Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Der Vater als Täter
2 Partizipation an der Macht
2.1 Die Schuld der Mutter
2.2 Partizipation des Ich an der Macht
3 Die Degradierung zum Objekt
3.1 Die Entmündigung des Ich
3.2 Faschismus in der Beziehung
4 Die Gesellschaft als „allergrößter Mordschauplatz“
5 Zusammenfassung
6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
1 Der Vater als Täter
Die Vaterfigur ist natürlich die mörderische ... die verschiedene Kostüme trägt, bis sie am Ende alle ablegt und dann als der Mörder zu erkennen ist. Ein Realist würde wahrscheinlich viele Furchtbarkeiten erzählen, die einer bestimmten Person oder Personen zustoßen. Hier wird es zusammengenommen in diese große Person, die das ausübt, was die Gesellschaft ausübt.[1]
Als dritter Mann tritt der Vater auf den Plan. Er ist der Potentat, der Machthaber, der die Spielregeln bestimmt, nach denen die Gesellschaft funktioniert. Die Verbildlichung der Gesellschaft als „größter Mordschauplatz“[2] wird gerade in den Traumsequenzen in vielfältiger Weise gewahr, in Übersteigerung dessen, was ist und (nach Bachmann) immer sein wird. Es handelt sich um ein hierarchisch strukturiertes Rollenspiel, das in gesellschaflichen Inszenierungen veranstaltet wird. In immer neuen Variationen des einen Grundmotivs zeigt sich die Vaterfigur als perfide Verkörperung von Richter und Henker in einer Person, der als Stellvertreter das ausagiert, was die Gesellschaft betreibt, die absolute Machtausübung gegenüber dem ihm anvertrauten und sich ihm immer wieder vertrauensvoll anvertrauenden „Ich“. Zeitlich und örtlich nicht lokalisierbar, vielleicht an einem See, aber eigentlich an einem „Ort, der heißt Überall und Nirgends“[3], liegt der „Friedhof der ermordeten Töchter“[4]:
Keine Kreuze stehen darauf, aber über jedem Grab wölkt es sich stark und finster; die Gräber, die Tafeln mit den Inschriften sind kaum zu erkennen. Mein Vater steht neben mir und zieht seine Hand von meiner Schulter zurück, denn der Totengräber ist zu uns getreten. Mein Vater sieht befehlend den alten Mann an, der Totengräber wendet sich furchtsam, nach diesem Blick meines Vaters, zu mir. Er will reden, bewegt aber nur lange stumm die Lippen, und ich höre erst seinen letzten Satz: Das ist der Friedhof der ermordeten Töchter. Er hätte es mir nicht sagen dürfen, und ich weine bitterlich.[5]
Die Inschriften sind nicht mehr lesbar, die Existenz der Toten somit verblasst, keiner kennt mehr das Heer der Namenlosen. Nicht nur, dass ein vom Vater ausgehendes Schweigegebot herrscht, das seine Taten dem Vergessen anheim gibt, auch das weibliche Ich möchte lieber nichts von den Verbrechen wissen. Es ist eine Szenerie der vollkommenen Negation weiblicher Macht, „es ist nicht mehr Freinacht“[6], wie Bachmann schreibt: Die Nacht vor dem 1. Mai, die Walpurgisnacht, ist die Nacht der Hexen mit ihren magischen Kräften, die sich jeder rationalen Ordnung entzieht, in der grenzenlose Freiheit herrscht und herkömmliche Grenzen und Schranken über Bord geworfen werden. Aber diese Zeiten sind vorüber, die Frauen haben sich der Ordnung des Vaters unterworfen. Leitmotivisch durchzieht das Friedhofsthema die verstörenden Träume des Ich, in denen es sich fortwährend seiner Vernichtung ausgesetzt sieht. Wie eine letzte Beschwörung ehemaliger Kraft und Horrorvision des Vaters wirkt die zweite Friedhofsszene:
Um den See herum liegt ein Friedhof, die Gräber sind genau zu erkennen, die Erde tut sich über den Gräbern auf, und für einen Augenblick stehen mit wehenden Haaren die gestorbenen Töchter auf, ihre Gesichter sind nicht auszumachen, die Haare fallen ihnen bis über die eine Hand, die rechte Hand aller Frauen ist erhoben und im Weißlicht zu sehen, sie spreizen die wächsernen Hände, es fehlen die Ringe, es fehlt der Ringfinger an jeder Hand. Mein Vater läßt den See über die Ufer treten, damit nichts herauskommt, damit nichts zu sehen ist, damit die Frauen über den Gräbern ertrinken, damit die Gräber ertrinken, mein Vater sagt: Es ist eine Vorstellung: WENN WIR TOTEN ERWACHEN.[7]
In einem stummen und sinnlos gewordenen Protest strecken die toten Ehefrauen dem Betrachter ihre Hände entgegen, der Ringfinger mit dem Ehering als Insignum ihrer Gebundenheit an männliche Macht, fehlt. Beschwörend heben sie die Hände in die Höhe und nehmen damit die Anklage des Ich an den Vater vorweg: Es war Mord!
2 Partizipation an der Macht
2.1 Die Schuld der Mutter
Bei meiner Mutter finde ich einen Platz, in ihrer verästelten, tausendgliedrigen, zunehmend wachsenden Tiefseestarre, ich hänge bang und furchtsam in ihre Verästelung, ich hänge an ihr, aber mein Vater greift nach mir, er greift wieder nach mir [...][8]
Das weibliche Ich fühlt sich der Mutter zugehörig, neben ihr sieht sie ihren Platz, hängt verzweifelt an ihr und sucht vergeblich nach Hilfe und Verstärkung gegenüber der despotischen Herrschaft des Vaters. In vielfältigen Verästelungen hat sich die Ohnmacht der Mutter bereits festgesetzt, regungslos verharrt sie in zunehmender Erstarrung und stummer Resignation angesichts der von ihr als ausweglos betrachteten Situation: „Die Mutter spielt keine Rolle in der Konstruktion, sie wird als Leerstelle mitgeführt. Für das weibliche Ich als Tochter hat diese Abwesenheit der Mutter große Bedeutung: Es ist die Verleugnung weiblicher Macht. Die Beteiligung der Mutter am väterlichen Massaker ist tabuisiert.“[9] Drastisch wird die Illusion einer beschützenden Mutter, an die sich das Kind vertrauensvoll wenden kann, zerstört. Durch ihr Schweigen trägt sie Mitschuld, Schweigen bedeutet, das System der Unterdrückung mitzutragen: „Die Zerstörung der weiblichen Identität ist daher sowohl als Folge des aggressiven Handelns des Vaters, wie auch des passiven Verhaltens der Mutter im ödipalen Dreieck zu erfassen.“[10] Sie arbeitet dem despotischen Vater in die Hände, indem sie die Tochter nicht als Subjekt wahrnimmt, sondern nur als ihrer beider Geschöpf. Die einzige Macht, die der Mutter bleibt, ist demnach die über ihre Tochter. Sie ist es, die die Blumen, die für das Leben des Ich stehen, ursprünglich in der Hand hält:
Meine Mutter hat drei Blumen in der Hand, es sind die Blumen für mein Leben, sie sind nicht rot, nicht blau, nicht weiß, doch sind sie für mich bestimmt, und sie wirft die erste vor meinen Vater hin, ehe er sich uns nähern kann. Ich weiß, daß sie recht hat, sie muß sie ihm hinwerfen, aber ich weiß jetzt auch, daß sie alles weiß, Blutschande, es war Blutschande, aber bitten möchte ich sie um die anderen Blumen doch, und ich sehe meinen Vater in meiner Todesangst an, er reißt, um sich auch noch an meiner Mutter zu rächen, ihr die anderen Blumen aus der Hand, er tritt auf sie, er stampft auf allen drei Blumen herum, wie er oft aufgestampft hat in der Wut, er tritt und trampelt darauf, als gälte es, drei Wanzen zu zertreten, soviel geht ihn mein Leben noch an. Ich kann meinen Vater nicht mehr ansehen, ich hänge mich an meine Mutter und fange zu schreien an.[11]
Die Tochter wird zum Bauernopfer im Gesellschaftsspiel um Machterhalt, denn um nicht selbst aufgrund ihres Widerstandes vernichtet zu werden, gibt nun die Mutter ihre Macht über das Ich auf und wirft sie dem Vater zu[12]: zunächst zwar nur eine der Blumen, in der Hoffnung, er werde sich damit begnügen, fügt sie sich aber rasch in das vorgeblich Unvermeidliche und macht sich zuletzt gar zu einer Handlangerin der Macht, indem sie die Spuren des Verbrechens tilgt: „Meine Mutter fegt die zertretenen Blumen, das bißchen Unrat, weg, stumm, um das Haus rein zu halten.“[13] Die vollkommene Entpersönlichung des weiblichen Ich gipfelt hier im Vergleich mit Ungeziefer, mit Wanzen, die zertreten und vernichtet werden müssen, um das Haus sauber zu halten. Das bißchen Unrat, das hier im Einvernehmen mit dem alles beherrschenden Vater still beiseite geschafft werden soll, ist immerhin die eigene Tochter. Die Bedrohung des Ich trägt hier sowohl die Züge des Vaters als auch der Mutter, das Bedrohungsbild wechselt von väterlicher zur (ursprünglichen) mütterlichen Autorität über das Ich.
Mein Vater hat diesmal auch das Gesicht meiner Mutter, ich weiß nie genau, wann er mein Vater und wann er meine Mutter ist, dann verdichtet sich der Verdacht, und ich weiß, daß er keiner von beiden ist, sondern etwas Drittes, [...] Ich trete zu meiner Mutter, sie hat die Hosen meines Vaters an, und ich sage zu ihr: Heute noch wirst du mit mir sprechen und mir Antwort stehen! Aber meine Mutter, die auch die Stirn meines Vaters hat und sie genauso wie er hochzieht in zwei Falten über den müden Augen, murmelt etwas von >später< und >keine Zeit<.[14]
Beide Elternteile übernehmen keinerlei Verantwortung für ihr Tun, sie müssen sich gegenüber dem Ich nicht rechtfertigen. Bachmann legt hier den Allgemeincharakter ihrer Aussagen dar: in Wahrheit ist es natürlich nicht eine Mutter oder ein Vater, sondern ein Drittes, ursächlich nicht in einer einzelnen Person festzumachendes Konstituens unserer Gesellschaft, das die Beziehungen zwischen den Geschlechtern festlegt und auf akzeptierte Rollenmodelle festschreibt. Jessica Benjamin konstatiert eine tiefenpychologische Disposition zur Unterwerfung unter Personifikationen der Macht, die in der Beziehung des weiblichen Kindes zur Mutter wurzelt: Das Mädchen in seiner Entwicklung identifiziert sich mit der Mutter, wodurch sich in Folge der Nachteil ergibt, „dass es keine eindeutige Möglichkeit gibt, sich von der Mutter zu des-identifizieren, denn es gibt keine äußeres Merkmal der Ablösung“[15] Die Mutter „verweigert [...] durch ihre Abwesenheit der Tochter die Möglichkeit einer weiblichen Identifikation.“[16] Die Verweigerung der Anerkennung als selbständiges Subjekt durch die Eltern und besonders durch die Mutter als erstes Bezugsobjekt in der kindlichen Entwicklung gipfelt in der Unterordnung des weiblichen Ich:
Wenn das Kind nicht auf den Beifall der Eltern verzichten kann, muß es eben seinen Willen aufgeben. Es entscheidet sich, lieber brav und folgsam zu bleiben. Statt seine Selbsttätigkeit zu erleben, braucht das Kind nun den Schutz und die Bestätigung der Eltern, wobei die Eltern in seinen Augen immer „allmächtig“ bleiben.[17]
Das Ich in Ingeborg Bachmanns Malina ist nicht als handelndes Subjekt gekennzeichnet, es ist nicht „Urheberin [seines] Tuns.“[18] Wie ein kleines schutzbedürftiges Kind überlässt es das Handeln und die (Ob)sorge um die eigene Person den Autoritätspersonen, von denen es sich Schutz und „Befreiung“ aus der eigenen Passivität erwartet: „Bitte befreien Sie mich! Befreien Sie mich von dieser Stunde! Ich rede mit meiner hohen Stimme aus der Schulzeit, [...] liege ich auf dem Boden und denke, ich muß die Menschen noch rufen können, und mit ganzer Stimme, die mich retten können. [...]“[19] Einer der Angstträume thematisiert die Furcht vor dem Verlassenwerden. Die Angst vor dem Verlust der Verbindung führe laut Benjamin dazu, „die Bindung an die Mutter durch Gehorsam und Selbstverleugnung aufrechtzuerhalten“[20], die daraus resultierende „Verschmelzung und Kontinuität auf Kosten von Individualität und Unabhängigkeit schafft eine Disposition zu willfähriger Unterordnung.“[21]
[...] ich friere so sehr und warte mit dem Telefon [...] es gibt keine Verbindung mehr, ich bin abgeschnitten, ich bin allein, nein kein Schiff mehr! Und während ich auf Antwort warte, sehe ich wie verdüstert die Sonneninsel ist, die Oleanderbüsche sind umgesunken, der Vulkan hat Eiskristalle angesetzt, auch er ist erfroren, es ist das alte Klima nicht mehr.[22]
Dem Ich erscheint die Welt aus sich selbst heraus nicht zugänglich, ihm scheint paradoxerweise der Zugang zu eigenständigem Leben nur über andere Personen möglich, von denen es beachtet werden möchte, und sucht nach Anerkennung, um sein Selbstwertgefühl zu stärken, denn
[...]
[1] Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hrsg. v. Christine Koschel u. Inge von Weidenbaum. München [u.a.] : Piper 1983, S. 97
[2] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 173
[3] ebd., S. 173
[4] ebd., S. 173
[5] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 176
[6] ebd., S. 176
[7] ebd, S. 218
[8] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 190
[9] zit. nach: Bärbel Lü>
[10] Bettina Stuber: Zu Ingeborg Bachmann. „Der Fall Franza“ und „Malina“. Rheinfelden [u.a.]: Schäuble 1994, S. 209
[11] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 180
[12] Vgl. dazu auch: Edith Bauer: Drei Mordgeschichten. Intertextuelle Referezen in Ingeborg Bachmanns „Malina“. Frankfurt am Main [u.a.] : Lang 1998, S. 63
[13] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 180
[14] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 229
[15] Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Franfurt am Main: Fischer TB 1996, S. 78
[16] Bettina Stuber: Zu Ingeborg Bachmann. „Der Fall Franza“ und „Malina“. Rheinfelden [u.a.]: Schäuble 1994, S. 209
[17] Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Franfurt am Main: Fischer TB 1996, S. 16
[18] ebd., S. 24
[19] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 177
[20] Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Franfurt am Main: Fischer TB 1996, S. 48
[21] Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Franfurt am Main: Fischer TB 1996, S. 48
[22] Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 179