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Organismusmodelle im 19. und 20. Jahrhundert. Die Gegenüberstellung der Modelle von Rudolf Virchow (1821-1902) und Hans Hass (1919-2013)

Kausal geschlossene Systeme versus offene Systeme

Summary Excerpt Details

Organismen werden seit dem 19. Jahrhundert entweder als geschlossene Systeme oder als offene Systeme betrachtet. Die unbefriedigenden Lösungen der Kausalmodelle für Lebewesen (als geschlossene Systeme) seit G.E. Stahl (1659-1734) konnten auch mit Immanuel Kant (1724-1804) und F.W.J. Schelling (1775-1854) nicht wesentlich verbessert werden. Mechanische kausale Systeme wurden effektiv in der Zellenlehre erforscht und für die Medizin eingesetzt (Z. B. Rudolf Virchow, 1821-1902). Die Selbsterhaltung des Organismus bleibt auch hier ihr eigentlicher Zweck. Die Energon-Theorie von Hans Hass (1919-2013) zeigt ebenso (nun werden Organismen als offene Systeme interpretiert), dass Zweckmäßigkeit, diesmal als evolutionärer kausaler Zwang, auch nach der Darwin’schen Revolution durchaus erhalten bleibt. Die Sichtweisen des Lebewesens als geschlossenem System oder als offenem System scheinen sich nicht gegenseitig auszuschließen, sondern zu ergänzen.

Organisms have been considered either as closed systems or as open systems since the 19th century. The unsatisfactory solutions of causal models for living beings since G.E. Stahl (1659-1734) could not be significantly improved even with Immanuel Kant (1724-1804) and F.W.J. Schelling (1775-1854). Mechanical causal systems were effectively researched in cell theory and applied in medicine (e.g. Rudolf Virchow, 1821-1902). The self-preservation of the organism remains its purpose here as well. The Energon Theory by Hans Hass (1919-2013) also shows that functionality (or: purposefulness) as an evolutionary causal pressure persists in causal modelling even after the Darwinian revolution. The perspectives of the living being as a closed system or as an open system do not seem to exclude each other but rather complement each other.

Excerpt


Abstract (Deutsch): Organismen werden seit dem 19. Jahrhundert entweder als geschlossene Systeme oder als offene Systeme betrachtet. Die unbefriedigenden Lösungen der Kausalmodelle für Lebewesen seit G.E. Stahl (1659-1734) konnten auch mit Immanuel Kant (1724-1804) und F.W.J. Schelling (1775-1854) nicht wesentlich verbessert werden. Mechanische kausale Systeme wurden effektiv in der Zellenlehre erforscht und für die Medizin eingesetzt (Z. B. Rudolf Virchow, 1821-1902). Die Selbsterhaltung des Organismus bleibt auch hier ihr eigentlicher Zweck. Die Energon-Theorie von Hans Hass (1919-2013) zeigt ebenso, dass Zweckmäßigkeit, diesmal als evolutionärer kausaler Zwang, auch nach der Darwin’schen Revolution durchaus erhalten bleibt. Die Sichtweisen des Lebewesens als geschlossenem System oder als offenem System scheinen sich nicht gegenseitig auszuschließen, sondern zu ergänzen.

Abstract (English): Organisms have been considered either as closed systems or as open systems since the 19th century. The unsatisfactory solutions of causal models for living beings since G.E. Stahl (1659-1734) could not be significantly improved even with Immanuel Kant (1724-1804) and F.W.J. Schelling (1775-1854). Mechanical causal systems were effectively researched in cell theory and applied in medicine (e.g. Rudolf Virchow, 1821-1902). The self­preservation of the organism remains its purpose here as well. The Energon Theory by Hans Hass (1919-2013) also shows that functionality (or: purposefulness) as an evolutionary causal pressure persists in causal modelling even after the Darwinian revolution. The perspectives of the living being as a closed system or as an open system do not seem to exclude each other but rather complement each other.

Beginnen wir mit einem Zitat des späten Wiener Biologen Dr. Hans Hass (1919-2013), der in seinen naturphilosophischen Schriften durchaus theoretische Reflexionen über den Begriff von Lebewesen zu bieten hatte. Hass war sich durchaus bewusst, dass die Naturwissenschaften eigene Konzeptionen haben, die ihre Unabhängigkeit von religiösen Schöpfungsgedanken behaupten oder zumindest, um des wissenschaftlichen Fortschritts willen, eine Unabhängigkeit ihres Gedankenkreises von dem einfachen Gedanken, dass Leben ein Wunder von Gott ist, anstreben. Hass brachte das in einem Interview mit dem Journal Die Furche zum Ausdruck:

„Ich denke zwar, daß hinter dem Universum und hinter allem Leben, eine prima causa steht. Als Naturwissenschaftler aber glaube ich nicht an einen persönlichen Gott, der die Schöpfung steuert. Ich bin Darwinist und beschäftige mich seit langem mit Fragen der Evolution. Darwin hat nachgewiesen, daß wir Teil eines großen Entwicklungsvorganges sind, der vor etwa vier Milliarden Jahren in den Urmeeren seinen Anfang genommen hat. In: „ Die Katastrophe vor uns läßt sich vermeiden“, 4. Februar 1999, Hans Hass im Interview mit Felizitas von Schönborn, "Die Katastrophe vor uns läßt sich vermeiden" | DIE FURCHE.

Hans Hass greift dabei unbewusst auch auf Konzeptionen zurück, die weit hinter Darwin zurückreichen und die uns verraten, dass der naturwissenschaftliche Gedanke neben althergebrachten Konzeptionen von Organismen als Geschöpfen, als Wunder der Natur, steht. Tatsächlich geht es aber nach dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert um die Frage, nach welcher kausalen Modellvorstellung der Organismus zu verstehen ist, also um Wissenschaft, sofern sie dem Glauben nicht widerspricht. Das ist aus dem Grunde sehr wichtig, da auch die Methodensuche in der Heilkunde des Menschen mit diesen grundlegenden Konzeptionen, oder anders gesagt: mit Modellen des funktionierenden Organismus, arbeiten muss.

Nun gibt es Trends in der Vorgehensweise (beruhend auf einem Glauben an vermeinte Ursprünge von Krankheiten) bei der medizinischen Bekämpfung vom Kranksein der Organismen, die auf einem grundlegenden Verständnis dessen beruhen, wie man sich den gesunden und auch den erkrankten Organismus vorstellt. Wo liegen die Ursachen für Krankheiten? Durch die Zellbiologie wurden enorme wissenschaftliche Fortschritte erzielt. Nicht nur Krankheiten, hervorgerufen durch Virenbefall, wie zum Beispiel Corona, Pocken, HIV, Tollwut etc., sondern zum Beispiel auch Krebserkrankungen können nur nach dem Studium der menschlichen Körperzellen effektiv bekämpft werden. Krebs ist als Erkrankung der Körperzellen ja bekanntlich erst durch ein Studium der Körperzellen zu entdecken, als eine Wucherung und unkontrollierte Vermehrung der ursprünglich gesunden Körperzellen.

„Wenn sich die Zellen aber immer stärker verändern, unkontrolliert zu teilen beginnen und Knoten oder Wucherungen bilden, entsteht eine von mehr als 200 Krankheiten, die ,Krebs‘ genannt werden. Wucherungen allgemein werden als Tumoren bezeichnet.

Ein bösartiger Tumor (Krebs) unterscheidet sich von einem gutartigen Tumor dadurch, dass er (1) Gewebegrenzen überschreitet, (2) das umliegende Gewebe zerstört und (3) Tochtergeschwulste entwickeln kann.“ https://www.gesundheitsinformation.de/wie- krebszellen-wachsen-und-sich-ausbreiten.html.

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

Abbildung oben, In: https://de.wikipedia.org/wiki/Krebs (Medizin), Grafik: Garak76 (Suhadi Jorhaa'ir), „Zellteilung normal im Gegensatz zu Krebs“, Bild unverändert, Nutzungslizenz: Copyrighted free use.

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

Abbildung oben, In: https://de.wikipedia.org/wiki/Malignes Melanom, „Malignes Melanom der Haut“, Fotograf unbekannt (National Cancer Institute, Nordamerika), Bild unverändert, Nutzungslizenz gemeinfrei.

Hier ist in der medizinischen Forschung, um Heilkunde richtig durchführen zu können, das Studium der Zellen, aus denen der menschliche Körper aufgebaut ist, von großer Wichtigkeit. Es war jedoch sehr lange nicht deutlich, dass der menschliche Körper nur aus einer ungeheuer großen Menge von Zellen besteht, da das, was man im Mikrobereich am Anfang ausschließlich durchs Lichtmikroskop an Formen und belichteten Strukturen sah, erst interpretiert und intelligibel gemacht werden musste. Rudolf Virchow (1821-1902) machte hier große Fortschritte in der Lehre von menschlichen Körperzellen, und er erklärte, dass der ganze Körper, gerade für den Mediziner, aus nichts anderem als Zellen besteht:

„Es handelt sich bei dieser Anwendung der Histologie [d.h. die allgemeine Gewebelehre, die sich mit in allen Organen vorkommenden Geweben befasst, A.F.] auf Physiologie und Pathologie zunächst um die Anerkennung, dass die Zelle wirklich das letzte eigentliche Form-Element aller lebendigen Erscheinung sei, und dass wir die eigentliche Action nicht über die Zelle hinausverlegen dürfen.“ In: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin: Hirschwald Verlag, 1858, 3.

Nicht nur ist damit der menschliche Körper ausschließlich aus Körperzellen aufgebaut, sondern Virchow hält auch fest, dass es ihm selbst zufolge keine Zelle gibt, die aus etwas anderem als einer vorangegangenen Zelle hervorgegangen sei. Eine Zelle ist aus keinen anderen organischen Substanzen spontan entstanden, sondern ausschließlich aus anderen Zellen:

„Wo eine Zelle entsteht, da muss eine Zelle vorausgegangen sein, ebenso wie das Thier nur aus dem Thiere, die Pflanze nur aus der Pflanze entstehen kann. Auf diese Weise ist, wenngleich es einzelne Punkte im Körper gibt, wo der strenge Nachweis noch nicht geliefert ist, doch das Princip gesichert, dass in der ganzen Reihe alles Lebendigen, dies mögen nun ganze Pflanzen oder thierische Organismen oder integrirende Theile derselben sein, ein ewiges Gesetz der co nt i n u i r l ic h e n Entwicklung besteht. Es gibt keine Discontinuität der Entwicklung in der Art, dass eine neue Generation von sich aus eine neue Reihe von Entwicklungen begründete. Alle entwickelten Gewebe können weder auf ein kleines, noch auf ein grosses einfaches Element zurückgeführt werden, es sei denn auf die Zelle selbst.“ In: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin: Hirschwald Verlag, 1858, 25.

Um Heilung zu erzielen suchen wir entweder Krankheitsursachen in insgesamt nach außen hin geschlossenen Systemen, also ganzen Systemen, oder wir suchen Ursachen für Krankheit in den Umwelten, und erklären Kranksein dann eigentlich durch ökosystemische Veränderungen, das in der Umweltgegebenheit seine entscheidende Ursache hat und durch Veränderungen der System-Umwelt-Gegebenheiten zu beheben ist. Die Krankheits- (oder auch Gesundheits-) Ursache muss also entweder durch ein geschlossenes System des Organismus (gerade in Absehung der Umwelten und unter der Berücksichtigung von

Körperzellen und deren Interaktionen) oder eben ausschließlich in dem Zusammenspiel mit den Ursachen in der Umwelt und deren Interaktion mit dem einzelnen Organismus gesucht werden. Entweder ich analysiere in meiner Suche nach Krankheitsursachen das Innenleben geschlossener Systeme, den Konrad Lorenz‘schen „Kausalfilz“, in dem eigentlich kaum teleologische (eher wohl doch mechanische) Ordnung ad hoc sichtbar zu finden ist. Oder ich analysiere in meinem Streben nach Heilung die Gesundheit von auf den Organismus einwirkenden Umweltfaktoren, betrachte also den Organismus selbst in seinem Gesamt als primär für sein Wohlbefinden ausgerüstet, abhängig von Außenfaktoren und dem Energiefluss zwischen Innenwelt und Außenwelt des Lebewesens. Nun liegt es nahe, dass der Pathologe Rudolf Virchow mit seiner zum Erklärungsprinzip erhobenen Zellenlehre den ersteren Weg beschritt, während hundert Jahre später der Biologe und berühmte Meeresforscher Dr. Hans Hass, gemeinsam mit den Denkern der Ökologie seiner Zeit, den zweiten Weg wählte.

Rudolf Virchow untersucht programmatisch den Mechanismus innerhalb eines Organismus, während Hans Hass eben die Einwirkung von äußeren Ursachen und zwar über die evolutionäre Zeit hinweg untersucht. Virchow ist noch ganz auf die mechanische Erforschung der menschlichen Körperzellen fokussiert, wie er in seiner Cellularpathologie von 1858 bekennt:

„In der Folge dieser Vorträge werden Sie sich überzeugen, dass man für das Einzelne kaum mechanischer denken kann, als ich es zu thun pflege, wo es sich darum handelt, Vorgänge, deren Erklärung wir suchen, zu deuten. Aber ich glaube, dass man das festhalten muss, dass, wie viel auch von dem feineren Stoff-Verkehr, der innerhalb der Zelle geschieht, jenseits des materiellen Gebildes als Ganzen liegen mag, doch die eigentliche Action von diesem Gebilde als solchem ausgehe, und dass das lebende Element nur so lange wirksam ist, als es uns wirklich als Ganzes, für sich bestehend, entgegentritt.“ In: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin: Hirschwald Verlag, 1858, 3.

Die Zweckmäßigkeit kausaler Struktur ist auch bei Virchow gegeben, für den die Aktion des menschlichen Körpers von dem „materiellen Gebilde als Ganzem“, also dem Zellkörper als Ganzem, ausgeht. Die Zellfunktionen müssen gesund sein, sonst kann der menschliche Körper nicht gesund sein. Der Zweck eines gesunden Lebewesen ist seine gesunde Selbsterhaltung, sein weiteres Funktionieren, jede Stunde und jeden Tag, an dem der Organismus lebt. Das Wesen des Lebewesens bleibt jedoch so auch zweckorientiert, also der Organismus strebt wie die einzelne Körperzelle das (gesunde) Überleben an. Ähnlich hundert Jahre später beim Biologen Hass: Insofern ist das Verstehen des Organismus durch sein evolutionäres Gewordensein eine Erklärung für den gesunden Organismus in der Jetztzeit. Nur beim Biologen Hass bleibt unter dem Einfluss des Darwinismus eben die Theorie der Entstehung des (gesunden) Organismus als Evolutionsendprodukt wichtig. Der Arzt Virchow hingegen schreitet zum Studium gesunder und kranker Organismusfunktionen fort, er bleibt orientiert am praktischen Erfolg der Studien und wissenschaftlichen Untersuchung des menschlichen Körpers für darauf aufbauende Heilungsverfahren.

Untersuchen wir die hier zutage tretenden Differenzen in der Ontologie des Organismus. Ontologische Annahmen haben immer einen Sinn. Man kann argumentieren, dass die Zelllehre Virchows den Sinn hatte Krankheiten besser diagnostizieren, und behandeln zu können. Hans Hass‘ hingegen hat ungefähr einhundert Jahre später einen ganz anderen Punkt (und zwar gemeinsam mit einigen Ökosystem-Theoretikern seiner Zeit, z.B. Laurel Lindeman und A. G. Tansley) entdeckt. Der gesunde Organismus ist ein Produkt seiner Umwelt. Dies gilt nicht nur insofern er uns heute gegenwärtig in der evolutionären Zeit entstanden ist. Vielmehr gilt das auch jeden Tag, in dem er in seiner Umwelt leben muss, also als Organ seines Ökosystems. Zum Studium der gegenwärtigen Gesundheit (in der Interaktion der Körperzellen untereinander) tritt nun die Notwendigkeit die evolutionäre Zeit zu einer Analyse des Organismus hinzu. Nur sein evolutionäres Gewordensein und sein Energon-Dasein (ein Ausdruck von Hans Hass, der diesen Ausdruck für Energiehaushaltungssysteme verwendet, Organismen schon noch als geschlossene Systeme betrachtend, jedoch inklusive ihrer äußerlichen „Werkzeuge“, die ihrer Energieerhaltung dienen) kann uns helfen gesunde Organismen als solche zu identifizieren, krankes Dasein von gesundem Dasein zu unterscheiden. Hass lebte in einer Zeit, die das kausale Innenleben, die inneren Mechanismen und Kreisläufe des Einzellebewesens, im ökologischen Zeitalter und auf der Suche nach dem Neuen in den Wissenschaften, nicht mehr priorisieren musste. Aus der bevorzugten Betrachtungsweise von Lebendem als geschlossenen Systemen wurde so eine bevorzugte Betrachtungsweise von zu ihren Umwelten hin offenen Systemen. Das kam auch der gesamtökologischen Betrachtungsweise im 20. Jahrhundert sehr nahe, die den Energiefluss zwischen Strata von Lebewesenbereichen (d.h. Trophie-Strata bzw. Trophie-Ebenen der Ökosysteme) studierte. Denn, wie wir zunehmend im 20. Jahrhundert feststellten, gibt es nicht nur in Isolation betrachtete kranke Organismen, sondern auch kranke Ökosysteme insgesamt, die ebenso unsere Aufmerksamkeit verdienen, wie ein krank gewordener Mensch Aufmerksamkeit und einen Ansatz fürs Heilverfahren seiner Krankheit verdient.

Es gab eine berechtigte Unzufriedenheit mit dem im 18. Jahrhundert vorhandenen Modell kausaler Struktur von Lebewesen, deren Berechtigung nach der von Immanuel Kant verfassten Kritik der Urteilskraft, von 1790, erst richtig deutlich wurde. Seit den Werken von G. E. Stahl (1659-1734) und der Kritik der Urteilskraft (1790) von Immanuel Kant (1724-1804) wurde es nämlich unzweifelhaft, dass ganz gewiss der Organismus kein Mechanismus (der Wirkursachen, d.h. lat.: causa efficiens) mehr ist, sondern sich mit Lebewesen in ihrer selbstständigen Eigenorganisation [d.h. mit einer sogenannten „Ganzheitskausalität“ der Lebewesen als geschlossenen Ganzheiten] identifizieren lässt. Worin bestand jedoch nun die beschworene charakteristische „bildende Kraft“ von Lebewesen. Die Kausalstruktur geschlossener Kreislauf-Systeme schien anfänglich ja gar nicht verwerflich. Die Naturphilosophie F.W.J. Schellings (1775-1854) formulierte das Modell des kausalen geschlossenen Kreislaufs bzw. kausalen „Schaltkreises“, der das Lebewesen charakterisiert: In seinen Entwürfen um das Jahr 1800 wird dem Mechanismus das Bild der geraden Linie der Sukzessionen von Ursachen und Wirkungen gegeben, dessen „ungehemmter Strom“ vorwärts fließt. Indem diese Linie nun so weit gebogen wird, dass sie in sich zurückläuft, entsteht ein geschlossener Kreislauf, der für den Organismus steht. Für die Verwendung der Kreismetapher (stehend für einen in sich zurückfließenden Regelkreis) lesen wir im Original von 1798 Folgendes:

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

In: F.W.J. Schelling. Ausgewählte Werke. Schriften von 1794-1798, („Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus“ 1798), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975, 403.

Der „ungehemmte Strom“ von Ursachen und Wirkungen fließt eben vorwärts. Dabei gerät man aber in ein Dilemma, das auch Immanuel Kant nicht vermeiden konnte: Entweder handelt es sich eigentlich um einen Mechanismus der Natur, der allein wissenschaftlich zu erforschen ist, auch bei einer geschlossenen kausalen Kreisschaltung (Vergleiche Schellings eigene Worte:

„Nicht also alle Succession von Ursachen und Wirkungen ist durch den Begriff des Organismus ausgeschlossen“, siehe obiges Zitat aus „Von der Weltseele“, 1798), oder eben es handelt sich um eine eigene Kausalstruktur finaler Art, die im Verstand Gottes beheimatet ist und wir wissenschaftlich gar nicht erforschen können. Beide scheinbaren Möglichkeiten des Dilemmas zeigen uns: Wieder entschwindet das Phänomen des Lebens unseren scharfsinnigen Begriffen. Siehe zu diesem Dilemma schon Kants Kritik der Urteilskraft von 1790. Die Intuition, dass geschlossene innere kausale Kreisläufe Kennzeichen des Lebendigen sind, wurde aber nach 1790 wieder vom berühmten F.W.J. Schelling gerade nicht aufgegeben, da der kausal identifizierbare Teil des Ganzen eben Mittel und zugleich auch Zweck ist, wie in einem geschlossenen kausalen Ursache-Wirkungs-Kreislauf:

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

A, B, C, D = kausale Geschehnisse in einem Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang

A ist Mittel für Zweck B und zugleich ist A Zweck seines Mittels D, etc. Das geht aber eben über mechanische Ursachen bzw. Wirkungssuche hinaus.

Dadurch, dass die kausale Kreisschaltung (ein Kreislauf von Ursachen- und Wirkungszusammenhängen) geschlossen ist, käme also im Vergleich mit der offenen Kausalkette den Kausalereignissen, hier A, B, C, und D, eine besondere Würdigkeit der Ursachen und Wirkungen zu (da sie durch die Kreisstruktur eben Zweck und gleichzeitig Mittel zum Zweck sind). Schellings erklärende Vorstellung: Offene Kausalketten sind tot, ohne Leben, während geschlossene kausale Kreisläufe ein Kennzeichen des Lebens sind. Vergleiche hierfür schon auch die Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft von Immanuel Kant. Schellings Degradierung des einfachen Kausalgesetzes (d.h. dass also einfach gefundenen Ursachen Wirkungen zugeschrieben werden müssen bzw. für Wirkungen Ursachen gefunden werden müssen) wird ganz offen in seinen Schriften thematisiert: Lesen wir in seinem „System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere“, aus dem Jahr 1804:

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

In: F.W.J. Schelling, Ausgewählte Werke. Schriften von 1801-1804, („System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere“ 1804), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, 719.

Wenn man darüber nachdenkt, dann kann jedoch nicht herausgefunden werden, warum es sich bei dem Gefundenen um einen Unterschied in der Naturontologie selbst handeln musste. Es spricht nichts dagegen, den gemachten Unterschied lediglich als eine epistemische Unterscheidung der Erfassung kausalen Verstehens anzusehen: Geschlossene Kreisläufe folgen ganz offensichtlich einer Idee der Organisation der in sich geschlossenen (kausalen) Ganzheit. Offene Kreisläufe hingegen haben wir einfach als solche geschlossenen Kreisläufe noch nicht erkannt (Vergleiche die Konzeption der Natur insgesamt als Gesamtheit, die trotz ihres ontologischen Status als solche Gesamtheit jedoch noch nicht erkannt sein muss). So gesehen kollabiert dann auch wieder im zugrundeliegenden ontologischen Fundament die (vermeintlich ganz eigene) Ursächlichkeit des Lebens in die Ursache-Wirkungs-Kausalität des Mechanismus. Doch umgekehrt kann man es natürlich auch betrachten: Dann wird die ganze Natur ein einziger Organismus und jeder Teil von ihr wird zum Organ. Kausal durchsichtig war die damalige Konstruktion um das Jahr 1800, mit dem Unterschied zwischen causa efficiens und causa finalis, also nicht. Zweckkausalität liegt hinter dem Mechanismus verborgen, aber nur ein Schöpfergott weiß, wie der Plan des ganzen Lebewesens, als ein Lebewesen auf Erden, aussieht. Der Forscher kann natürlich Hypothesen haben, aber diese müssen eben als angenommene Arbeitshypothesen dienen, und nichts weiter.

Die kausale Unterscheidung zwischen Lebendem und Totem war also ganz deutlich nicht greifbar. Es kam daher zu einer wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Umdeutung von Organismen als Selbstzwecken. Dass Organismen Selbstzwecke in der Natur seien, blieb unangefochten, außer bei kausalen Materialisten, z.B. Wilhelm Reich (1897-1957). Die Evolutionstheorie schien jedoch viel eher geeignet die uminterpretierte Zweckmäßigkeit von Lebewesen deutlich darzustellen. Auf den Spuren von Lamarck und Charles Darwin folgte Hans Hass genau diesem Gedanken. Das kann man gut verstehen: Die Evolutionstheorie ist nämlich nicht im Widerspruch mit dem Gedanken Gottes als Schöpfer der Natur, wie auch der mittlerweile dahingeschiedene Papst Franziskus noch betonte:

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

In: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/papst-franziskus-kein-konflikt-zwischen- evolution-und-schoepfung-a-999893.html.

Evolution widerspricht demnach dem Glauben an eine göttliche Schöpfung nicht. Nur hilft die Evolution eben uns Menschen, so muss man hinzufügen, die Natur kausal besser zu verstehen. Kausales Verstehen wird (gerade auf dem Hintergrund der Diskussionen des 18. Jahrhunderts) durch Umdeutung kausaler Zwänge in evolutionäre Zwänge gefördert.

Der Zweckmäßigkeitsbegriff wird nun von einer inneren Kausalität eines geschlossenen Systems (vom Konrad Lorenz’schen „Kausalfilz“) umgeformt zu einem neuem Begriffsapparat, der nicht mehr in die Paradoxie führt, dass die Zweckmäßigkeit des studierten Organismus letztlich nichts anderes als eine Vorstellung des Naturforschers ist (Die „Idee des Ganzen“ ist eine Annahme des Subjekts, siehe dafür Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, 1. Auflage 1790). Nach der Darwin’schen Revolution ist klar: Durch die Zeit der evolutionären Entwicklung entsteht das, was gemeint war, d.h. die Erfüllung des Zwecks des Organismus. Nur entsteht dieser Zweck des Prozesses von Mutation und Selektion zufällig, sofern die Evolution unserer menschlichen Manipulation entzogen ist.

Der Kantische Naturzweck (= der Organismus als Selbstzweck) wird tatsächlich als kausale Struktur, und ich glaube aus besagtem Grunde in der Diskussion, teilweise aufgegeben. Er wird zu einem Querschnitt (d.h. einem Segment) der langzeitlichen Kausalentwicklung in der evolutionären Zeit. Die causa finalis wird also gar nicht mehr in der Ursache-Wirkungs-Kette gesucht, auch nicht in einer geschlossenen Kausalkette. Eine neue Dimension des Energons in der Zeit wird thematisiert. Klarsichtig wird in der Erklärung von Lebensphänomenen hier neuer Boden betreten. Der Mechanismus wird beibehalten. Der Geist der Maschine kann jedoch nicht mehr in der Momentaufnahme gesucht werden, sondern in der zukünftigen Optimierung der Bedürfnisse des Organismus, die in der Erhaltung der eigenen Energieökonomik liegt, durch Variation und Selektion. Die Energieerhaltung ist das Ziel des Lebewesens, da nur so das Energon optimal sich selbst versteht, und zwar in jedem Augenblick. Die Regelleitung des Mechanismus wird eben in die zeitliche Erfüllung seiner Selbsterhaltung verlegt. Organisation als offenes System: Die Identität des Organismus ist eine Struktur, die sich über Zeit hin realisiert, d.h. der Organismus wird „ganz“ (sie wird also eine Totalität im Sinne der „Ganzheitskausalität“) durch sein zeitliches Fortbestehen in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Am Anfang dieses Denkens steht eine tiefe Einsicht, die bezeugt, dass der Organismus wohl ursprünglich als verständliche Struktur gemeint war, doch sich diese vermeinte Struktur nicht als klar durchschaubar zu erkennen gab. Konrad Lorenz sprach daher, Hans Hass zufolge, von einem offensichtlichen „Kausalfilz“:

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

In: Hans Hass: Energon. Das verborgene Gemeinsame, Wien/Zürich/München: Molden Verlag, 1970, 155.

Also ist die vom Biologen Hans Driesch (1867-1941) so bezeichnete „Ganzheitskausalität“1 einerseits eine wichtige Idee, eine Vorstellung, die uns hilft Leben als etwas Außerordentliches zu schätzen, doch findet sich andererseits beim Durchblick durch ein Lichtmikroskop, zum Beispiel, tatsächlich nur dieser sogenannte (und sicherlich durch Forschung immer wieder studierte) „Kausalfilz“, insbesondere da der bloße Mechanismus des wahrgenommenen Forschungsgegenstandes soundso nicht vollständig (sondern nur punktuell durch das Herstellen konkreter einzelner Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge) entschlüsselbar ist. Die inneren geschlossenen kausalen Kreisläufe, die das Lebendige kennzeichnen, bleiben soundso eine bloße Vorstellung des Naturforschers, wie der Königsberger Philosophieprofessor schon suggerierte. Für diese kantische Plattitüde gab es nach 1790 auch einige Kritiker dieser Wahrheit, dass es sich bei Leben anscheinend bloß um etwas nur Vorgestelltes handele. Doch behält Immanuel Kant recht. Ganz ablassen möchte auch er nicht von der „Idee des Ganzen“ (I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65), dem schon einleuchtend scheinenden Begriff der von Hans Driesch so getauften „Ganzheitskausalität“, selbst dann nicht, wenn dieser Begriff empirisch nicht greifbar ist. „Ganzheitskausalität“ wird nun, zum Beispiel bei dem Biologen Hans Hass, oder auch mit ökologischen Denkern seiner Zeit, mit Hilfe der universell geltenden thermodynamischen Gesetze in einem sich selbst erhaltenden Energiesystem umgedeutet.Leben und Tod sind eben Dinge, die sich nicht mehr wie früher verstehen lassen: „Ganzheitskausalität“ wird eben neu interpretiert als Bestehen (also Identität der kausalen Zusammenhänge über die Zeit) des Organismus über Zeit hinweg mit dem Ziel seines jetztzeitlichen Daseins. Noch in Schellings Naturphilosophie war eben der Tod des Organismus durch ein Aufbrechen der geschlossenen inneren Kausalketten zu einem „ungehemmten Strom von Ursachen und Wirkungen“ gegeben.

Wie stellt sich das Immanuel Kant vor? Der reelle Teil der Ursache (also die Ursache des mechanischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, ohne einer Idee des ganzen Organismus) ist nicht mehr zusammen mit dem ideellen Teil der Ursache (also mit der Ursache, sofern sie die Vorstellung für die Erbringung der mechanischen Wirkungen ist). Nur aus dieser Vorhandenheit des reellen und ideellen Bestandteils einer Ursache im Organismus ließ sich die Konzeption des kantischen Naturzwecks (= Organismus als ein Zweck in sich selbst) halten. Jede der Wirkungen, so wurde angenommen, ist die Wirkung der Gesamtvorstellung, also einer Vorstellung einer Ganzheit, der Idee des ganzen Organismus im Verstand Gottes. Der ideelle Teil der Ursache (der ideelle Teil nur jeder einzelnen mechanischen Ursache im Organismus) encodierte eben die Vorstellung der Ganzheit des Organismus als geschlossenem System. Der nur mechanische Ursache-Wirkungs-Zusammenhang gewönne so, so kann man sich vorstellen, an unglaublicher Präzision, die jedoch ins Reich der regulativen Annahmen verbannt ist. Jede mechanische Wirkung wäre, mithilfe der „Idee des Ganzen“ als ideeller Teil der mechanischen Einzelursache, punktgenau beschreibbar, wie der Platz eines Mosaiksteinchens in einem Mosaik-Gesamtkunstwerk des Funktionsgefüges Lebewesen, während der bloße Mechanismus nur die Relationen des einzelnen Mosaiksteinchens zu den umliegenden Steinchen berücksichtige. Dieses vorgestellte Szenario einer Präzisierung der konkret gefundenen Ursache-Wirkungs-Zuschreibung im Lebewesen hielt lange dieses Kausalmodell am Leben. Doch kam man mit einer finalen Kausalität, die man als Teil der Natur sich nur vorstellen kann (einer causa finalis als „Ganzheitskausalität“), theoretisch gar nicht weiter und man musste mit dem Verschwinden der phantasievollen Annahmen und nur hypothetischen Kreisläufen des Lebens doch wieder nur den auch im Mikroskop vorfindlichen „Kausalfilz“ zur Kenntnis nehmen, der selbst wieder nicht (also nicht einmal der bloß mechanische „Kausalfilz“) gänzlich zu entschlüsseln war. Das Gesamtkunstwerk des Lebewesens, wenn man auch einen allgemeinen Begriff dafür gefunden hatte, war einfach nicht fassbarer geworden. Da man aber Anorganisches von Lebewesen oder von zu Lebewesen Gehörigem unterscheiden wollte, musste man also doch wieder Gesamtstrukturen hypostasieren, die einfach nicht beweisbar sein konnten. Man musste eben eigentlich in dem Glauben leben, dass Organismen einer eigenen Gesetzmäßigkeit folgen, auch dann, wenn man nicht mit Sicherheit sagen konnte, worin diese bestehen sollte. Die Rede von der causa finalis war also inhaltsleer, wenn man sich die inhaltslose Rede davon auch nicht sparen wollte, um den Unterschied zum Unbelebten zu betonen, den man unbedingt beibehalten wollte. So verwundert es nicht, dass Rudolf Virchow als Prinzip seiner Forschung als Mediziner das Studium des Mechanismus der Zellen hervorhebt. Ein Arzt muss heilen wollen, und nicht sich in Hypothesen oder Verstehenshilfen versteigen.

Die sehr unbefriedigende innere kausale Kreislaufstruktur wird also im Laufe der Zeit von Energieflussmodellen (und auch mit Hans Hass‘ Energon-Theorie), aufgebrochen. Der Zweck des Organismus wird nach außen gelegt: Aber eben nicht in ein geistiges Jenseits wird der Zweck des Geschöpfes gelegt, nicht in ein Prinzip der Belebung, oder auch nicht in die Umwelt als etwas dem Lebewesen selbst Jenseitiges. Der Zweck organischer Struktur wird nun also auch nicht mehr in die Allwissenheit Gottes, sondern raffinierter wird er in den Endpunkt einer nun neu eingeführten Dimension, dem Gewordensein in der Zeit, in der sich der Organismus evolutionär entwickelt hat, gelegt. Das Endprodukt der Naturentwicklung kennen wir und können so die kausale Entwicklung als Evolution des Lebewesens zurückverfolgen.

Es ist also ein Fehler nur festhalten zu wollen, dass mit der Darwin‘schen Revolution Organismen nicht mehr als teleologische Strukturen aufgefasst werden (Siehe für diese Position der „Zweckfeindlichkeit“ des Darwinismus Vittorio Hösle in https://www.marginaliareviewofbooks.com/post/a-conversation-with-vittorio-h0sle-part- two). Aussagen über Evolution, wie zum Beispiel „Alles soll aus dem einen universalen, ateleologischen Kausalnexus erklärt werden“2, ist nur dann verständlich, wenn man in der Kausalanalyse die Verschiebung des Telos in eine andere Dimension nicht versteht. Vielmehr muss man festhalten, dass Teleologie, aufgrund der schweren und anscheinend unlösbaren Konstruktionsfehler im bisherigen Kausalmodell in eine andere Dimension gehoben werden musste. So sieht das wohl auch (der Konrad Lorenz Schüler) Hans Hass.

Alle Materie ist Energie, doch ist der Organismus eben auch jetzt etwas ganz Eigenes (mit seiner eigenen Entwicklung) in der Natur. Darin liegt seine Zweckmäßigkeit. Er ist der identifizierbare (und quantifizierbare) Durchgangspunkt für Energiefluss über die Zeit hinweg. Die Erklärung der Kausalität ist nicht mehr punktuell möglich (wie noch im Modell als Mechanismus plus der Idee der Ganzheit). Man kann auch sagen, dass es sich beim Organismus nun um eine der sinnlichen Wahrnehmung vollkommen entzogene Erklärung des Mechanismus handelt (die im Mikroskop wahrnehmbare Bewegung wird nun noch abstrakter durch Identität in der Zeit unter eigenen Gesetzmäßigkeiten interpretiert). Es handelt sich jedoch auch hier im Theorienkonstrukt bei der Gesetzmäßigkeit um eine nomologische Interpretation der physikalischen Gesetzmäßigkeit (und nicht um eine empirizistisch verstandene Gesetzmäßigkeit aus beobachteten Naturregelmäßigkeiten), die den Organismus leitet. Aus der physikalischen Gesetzmäßigkeit erklärt sich mathematisch exakt das beobachtbare kausale Verhalten des Einzelindividuums. So sagt man dann: Die physikalische Theorie des Zweiten Thermodynamische Hauptsatzes hat Erklärungskraft für das

Einzellebewesen. Der zunächst der sinnlichen Wahrnehmung vorliegende Organismus wird in seiner Erklärung (als quantifizierbarem Funktionsgefüge) unabhängig von seinem Wahrgenommenwerden durch die Sinne (und zwar mittels seiner Interpretation als zu seinen Umwelten hin offenem System). Es handelt sich dabei um eine Erklärung von Kausalgeschehen aus allgemein in der Natur gültigen deduktiv angewandten physikalischen Gesetzen. Der Organismusbegriff wird damit jedoch nicht unabhängig von wissenschaftlichen Hypothesen. Nur handelt es sich bei der Evolutionstheorie um eine sehr fruchtbare und kausal erklärende Hypothese. Gleichzeitig bleibt der Organismusbegriff jedoch sehr wohl einer Zweckmäßigkeit verpflichtet.

So ist also einerseits Hans Hass sehr rückgebunden an die Tradition des Organismus als Selbstzweck (oder “Naturzweck”, wie Immanuel Kant sagt), in dem jeder Teil Mittel und Zweck des ganzen Gebildes ist, nur eben nun als dynamischer und nach außen hin ausufernder Prozess betrachtet. Insofern bleibt der Organismus, zumindest einem Aspekt nach, ein nach außen hin geschlossenes System der Selbsterhaltung. Darin unterscheidet er sich von Rudolf Virchows Lehre von den Zellen im Kerne eben nicht. Es ging bei den ontologischen Differenzen anscheinend soundso immer nur darum inkohärente Kausalmodelle der Vergangenheit richtigzustellen (oder: kausal richtiger und wissenschaftlich fruchtbarer zu interpretieren und zu ergänzen) und nicht darum, den Forschungsgegenstand Organismus als einem geschlossenen System zu leugnen oder gänzlich aufzugeben.

Andererseits ist durch das Energon-Konzept die Tür für eine begriffliche Erfassung des gesunden Organismus von außen her geöffnet. Letztlich wird man beide Sichtweisen benötigen, man wird Organismen als geschlossene Systeme und auch als zur Umwelt hin offene Systeme betrachten müssen, um eine zufriedenstellende Unterscheidung zwischen gesund und krank erstellen zu können. Medizinische Diagnose beruht auf dem Fundament ontologischer Annahmen, auf dem wiederum die ausgewählte Lehre von den anzuwendenden Heilverfahren beruht. Durch das Fortschreiten des ökologischen und ökosystemischen Denkens im 20. Jahrhundert wird es notwendig, zusätzlich zur zellenzentrierten Analyse, gesunde Organismen von außen her als Teile von großen Energiesystemen, wie z.B. Ökosystemen, zu betrachten.

Die Kontingenz des Organismusbegriffs, wie er zwischen 1790 und 1858 vorlag, wurde durch die Verbreitung physikalischer Welterklärungsmodelle der Thermodynamik wieder hinterfragt und die kausale Fehlkonstruktion verlangte nicht unbedingt nach einer vollständigen Ersetzung durch eine neue Theorie organischen Lebens, sondern nach einer Bereicherung des alten Verständnisses von Zweckmäßigkeit in der Natur. Das Streben nach Selbsterhaltung bleibt auch weiterhin eine Zweckorientierung von Lebewesen, die auch Rudolf Virchow als Arzt annahm (Die Zweckmäßigkeit liegt in der gesunden Zelle selbst und nicht in der Methode der Untersuchung, also auch nicht im Verstand des Arztes) und der Biologe Hans Hass, um ihn als Beispiel herauszugreifen, hat eben darauf auf eine neue Art und Weise aufmerksam gemacht. Man muss die alten Theorien nicht immer gänzlich verwerfen, um neue Aspekte des Forschungsgegenstandes zu beleuchten. Die Betrachtungsweise von Lebewesen als geschlossenen und offenen Systemen bleibt eine jeweilige Aspektbetrachtung des untersuchten Naturphänomens, wie übrigens auch bei der Phänomenbeschreibung in der unbelebten Natur Mikroanalyse und Makroanalyse sich ergänzen und doch unterschieden werden müssen.

Darüber hinaus hat die Gesundheit des menschlichen Organismus auch eine religiöse Dimension, da zum Beispiel nicht nur im Christentum der Mensch mit der Natur und Gott leben muss, sondern auch im Buddhismus der Mensch in einer Harmonie mit dem Rest der Schöpfung leben soll. So wird doch die Gesundheit etwas bleiben, was nicht nur von dem Studium der Zellenlehre alleine abhängt. Geist und Körper gesund zu halten bedarf des Zusammenwirkens vieler heilkundlicher Disziplinen. Heilkundliche Inspirationen lieferten eben auch in der Geschichte Biologen, Physiker, Ökosystemiker und religiöse Denker, die allesamt wenn auch nur indirekt, durch ihre Wirklichkeitsdeutung der Naturgegebenheiten die Erhaltung eines gesunden menschlichen Organismus nicht nur zu fördern versuchten, sondern dies auch tatsächlich taten.

Abbildungen (Wichtige Autoren der Kausalstrukturenmodelle von Organismen):

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In: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg Ernst Stahl, Georg Ernst Stahl (1659-1734), Druck von Johann Georg Mentzel, Bildausschnitt leicht aufgehellt und eingefärbt, Nutzungslizenz: Gemeinfrei.

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In: https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf Virchow, Rudolf Virchow (1821-1902), Foto: Julius Cornelius Schaarwächter, Reproduktion des Fotos von 1884, für Wikipedia von: Memmi46, Fotoausschnitt aufgehellt und leicht eingefärbt, Nutzungslizenz: CC BY-SA 4.0.

Abb. in Leseprobe nicht enthalten

In: https://de.wikipedia.org/wiki/Hans Hass, Hans Hass (1919-2013), Bildausschnitt der originalen Fotografie, farblich aufgehellt und eingefärbt, Bildrand verändert, Titel: „Die Biologen Hans Hass (links) und Eibl-Eibesfeld (rechts)“, Ursprungsangabe: Aus dem Privatarchiv 1972, Nutzungslizenz: CC BYSA 4.0.

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In: https://de.wikipedia.org/wiki/Vittorio Hösle, Vittorio Hösle (1960 - heute), “Vittorio Hösle, Vatikan, 2020“, Foto: Gabriella Clare Marino, Fotoausschnitt aufgehellt und eingefärbt, Nutzungslizenz: CC BY-SA 4.0.

Literatur:

https://de.wikipedia.org/wiki/Krebs (Medizin)

https://de.wikipedia.org/wiki/Malignes Melanom

https://de.wikipedia.org/wiki/Organismus

https://www.gesundheitsinformation.de/wie-krebszellen-wachsen-und-sich-ausbreiten.html

https://www.marginaliareviewofbooks.com/post/a-conversation-with-vittorio-hösle-part- two

https://www.spektrum.de/alias/lexikon/metzler-lexikon-philosophie/1570920

https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/organismus/1502

https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/papst-franziskus-kein-konflikt-zwischen- evolution-und-schoepfung-a-999893.html

Hass, Hans [1987 (1.1970)]: Das verborgene Gemeinsame. Energon-Theorie I und II. In: NATURPHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN, Bde. 2 und 3, München: Universitas Verlag, 1987 (Erstausgabe 1970, Molden Verlag, unter dem Titel Energon. Das verborgene Gemeinsame).

Hösle, Vittorio und C. Illies (1999): „Der Darwinismus als Metaphysik“, in: Die Philosophie und die Wissenschaften, München: C.H. Beck, 46-73.

“Organismo” (1949): Enciclopedia Italiana, edizione 1949, Hg.: Giovanni Treccani, Vol. XXV, 518.

„Organismus“ (2024): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 6, Hg.: Jürgen Mittelstrass u. a., 2. Aufl., Berlin: Verlag J.B. Metzler, 53 ff.

Schelling, F.W.J. (1975): Ausgewählte Werke. Schriften von 1794-1798, („Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus“ 1798), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 399-637.

Schelling, F.W.J. (1976): Ausgewählte Werke. Schriften von 1801-1804, („System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere“ 1804), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 657-738.

Stahl, Georg Ernst (1701): Propempticon Inavgvrale De Diffferentia Rationis Et Ratiocinationis Et Actionum Qua Per Et Secundum Utrumque Horum Actuum Fiunt In Negotio Vitali Et Animali. Verlag ungenannt, 1701. 'Stahl, Georg Ernst: Georgii Ernesti Stahl, Med. D. Et Prof. Publ. Ord. h.t. Academ. Pro-Rectore Et Facult. Decano, Propempticon Inavgvrale De Diffferentia Rationis Et Ratiocinationis Et Actionum Qua Per Et Secundum Utrumque Horum Actuum Fiunt In Negotio Vitali Et Animali', Bild 1 von 16 | MDZ

Stahl, Georg Ernst (1708): Disquisitio de mechanismi et organismi diversitate (Erste Auflage 1706). #1 - Georgii Ernesti Stahl ... Disquisitio de mechanismi et organismi ... - Full View | HathiTrust Digital Library In: Theoria medica vera physiologiam etpathologiam tanquam doctrinae medicae partes vere contemplativus e naturae et artis veris fundamentis intaminata ratione et inconeussa experientia sistens (Halle: Literis orphanotrophei, 1708).

Virchow, Rudolf (1858): Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre, Berlin: Hirschwald. Deutsches Textarchiv - Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858

[...]


1 Siehe dazu: „Ganzes - Teil“ (Abschnitt 4.1), Eintrag, in: Neue Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Hrg.: P. Kolmer, A.G. Wildfeuer, Bd. 1, Freiburg & München, 2011, 860: „Zunächst gerichtet gegen einen (ontologischen) Mechanismus und dem damit verbundenen epistemischen Reduktionismus begründete H. DRIESCH (gegen W. ROUX) auf der Basis seiner Versuche zur Regenerationsfähigkeit der Keime von Echinodermen den Neovitalismus.“ Vgl. auch Driesch, H.: Die Summe und das Ganze, Akad. Antrittsrede, Leipzig: E: Reinicke, 1921. Siehe auch Georg Töpfer Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: Metzler, 2011, 706: „Der Terminus >Ganzheitskausalität< wird 1919 von H. Driesch eingeführt. Driesch erläutert den Begriff im Rahmen seiner vitalistischen Theorie des Organischen und will mit ihm eine »unraumhafte ganzmachende Kausalität« bezeichnen.“

2 In: Hösle, Vittorio und C. Illies (1999): „Der Darwinismus als Metaphysik“, in: Die Philosophie und die Wissenschaften, München: C.H. Beck, 51.

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Title: Organismusmodelle im 19. und 20. Jahrhundert. Die Gegenüberstellung der Modelle von Rudolf Virchow (1821-1902) und Hans Hass (1919-2013)

Research Paper (postgraduate) , 2024 , 20 Pages , Grade: bestanden

Autor:in: Aaron Fellbaum (Author)

Biology - General, Basics
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Details

Title
Organismusmodelle im 19. und 20. Jahrhundert. Die Gegenüberstellung der Modelle von Rudolf Virchow (1821-1902) und Hans Hass (1919-2013)
Subtitle
Kausal geschlossene Systeme versus offene Systeme
College
Klagenfurt University  (Öffentliche Bibliothek)
Course
Arbeitskreis
Grade
bestanden
Author
Aaron Fellbaum (Author)
Publication Year
2024
Pages
20
Catalog Number
V1604821
ISBN (PDF)
9783389150160
Language
German
Tags
Zellenlehre Physiologie Rudolf Virchow (1821-1902) Evolutionstheorie Hans Hass (1919-2013) Kausalstrukturen des Lebens Georg Ernst Stahl (1659-1734) Immanuel Kant (1724-1804) causa finalis F.W.J. von Schelling (1775-1854) Ontologisches Fundament der Ursachenforschung Ursache-Wirkungs-Kausalität (causa efficiens)
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Aaron Fellbaum (Author), 2024, Organismusmodelle im 19. und 20. Jahrhundert. Die Gegenüberstellung der Modelle von Rudolf Virchow (1821-1902) und Hans Hass (1919-2013), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1604821
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