Staatszwangsmittel zum Schutz vor Kri- minalitat (Heitmeyer, Moller & Sunker, 1992). Der Begriff „Gewalt“ ist sogar noch komplexer und wird in vielen wissenschaftlichen Fachern unterschiedlich analysiert und definiert. Die Sozialwissenschaften kennen zum Beispiel auch Formen der „psychi- schen“, „institutionellen“ oder „verbalen“ Gewalt, die nicht nur rein physische Hand- lungen darstellen (Bottger, 1998, S.19). Im Kontext dieser Arbeit allerdings wird unter Jugendgewalt die physische Dimension verstanden, denn die Ausschreitungen in Paris 2005 und die Einzelfalle in Deutschland wie die Wrangelkiez-Krawalle in Berlin 2006 entluden sich in Form physischer Gewalt. Dazu gehorten zum Beispiel brennende Autos in Paris und Schlagereien mit der Polizei. Auch die Diskussion uber Jugendgewalt in den Medien bezieht sich heutzutage in den allermeisten Fallen auf korperliche Gewalt- handlungen (Bottger, 1998).

Laut Kilb (2009) wird Gewalt in den Verhaltenswissenschaften zumeist in Anlehnung an den Aggressionsbegriff definiert. Nach der Definition von Zimbardo und Gerrig (2003) ist Aggression „korperliches oder verbales Handeln, das mit der Absicht ausge- fuhrt wird, zu verletzen oder zu zerstoren (...) Wahrend der Begriff der Aggression di- rekt auf ein Verhalten abzielt, bezieht sich Aggressivitat auf eine Disposition oder Per- sonlichkeitseigenschaft“ (zitiert in Kilb, 2009, S.17). Selbst Aggression hat eine positi­ve Konnotation, denn aggressiv sein heiBt auch „versuchen, beginnen, etwas unterneh- men“, was genauso zu einer schopferischen Leistung wie zu Zerstorung fuhren kann (Zeltner, 1993, S. 68). Die kategorischen Beziehungen zwischen den Begriffen „Ge- walt“, „Aggression“ und „Aggressivitat“ sind in der Literaturubersicht komplex und werden unter wissenschaftlichen Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven verstan- den. Eine griffige Aussage daruber trifft Fridrich Hacker (1973): „Gewalt ist immer ag- gressiv, aber nicht jede Aggression fuhrt zu Gewalt“ (zitiert in Zeltner, 1993, S. 68). In diesem Zusammenhang muss man das Potenzial von Aggressivitat (z.B. nach der Defi­nition von Zimbardo & Gerrig, 2003) genauer untersuchen. Kann Gewaltbereitschaft durch genetische bzw. biologische Faktoren bedingt werden, und haben alle oder nur bestimmte Menschen eine angeborene Disposition zur Gewalt? Klassische Theorien wie von Konrad Lorenz treffen die grundsatzliche Annahme, dass der Trieb zur Gewalt ein Instinkt sei, der uber die Menschheit weit verbreitet ist. Zeltner (1993) erklart, dass die Theorie von Lorenz „im Menschen einen stets vorhandenen Drang zur Aggressivitat feststellt, einen sich standig steigernden Triebdruck, der sich von Zeit zu Zeit entladen muB“ (S.72).

Heutzutage haben Psychologen und Konfliktforscher allerdings Zweifel an den Argu- menten der genetisch und biologisch bedingten Entstehung der Gewalttatigkeit. Die Forschung konzentriert sich stattdessen eher auf Sozialisationstheorien. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass es vielfaltige, unterschiedliche Dimensionen im Entstehungs- prozess von Gewalttaten gibt, die stark mit dem sozialen Umfeld und der sozialen Inter- aktion zusammen hangen. In der Arbeit von Kilb (2009) wird eine pyramidenformige Klassifizierung der kontextuellen Dimensionen des Entstehungsprozesses von Gewalt­taten entworfen. Dazu schreibt er:

Es ist relativ unbestritten, dass an der Entwicklung von gewalttatigem Verhalten eine ganze Rei- he von Ursachen bzw. Entstehungsbedingungen beteiligt sind, die erst im Rahmen einer Ent- wicklungskette einzelner Stufen (Hintergrund/Disposition-Anlass-Ausloser personlicher Ent- scheidung-Beschleuniger) oder auch biografischer Verlaufsketten gewalttatiges Verhalten pro- duzieren (...) Erst wenn bei einem Kind oder Jugendlichen dann mehrere ungunstige Bedingun- gen und Anlasse in einer individuell spezifischen Reihenfolge zusammenkommen, erhoht sich die Wahrscheinlichkeit einer Tatausubung (...) Als miteinander korrespondierende Einzelfakto- ren eines gemeinsamen Ursachenbundels lassen sich schlieBlich spezifische Ausgangsdispositi- onen (z.B. Personlichkeitsmerkmale), Hintergrundkontexte (z.B. Adoleszenz, Familiensituation, Perspektivlosigkeit, fehlende Anerkennung), Begleitumstande (wie etwa Milieueinbindung oder segregierte Stadtteile), Beschleuniger (z.B. die Peergroup), Handlungsmuster (z.B. medial ver- mittelte oder familiar erlernte), sowie Anlasse (Gelegenheiten) und Ausloser (subjektiv wahrge- nommene Provokation) ausmachen, die erst im Zusammenspiel eine gewalttatige Aktion wirk- lich erklaren konnen. (S.21)

Genau dieses Zusammenspiel der Einzelfaktoren, besonders im Bezug auf Hinter- grundkontexte (Perspektivlosigkeit und fehlende Anerkennung), Begleitumstande (segregierte Stadtteile) und Ausloser (subjektiv wahrgenommene Provokation), wird unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund spater in dieser Arbeit herausgebildet. Es wird sich dabei zeigen, dass diese Einzelfaktoren stark von den Integrationsmodellen der Nationalstaaten beeinflusst werden.

Wenn ein Jugendlicher sich einer Vielzahl von Benachteiligungen ausgesetzt sieht, kann dies offensichtlich zu Frustration fuhren. In diesem Kontext hat der amerikanische Psychologe John Dollard (1939) zusammen mit anderen Forschern eine Wechselwir- kung zwischen Frustration und Aggression festgestellt. Dollards klassische Frustrati- ons-Aggressions-Theorie postuliert, dass das Auftreten aggressiven Verhaltens Frustra­tion verursacht und auch umgekehrt, dass jedes beobachtbare aggressive Verhalten auf Frustration zuruckgeht (ebd.). Wichtig hierbei ist allerdings, dass Frustration kein Ge- fuhl im Sinne der Alltagssprache ist, sondern ein Ereignis (Schmidt, 2005):

Frustration ist eine externe Bedingung, die die Person daran hindert, die Vorteile zu genieBen, die sie durch ihr Verhalten zu erreichen hoffte. Ist eine andere Person verantwortlich fur die Er- richtung dieser Barriere, die sich zwischen Individuum und seine Zielerreichung schiebt, so rich- tet sich die Aggression auf diese Person. (S.508)

Mit anderen Worten und grob gesagt ist Frustration die Konsequenz gescheiterter Ziele. Mit dieser Logik kann die sozialokonomische Benachteiligung der jugendlichen Migranten zu Frustration und somit Aggression fuhren und auch andersherum - ein Teufelskreis. Engel und Hurrelmann (1989) erklaren, dass sozial deviantem Verhalten in dieser Form eine Wechselwirkung zwischen kultureller und sozialer Integration zugrunde liegt. Wenn die jungen Migranten Erfolg und Leistung als vorherrschende Ziele der zeitgenossischen Kultur akzeptieren, von diesen aber sozial ausgeschlossen bleiben, dann wachst die Bereitschaft, auf illegitime Mittel zuruckzugreifen. Die Erfah- rungen des Misserfolgs in der Schule und im Arbeitsmarkt (Umgebungen, die den so- ziookonomischen Status pragen) konnen dann die Grundlage fur Frustration schaffen, wahrend bestimmte Akteure oder Institutionen, die als Barriere fungi eren und die ihre Hoffnung auf Verbesserung abschwachen (z.B. Lehrer), als Ausloser der aufgebauten Aggression wirken. Naturlich hangt eine gewalttatige Reaktion auf der individuellen

Ebene, wie bereits erwahnt, von vielen anderen Dimensionen ab. Allerdings spielt die Gemeinsamkeit dieser negativen Erfahrungen und der resultierenden Frustration eine besonders starke Rolle auf der kollektiven Ebene. Tatsachlich stellte der Wirtschaftswissenschaftler Theodore Robert Gurr (1970) fest:

(...) lying at the roots of collective violence as it does, arises from relative deprivation, meaning a noticeable discrepancy between 'value expectations' in the sense of the goods and conditions of life to which people believe they are entitled, and their 'value capacities' signifying the goods and conditions they think they are capable of getting and keeping (...) the potential for collective violence varies strongly with the intensity and scope of relative deprivation. (zitiert in Fortman, 2005, S. 3-4).

Ihre Wahrnehmung des Verlusts, egal ob er real oder eingebildet ist, kann zur Kollekti- vitat fuhren, indem die Jugendgruppe aggressives Verhalten legitimiert als eine Weise, etwas zu erreichen, was aufgrund der blockierten institutionalisierten Wege nicht er- reichbar erscheint (Kuhnel & Matuschek, 1995). Durch Gruppen ausgeubte Gewalt ist ein typisches Jugendphanomen, denn die Gleichaltrigkeit ist ein wichtiger Faktor fur die Verbindung der Gruppe (Bottger, 1998, u.a.). Tatsachlich werden die Jugendgruppen haufig mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter zuruckgebildet (ebd.). Bei den franzo- sischen Ausschreitungen, aber auch bei gewalttatigen Auseinandersetzungen in Deutschland, sind die meisten Akteure Adoleszenten im Alter zwischen 15 und 24 Jah- ren (Kilb, 2009; u.a.). Laut Heitmeyer (1995) ist diese Phase des Aufwachsens mit der Individualisierung und einer Pluralisierung von Lebenslagen gekoppelt. Seiner Meinung nach sind diese Lebenslagen eng mit Desintegrationsprozessen verbunden. Insofern spielen die Moderne und die Globalisierung eine starke Rolle fur die Lebensphase der Adoleszenz, denn die Jugendlichen haben viel mehr Freiraume und mussen sich zwi- schen zahlreichen Moglichkeiten entscheiden (Kilb, 2009). Diese Freiheit, die in fruhe- ren Zeiten nicht existiert hat, kann offensichtlich als eine positive Entwicklung betrach- tet werden. Heutzutage allerdings leben die Bevolkerungen der post-industriellen Lan­der in einer so genannten „Risikogesellschaft“, die als Teil der Entwicklungstheorie von Ulrich Beck (1989) beschrieben wurde. In der Risikogesellschaft schafft der Kapitalis- mus einen enormen Konkurrenzdruck, wobei Risiken in individueller Form bewaltigt werden mussen. Diese Konfrontation mit Entscheidungen kombiniert mit sich veran- dernden Lebenslagen beginnt in der Jugendphase und ist nach der Meinung von Kilb (2009) durch Gegensatze gekennzeichnet:

Jugendliche und Kinder sehen sich fruhzeitig mit Erwachsenenrollen, -rechten und - moglichkeiten ausgestattet, erleben (besonders die mannliche Spezies) eine gewisse fruhzeitige Omnipotenz, die aber spatestens dann heftig erschuttert wird, wenn die gesellschaftliche Aner- kennung in Schule, Ausbildung und Beruf oder durch die Aufnahmegesellschaft bei Migranten- jugendlichen und ihren Familien ausbleibt (S.45).

Die psychosoziale Belastung und die Reaktionen auf Misserfolg sind naturlich unter- schiedlich von Mensch zu Mensch. Wer allerdings Gewalt benutzt, legitimiert sie hau- fig moralisch, um sich zu rechtfertigen (Heitmeyer, et al., 1992; u.a.). GemaB Beck (1989) ist ihre Gewalt „die Gewalt der Gefahr, die alle Schutzzonen und Differenzie- rungen der Moderne aufhebt“ (ebd., S.13).

Es soll nicht festgestellt werden, dass die Empfindlichkeit der Jugendlichen in Kombi- nation mit bestimmten Benachteiligungen unbedingt direkt zur Gewalt fuhrt. Denn wie schon erwahnt gibt es mehrere Dimensionen und Stufen im Entstehungsprozess einer Gewalttat. Die Motivation fur diese Beschreibung ist, eine logische Kette aufzubauen, die fur Falle von Gewalttaten unter jugendlichen Migranten im Zusammenhang mit ih­ren soziookonomischen Benachteiligungen eine Erklarung liefert. Dabei erklart die Frustrations-Aggressions-Theorie zunachst nur die Haufung gewalttatigen Verhaltens einzelner Individuen unter soziookonomisch benachteiligten Bedingungen als AusreiBer eines generell erhohten Frustrationsniveaus. Um die kollektiven Ausschreitungen zu erklaren, die bei mehrwochiger Dauer nicht mehr als Affekttat klassifiziert werden kon- nen, bedarf es nicht nur einiger weniger Brandstifter. Vielmehr muss auch ein groBer Teil der sonst eher gemaBigten Masse der Jugendlichen zu gewalttatigem Protest uber- getreten sein. Fur diese Jugendlichen sind die okonomische Perspektivlosigkeit und die Verweigerung von Anerkennung wichtige Faktoren. Um sie aber in so groBer Zahl zu mobilisieren, braucht es auch eine moralische Legitimierung wie ein anerkanntes Feindbild des Staates, dessen Handlungen nicht ausreichen, um seine feindliche Wahr- nehmung bei der Masse der Randalierer in Zweifel zu ziehen. Diese Faktoren sollen in den nachsten Kapiteln naher beleuchtet werden, was es ermoglicht, die Analyse vom unmittelbaren Ausloser der Gewalt zu trennen.

IV. Nationales Selbstverstandnis und Einwanderungspolitik in Frankreich und Deutschland

Das Bild des Nationalstaates ist in Frankreich und Deutschland aufgrund der Geschichte der Lander sehr unterschiedlich gepragt. Die traditionellen Nationalbilder, die in den einzelnen Landern weiterhin eine starke Prasenz haben, liefern eine gute Er- klarung fur die unterschiedlichen Modelle der Integrationspolitik, wie wir sie heutzuta- ge beobachten konnen.

Erst in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts, nach der Franzosischen Revolution, gewann die Idee der Nationalstaatlichkeit breite Popularitat in der Gesellschaft. Da die Nation und die Monarchie in Frankreich eng verbunden waren, entwickelte sich eine zentrale burokratische Monarchie, die eine politische und territoriale Konzeption der Nationalstaatlichkeit gepragt hat (Brubaker, 1992). In Deutschland hingegen gab es in dieser Zeit eine groBe Disparitat zwischen dem supranationalen Reich und den subnati- onalen, semi-souveranen politischen Einheiten, die ein ethnokulturelles Verstandnis der Nationalstaatlichkeit entwickelten. Selbst das Konigreich PreuBen entfaltete nie ein be- sonderes Potential fur nationalstaatliche Identifikation, so dass bei der Grundung des Deutschen Reiches 1871 nicht der groBte und einflussreichste Teilstaat, sondern die un- abhangig entwickelte Idee der deutschen Identitat namensgebend war (ebd.). Kastory- ano (2002) liefert eine gute Zusammenfassung in dieses Sachsverhalts:

Whereas the French nation is invented in terms of a historic process driving from the will of the kings and from an emotional bond, the German nation is imagined in terms of organic bonds be­tween individuals sharing the same origins, in terms of membership in the German people, even though that people was geographically scattered in two kingdoms with no communication net­work between them. (S. 43)

Aus dieser Sicht spielen ethnische und religiose Unterschiede in Frankreich keine Rolle in der Konstruktion der Nation und im nationalen Bewusstsein, denn es ist die gemein- same politische Identitat, die die franzosische Gesellschaft verbindet. In Deutschland hingegen spielt die konstruierte ethnische Affiliierung durch gemeinsame Wurzeln, die das deutsche Volk zusammen bringt, die Hauptrolle, wobei kulturelle Differenzen aus- gegrenzt werden. Diese Perspektiven sind kontrar, denn in Frankreich ist die politische Identitat die Basis der kulturellen Identitat, wahrend in Deutschland die kulturelle Iden- titat das Fundament fur die politische Identitat ist (Kastoryano, 2002).

Die nationale Identitat Frankreichs wurde in der Franzosischen Revolution 1789 und danach konstruiert, indem sich aus ihren Werten das republikanische Modell - einheit- lich, universell und sakular - entwickelte (Jennings, 2000; Katorstoryano, 2002; Bruba­ker, 1992; u.a.). Das Konzept der Universalitat, die mit der Gleichheit der Menschen verflochten ist, wird im franzosischen Staat als die zentrale, leitende Ideologie wahrge- nommen. Wie Louis Dumont (1994) dazu schreibt: „For our Frenchman, the destiny of France is to be the teacher of mankind“ (zitiert in Jennings, 2000, S.577-78). Aus dieser Ideologie erschlieBt sich als vorrangige MaBnahme der Integration in Frankreich die Assimilation. Laut Dominique Schnapper (1991): „National identity is not a biological but a political fact: one is French through the practice of a language, through the learn­ing of a culture, through the wish to participate in an economic and political life“ (S. 63). Das heiBt, dass kulturelle Homogenitat das ideelle Ziel und auch der einzige Weg ist, um nationales Bewusstsein und kollektive Identitat zu schaffen (Kastoryano, 2002). Politische Integration ist synonym mit der kulturellen Integration und mit der Assimila­tion durch die nationalen Institutionen - die so genannte integration a la franqaise“, die gemaB Schnapper den Prozess der nationalen Integration konstituiert (ebd.). Die kultu­relle Homogenitat und die universalistische politische Ideologie sollen durch die staatli- chen Institutionen verbreitet werden, wobei die Schule heute als zentraler sozialer Raum dafur dient, ahnlich wie in der Vergangenheit die Armee (Ottersbach & Zitz- mann, 2009; Jennings, 2000, u.a.). Laut Eugen Weber in seiner klassischen Arbeit wird der Landarbeiter genauso wie der Auslander in diesem Prozess der Assimilation in ei- nen Franzosen transformiert (zitiert in Kastoryano, 2002, S. 42-3).

Die Trennung zwischen der Offentlichkeit und dem privaten Leben ist wegen des strik- ten Laizismus stark ausgepragt. Das bedeutet fur Migranten in Frankreich (und selbst fur Einheimische), dass das private Leben, wie z.B. Religion, zu Hause bleiben muss und dass sein Ausdruck in der Offentlichkeit (z.B. in der Schule) als illegitim angesehen wird. Insofern wird auf die Herkunft, die kulturelle oder sogar die politische Identitat keine Rucksicht genommen, denn sie haben keinen Platz in der Offentlichkeit. Die Plu- ralitat einer Gesellschaft ist in der franzosischen Sicht auf die eigenen vier Wande be- schrankt. Diese Neutralitat gegenuber, oder besser gesagt diese Verdeckung kultureller Differenzen kann als eine ausdrucklicher Versuch von Antidiskriminierung betrachtet werden, denn alle werden gleich angesehen. Es ist genau diese Antidiskriminierung al- lerdings, die viele Probleme und Herausforderungen fur die jugendliche Migranten dar- stellt, welche spater in dieser Arbeit beleuchtet werden.

In Deutschland existierte das nationale Bewusstsein schon vor dem Aufbau des Natio- nalstaates, die Idee der Nation war deswegen anfangs weder politisch noch, gab es eine abstrakte Idee der Staatsburgerschaft wie in Frankreich (Brubaker, 1992, u.a.). Die Ab- wesenheit einer zentralen Gewalt aufgrund schwacher Institutionen und territorialer In- stabilitat hat die Entwicklung einer gemeinsamen politischen Identitat verhindert (Kastoryano, 2002). Die Nation war auf der Suche nach einem Staat, wie er in Frank­reich existierte, wurde allerdings geleitet von der Idee einer kulturell, sprachlich und ethnisch verbundenen Volksgemeinschaft (ebd.). Diese Sicht der nationalen Einigkeit speiste sich aus der deutschen Romantik vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Dichter Johann Gottlieb Fichte inspirierte zu dieser Zeit den deutschen Nationalismus und prag- te ihn mit einer Resistenz gegenuber fremden Einflussen (ebd.). Diese Vergangenheit liefert eine Erklarung fur die Differenzierung, die in der Offentlichkeit wie z.B. in der Schule praktiziert wird. Im Gegensatz zu Frankreich ist die ethnische und kulturelle I- dentitat der Migranten in Deutschland stets prasent. Diese Wahrnehmung der Pluralitat in der Gesellschaft kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen fur Jugendli- che mit Migrationshintergrund haben.

Ironischerweise sind die nationalen Werte „Einigkeit und Recht und Freiheit“ (ebd.), die noch heute eine starke Prasenz in der Demokratie Deutschlands haben, nicht so un- terschiedlich von den universalistischen Werten Frankreichs. Diese Werte sind aber an­ders ausgepragt, denn in Deutschland geht es um die Erhaltung der nationalen Identitat auf der Grundlage kultureller Gemeinsamkeiten, wahrend es in Frankreich um die Auf- rechterhaltung einer kulturellen Identitat geht, die sich auf die politische Gemeinsam- keit stutzt. So versteht man auch, warum Deutschland eine Volksnation ist und Frank­reich eher eine Staats(burger)nation (Kastoryano, 2002). Diese gegensatzlichen Per- spektiven werden in den heutigen Staatsangehorigkeitskriterien reflektiert.

Obwohl Frankreich seine Staatsangehorigkeit auf das Prinzip jus sanguinis (Blutrecht) basiert, wurden uber die Jahre hinweg substantielle Elemente des jus soli (Bodenrecht) inkorporiert, viel mehr als in alien anderen westeuropaischen Landern (Brubaker, 1992; u.a.). Kinder mit auslandischen Eltern, die in Frankreich geboren sind, bekommen ge- maB Artikel 44 des franzosischen Staatsburgerschaftsrechts automatisch die Staatsan­gehorigkeit bei Erreichen des 18. Lebensjahrs, wenn sie in den letzten funf Jahren in Frankreich gelebt und keine Straftaten begangen haben. Und nach dem Artikel 23 des Staatsburgerschaftsrechts sind Immigranten der 3. Generation vom Geburt an franzosi- sche Staatsangehorige (Brubaker, 1992; Kastoryano, 2002; u.a.). Dabei ist interessant, dass die Staatsangehorigkeit automatisch und unkonditional verliehen wird. Bei der Einburgerung und der automatischen Verleihung des franzosischen Passes an die 2. und 3. Generation mussen sie die Staatsangehorigkeit des Herkunftslandes nicht abgeben - Mehrfachstaatsangehorigkeiten sind erlaubt (ebd.). Die franzosische Regierung erhebt offiziell keine Daten uber Personen mit Migrationshintergrund, da dies ihr Ideal der Gleichbehandlung verletzen wurde. Man kann allerdings davon ausgehen, dass die Mehrheit der Jugendlichen der 2. und 3. Generation die franzosische Staatsburgerschaft besitzt, wegen den oben erwahnten Artikel. Dies unterstutzen die folgenden Daten vom Institut national de la statistique et des etudes economiques (INSEE) aus dem Jahr 1999, dass nur 17% der Bevolkerung in den 751 so genannten Zones urbaines sensilbles (ZUS)1 keinen franzosischen Pass besitzen (zitiert in Loch, 2009, S.246).

In Deutschland gestaltet sich die Situation der Staatsangehorigkeit unter Migranten stark gegensatzlich. Lange Zeit basierten die Kriterien fur die Staatsangehorigkeit ex- klusiv auf dem jus soli, wobei die Geburt im Land oder eine lange Aufenthaltszeit in Deutschland kann Vorteile fur die Einburgerung brachten. Das anderte sich allerdings nach jahrelangen politischen Debatten in den neunziger Jahren, als die regierende SPD ein neues Gesetz durchsetzte. Damit galt ab 1. Januar 2000, dass jedes in Deutschland geborene Kind, dessen Eltern entweder selbst im Land geboren waren oder mindestens in den letzen acht Jahren dort gelebt haben, automatisch die deutsche Staatsburgerschaft bekommen (Bundesministerium des Inneren [BMI], 2009). Wenn sie aufgrund der Ab- stammung der Eltern oder anderweitig jedoch noch eine andere Staatsangehorigkeit er- werben, mussen sie bei Vollendung des 23. Lebensjahres zwischen den Staatsburger- schaften wahlen (ebd.). Sobald sie ihre deutsche Staatsangehorigkeit erworben haben, mussen sie also zudem die Staatsangehorigkeit ihres Herkunftslandes aufgeben (ebd.).

[...]


1 ZUS sind stadtische Problemgebiete

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Die Identitätsfindung und kollektive Gewalt jugendlicher Migranten in Paris und Berlin
Untertitel
Wie es zu den Ausschreitungen in Paris 2005 kam und warum es in Berlin vergleichsweise ruhig ist
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS))
Note
1,5
Autor
Jahr
2009
Seiten
82
Katalognummer
V159789
ISBN (eBook)
9783640734795
ISBN (Buch)
9783640734986
Dateigröße
1087 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Gutachters: "Vivian Ebert hat eine höchst originelle und sehr gut und gründlich recherchierte Arbeit geschrieben. Sie begründet plausibel die These eines Zusammenhangs zwischen dem Integrationsversprechen, das sich aus dem nationalen Selbstverständnis speist, und einer gewaltsamen Frustrationsentladung wegen des Nichteinlösens dieses Versprechens. Ihr gelingt es zudem elegant sowohl stadtsoziologische wie auch bildungssoziologische Elemente in die Argumentation aufzunehmen und diese dadurch abzusichern und zu verbreitern."
Schlagworte
Migration, Jugendgewalt, Nationale Identität, Staatsangehörigkeit, Bildungssysteme, Stadtsoziologie
Arbeit zitieren
Vivian Ebert (Autor:in), 2009, Die Identitätsfindung und kollektive Gewalt jugendlicher Migranten in Paris und Berlin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159789

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