Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
0 Einleitung
1 Filminhalt
2 Die Darstellung jüdischer Männlichkeit in Woody Allens Film Annie Hall am Beispiel der Filmfigur Alvy Singer
2.1 Jüdischkeit
2.2 Geschlechterstereotype
2.3 Männlichkeiten
2.4 Alvy Singer
3 Fazit
Literaturverzeichnis
0 Einleitung
Im Jahr 1977 erschien Annie Hall[1] unter der Regie von Woody Allen, der zusammen mit Marshall Brickman auch das Drehbuch zum Film schrieb. Annie Hall ist der erste Film von Allens so genannter New-York-Trilogie, zu der auch seine Filme Manhattan (1979) und Stardust Memories (1980) zählen.
Dass Filme keine authentischen Abbildungen der Realität sind, steht außer Frage. Und doch möchte dieses Medium dem Betrachter die Illusion von Realität vermitteln. Bei der Konstruktion und Reproduktion von Geschlechterstereotype spielen Film und Fernsehen eine nicht zu unterschätzende Rolle, da sie Massenmedien sind und somit eine große Anzahl von Menschen erreichen. Geschlecht wird tagtäglich in Interaktionsprozessen hergestellt und so kann auch das Betrachten eines Filmes als ein Faktor im Prozess des Doing Gender gesehen werden.
Die männliche Hauptfigur des Films Annie Hall ist der jüdische Komiker Alvy Singer. In meiner Arbeit werde ich diese durch Woody Allen dargestellte Männlichkeit analysieren. Dabei beziehe ich mich unter Anderem auf das Konzept von Robert W. Connell, welches im Kapitel 2.3 Männlichkeiten näher erläutert wird.
Bei der Untersuchung des Charakters Alvy Singer entstehen dabei folgende Fragen: Welche Charaktereigenschaften besitzt diese Figur und wie grenzen sich deren Charaktereigenschaften von stereotypen männlichen Eigenschaften ab? Ist die Figur Alvy Singer ein neuer Entwurf von Männlichkeit oder dient er nur der Festigung der hegemonialen Männlichkeit?
Ein nicht zu ignorierender Faktor bei der Analyse Alvy Singers ist sein jüdischer Hintergrund. Innerhalb historischer Prozesse wurden männliche Juden zu einem „Anti-Typus der modernen Maskulinität“[2] und ich möchte es vermeiden, einige der Charaktereigenschaften Alvy Singers in den Bereich des unmännlichen zu rücken. Alvy Singer ist ein Männlichkeitsentwurf unter vielen und sein jüdischer Hintergrund ist dabei ein prägendes Element seines Charakters.
Bei der Analyse des Filmes bzw. der Dialoge der Filmfiguren erwies sich die deutsche Fassung des Drehbuches von Woody Allen und Marshall Brickman als problematisch, da die Dialoge teilweise sehr von denen der Originalfassung des Filmes abweichen. Ich habe nur die Beschreibung der Orte und der Bewegungen der Figuren aus der deutschen Drehbuchfassung übernommen. Die Dialoge sind die der Originalfassung des Filmes.
1 Filminhalt
Im Mittelpunkt der Erzählung steht der mäßig erfolgreiche, intellektuelle jüdische Komiker Alvy Singer (Woody Allen), der in Brooklyn aufgewachsen ist und sich im Verlauf des Films als Mann mit Neurosen, Hypochondrie, Paranoia und einem schwierigen Verhältnis zu Frauen entpuppt. Zwar liebt er die Frauen und die Frauen lieben ihn, jedoch fällt es ihm schwer, Beziehungen aufrechtzuerhalten. Einzig seine Liebe zu der Stadt New York ist beständig. Eines Tages lernt Alvy Annie Hall (Diane Keaton) kennen, die eine WASP[3] ist, und die beiden verlieben sich ineinander.
Der/Die ZuschauerIn verfolgt die Beziehung von Alvy und Annie auf verschiedenen Zeitebenen, wobei die Reihenfolge der Erlebnisse nicht chronologisch ist. Bereits die erste Szene gibt Aufschluss darüber, dass die beiden sich getrennt haben. Hinzu kommen Rückblenden zu vergangenen Beziehung der beiden und zu Alvys Kindheit. Realität, Gedankenspiel, verklärte Erinnerungen und Gedankensprünge gehen in Annie Hall nahtlos ineinander über und stellen den/die ZuschauerIn vor die Aufgabe, diese zu unterscheiden und die verschiedenen Zeitsprünge zu erkennen, da sie nicht explizit als solche gekennzeichnet werden.
2 Die Darstellung jüdischer Männlichkeit in Woody Allens Film Annie Hall am Beispiel der Filmfigur Alvy Singer
Um mich mit jüdischer Männlichkeit am Beispiel von Alvy Singer auseinandersetzen zu können, bedarf es der Definitionen von Jüdischkeit und Männlichkeit.
Setzt man sich mit Männlichkeit auseinander, kommt man nicht daran vorbei, sich auch mit Weiblichkeit zu beschäftigen. Beides sind kultursoziologische Konstrukte und existieren nur in der Relation zueinander. Deshalb erläutere ich, neben Jüdischkeit und dem Männlichkeitsbegriff, auch kurz den Geschlechterbegriff.
2.1 Jüdischkeit
Es gibt verschiedene Auslegungen darüber, was einen Menschen zum Juden macht. Vor der Zeit der Aufklärung war die Definition von Juden sehr eng gefasst. Doch im Laufe der Aufklärung kam es – besonders in West- und Mitteleuropa, wo das Assimilationsbestreben der dort lebenden Juden ausgeprägter war als im Osten – zu Lockerungen der Begriffsdefinition. Bis heute gibt es keine allgemeingültige Definition darüber, was einen Menschen zum Juden macht.[4]
Innerhalb der orthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft gilt die Regel, dass nur der Mensch jüdisch ist, dessen Mutter Jüdin ist. Wenn der Vater des Kindes Jude ist, die Mutter jedoch eine Nicht-Jüdin, wird auch das Kind als nicht-jüdisch betrachtet. Konvertierte Kinder werden vor Eintritt in den religiösen Erwachsenenstatus gefragt, ob sie jüdisch bleiben wollen.
Andere jüdische Glaubensgemeinschaften, wie das amerikanische Reformjudentum und das Liberale Judentum in Großbritannien, erkennen ein Kind mit nur einem jüdischen Elternteil – egal ob Mutter oder Vater – als jüdisch an. Es muss jedoch nach den Standards dieser Gemeinschaften aufgezogen werden. Diese Glaubensgemeinschaften sind Konversionen offen gegenüber eingestellt.
Seit dem Jahre 1970 gilt im Staat Israel, laut dem Heimkehrergesetz, der Mensch als Jude, dessen Mutter Jüdin ist oder der nach den orthodoxen religiösen Regeln zum Judentum konvertiert ist. Jude bezeichnet nach offiziellem israelischem Verständnis keine Bezeichnung einer Nationalität, weil alle Juden, egal welche Staatsangehörigkeit sie besitzen, zum jüdischen Volk gehören.
In den meisten weltlichen jüdischen Gemeinschaften wird jeder Mensch als Jude akzeptiert.[5]
Andere Definitionen bezeichnen die Juden, jenseits der religiösen Gemeinschaft, als eine Kulturgemeinschaft. Unter ihnen gibt es „Gemeinsamkeiten, die sich nicht wie ein Glaubensbekenntnis in freier persönlicher Entscheidung annehmen oder ablehnen lassen: ein gemeinsamer kultureller Ursprung und eine gemeinsame Geschichte“[6]. Diese gemeinsame Geschichte und vor allen Dingen die Erinnerung an die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg machen die Juden zu einer „Schicksalsgemeinschaft, die sich nicht nur selbst definiert, sondern auch von außen definiert wurde“[7].
Ein Beispiel für die (Neu-)Definition von Juden innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ist Max Nordau (1849-1923), Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation. Er prägte den Begriff des Muskeljuden als Gegenbegriff zum intellektuell orientierten Nervenjuden, womit der Diaspora-Jude gemeint war. Max Nordau erhoffte sich vom Zionismus, „dass er das Bild des Juden revolutioniere und einen ‚neuen Juden‘ erschaffe“[8]. Ziel war es, mit Hilfe von Sport das jüdische Volk zu regenerieren, den nervösen Juden mit seinen Neurosen zu überwinden und durch Körperertüchtigung einen Beitrag zur Realisation des zionistischen Plan zu leisen.[9]
Die ‚Rassen‘-Politik der Nationalsozialisten ist ein Beispiel dafür, wie Juden von außen definiert wurden. Diese Definitionen stimmten nicht mit den traditionellen jüdischen überein. Auch wurde die Physiognomie und Psyche der Juden zum Gegenstand der nationalsozialistischen Untersuchungen, um „sozialtypische und ‚rassische‘ Merkmale festzustellen. Josef Wastl (1892-1968), Kustos der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien, [...] organisierte [...] im Mai 1939 eine Sonderschau ‚Das körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden‘“[10]. Diese bewusste Kreation eines Stereotyps des Juden zielte einzig und allein auf Stigmatisierung und Ausschluss. Dies gipfelte in der systematischen Vernichtung von circa sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs.
Thomas J. Kinne geht darauf ein, dass es „neben einer verbreiteten Ablehnung insbesondere der streng orthodoxen Religionsausübung unter Juden, gerade auch in der Diaspora, eine Tendenz [gibt], sich aufgrund der geschichtlichen Erfahrung der Juden und der erzwungenen Gruppenzugehörigkeit als Zeichen der Selbstbestimmung nicht nur der Glaubens- , sondern auch der Schicksalsgemeinschaft – zumindest nominell- zu entziehen“[11].
Aber auch das Gegenteil ist möglich, nämlich dass „gerade die Verfolgung der Juden aus Solidarität auch eine neue Identifikation mit der Gemeinschaft hervorrufen unter denjenigen, die den Glauben zwar ablehnen, sich aber durch das Schicksal weiterhin der Gruppe verbunden fühlen“[12].
Es gibt also verschiedenen Definitionen von Juden. Man kann jedoch sagen, dass sie sowohl eine Religions- als auch eine Schicksalsgemeinschaft sind.
2.2 Geschlechterstereotype
In den heutigen westlichen Industriestaaten setzte man sich in den letzten Jahrhunderten wiederholte Male mit der Frage nach dem Geschlecht und den Eigenschaften des männlichen oder weiblichen Körpers auseinander. Besonders im Zuge der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht in der bürgerlichen Gesellschaft die Vorstellung von binären Geschlechterrollen und somit von stabilen männlichen und weiblichen „Geschlechtscharakteren“[13]. Diese Theorien basieren unter Anderem auf der einsetzenden Trennung von privatem und öffentlichem Raum durch die mit der Industrialisierung einsetzende Erwerbsarbeit. Die Wertung dieser beiden Sphären war bzw. ist bis heute nicht ausgeglichen, denn der private Raum war und ist dem öffentlichen untergeordnet. Somit waren Frauen für den häuslichen Bereich und die Familie verantwortlich, während Männer den öffentlichen Raum der Berufsarbeit, der Kunst und der Wissenschaft für sich beanspruchten.[14]
Die zu diesem Zeitpunkt in der Wissenschaft weit verbreitete Vorgehensweise der Kategorisierung von Wissen machte auch vor den Geschlechtern nicht halt. Mit dem Entwurf von so genannten Geschlechtscharakteren versuchte man die strikte Teilung der Sphären mit Argumenten zu untermauern. Zwischen 1750 und 1850 entstanden in der Humanwissenschaft eine Theorie der Frau und damit verbunden auch eine Theorie der Geschlechterordnung, die auf einer Zurechnung der Frau zur Natur und des Mannes zur Kultur beruhte. Die Gebärfähigkeit der Frau wurde zum Hauptargument für das Naturwesen Frau und markiert eine wichtige Grundlage für die Gleichsetzung des Männlichen mit dem Allgemeinen, welche sich bis heute hartnäckig hält. Den Geschlechtern wurden Eigenschaften zugeschrieben und diese naturalisiert. Sie sind als binäre Oppositionen konstruiert. Um daraus eine Geschlechterhierarchie zu begründen, ist die Wertung der jeweiligen männlichen und weiblichen Konnotationen nicht gleich, sondern asymmetrisch. Frauen wurden Eigenschaften wie z. B. passiv, freundlich, emotional, ängstlich, schwach, abhängig zugewiesen und - im Gegensatz dazu - aktiv, aggressiv, rational, mutig, stark, unabhängig, den Männern.[15]
Diese Geschlechterstereotype umfassen zwei Komponenten. „ Die deskriptive [kursive Hervorhebung durch den Autor] Komponente umfasst Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sind, d. h. Individuen werden allein aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit ganz bestimmte Merkmale zugeschrieben. [...] Die präskriptive Komponente bezieht sich auf Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sein sollten oder wie sie sich verhalten sollten.“[16] Diese Geschlechterstereotype wurden über die Jahrzehnte immer wieder in ihrer Wertung modifiziert, sie selber bilden jedoch „den Kern eines konsensuellen, kulturell geteilten Verständnisses von den je typischen Merkmalen der Geschlechter“[17]. Geschlechtstypisierung, d. h. „das Zusammenwirken von biologischen, sozialen und psychischen Prozessen der Geschlechterdifferenzierung“[18], beginnt im Babyalter und dauert, genau wie Darstellung des eigenen Geschlechts mit Hilfe von normativen Vorgaben zum Verhalten und Handeln, ein ganzes Leben an. Dass die Geschlechtsstereotype dabei einem Naturalisierungsprozess unterzogen werden, macht sie sehr hartnäckig.[19]
Bei der Konstruktion und Reproduktion von Geschlechterstereotype und der daraus folgenden Benachteiligung für bestimmte Personengruppen spielen Medien wie Fernsehen und Film eine nicht zu unterschätzende Rolle. „Durch die immer wiederkehrende Präsentation von Figuren, die durch ihre Erscheinung und Einbindung in das Programm als Frauen oder Männer identifiziert werden, entstehen und verfestigen sich Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Dies bedeutet nicht, dass die Menschen diesen Konstruktionen hilflos gegenüber stünden. Sie können sich bewusst gegen diese abgrenzen, die Maßstäbe von ,typischer Weiblichkeit‘ und ,typischer Männlichkeit‘ werden jedoch zunächst fundamentiert.“[20]
[...]
[1] Der Titel der dt. Synchronfassung lautet Der Stadtneurotiker. Dieser damalige Neologismus verbreitete sich danach immer mehr in der Sekundärliteratur und ist mittlerweile zu einem Begriff der deutschen Alltagssprache geworden. Vgl. Janssen, Angelika: Deconstructing Woody Allen. Frankfurt am Main 2002, S. 77.
[2] Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. New York 1996, S. 82.
[3] WASP ist die Abkürzung für White Anglo-Sexan Protestant
[4] Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Jude (Stand September 2008)
[5] Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Jude (Stand September 2008)
[6] Kinne, Thomas J.: Elemente jüdischer Tradition im Werk Woody Allens. Frankfurt am Main 1996, S. 40-41.
[7] Ebd., S. 41.
[8] Zimmermann, Moshe: Muskeljuden versus Nervenjuden. In: Brenner, Michael/Reuveni, Gideon (Hrsg.): Emanzipation durch Muskelkraft. Juden und Sport in Europa. Göttingen 2006, S. 15.
[9] Vgl.: Ebd. S. 15-28.
[10] Jüdisches Museum Berlin/Jüdisches Museum Wien (Hrsg.): Typisch! Klischees von Juden und Anderen. Berlin 2008, S. 58.
[11] Kinne, Thomas J.: Elemente jüdischer Tradition im Werk Woody Allens. Frankfurt am Main 1996, S. 43.
[12] Ebd.
[13] Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Hark, Sabine (Hrsg.): Diskontinuitäten: Feministische Theorie. Opladen, 2001, S. 162.
[14] Vgl. http://www2.gender.hu-berlin.de/geschlecht-ethnizitaet-klasse/www.geschlecht-ethnizitaet-klasse.de/indexb5e9.html?set_language=de&cccpage=referat&set_z_referentinnen=1 (Stand Juli 2007)
[15] Vgl. Ebd. (Stand Juli 2007)
[16] Eckes, Thomas: Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2004, S. 165.
[17] Ebd.
[18] Ebd.
[19] Vgl.: http://www2.gender.hu-berlin.de/geschlecht-ethnizitaet-klasse/www.geschlecht-ethnizitaet-klasse.de/indexb5e9.html?set_language=de&cccpage=referat&set_z_referentinnen=1 (Stand Juli 2007)
[20] Götz, Maya: Männer sind die Helden. Geschlechterverhältnisse im Kinderfernsehen. In: Televizion (Zeitschrift), München, Ausgabe: 12/1999/II.