Leseprobe
E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann[1] wurde 1817 als erste Erzählung in dem Zyklus Nachtstücke[2] veröffentlicht. Die Erzählung in der Tradition des Kunstmärchens der Schwarzen Romantik gilt als eine seiner bedeutendsten Werke und lässt sich zu den wenigen Prosatexten des 19. Jahrhunderts zählen, die in der Forschung immer wieder diskutiert und interpretiert werden. Die Vielzahl der Auflagen der Erzählung sowie mehrere Verfilmungen können als Indiz für das anhaltende Interesse an der Erzählung gelten. Vor allem neuere Forschungsansätze wie die Rezeptionsästhetik, die Untersuchungen zum Kommunikations-charakter literarischer Texte, strukturalistisch orientierte Arbeiten und die neue sozialgeschichtlich fundierte Romantikforschung bieten zahlreiche Deutungsansätze. Als die am häufigsten verwendeten Themenkomplexe zur Interpretation des Textes sind zu benennen: Betonung der Poly- bzw. Multiperspektivität, Untersuchungen zum Leitmotiv, Erzähler-thematik, Künstler- versus Bürgertum, Aufklärung und Romantik, Wahnsinnsthematik, das Automatenmotiv und die Wirkung der Unheimlichkeit.
In der Literaturgeschichte wird der Autor E.T.A. Hoffmann als Romantiker beschrieben.[3] Und auch in der Erzählung kommen typische Themen der Romantik vor: Die Nachtseite des Menschen, die Erweiterung und Entgrenzung der Realität, die Künstlerproblematik, das Motiv des Doppelgängers sowie der Mensch als Automat. Grundsätzlich hat die Individualität und die subjektive Sicht auf die Dinge einen hohen Stellenwert bei den Romantikern. Das Adjektiv romantisch bedeutet seit dem 18. Jahrhundert „schwärmerisch, fantastisch, geheimnisvoll, düster, unvernünftig, verworren“.[4] Das heißt, dass nicht nur das Ästhetische, sondern auch das Mystische Beachtung findet. So beschäftigt sich vor allem die Schwarze Romantik mit den Themen Magie, Traum, dem Unheimlichen und Unbewussten und der Todessehnsucht. Bevorzugte Formen der Autoren waren das Märchen, die Erzählung, der Roman und Lyrik.[5] Das Zeitalter der Aufklärung hingegen ist eine Epoche, die besonders durch das Bestreben nach Rationalität und Humanität geprägt ist. Die Aufklärung hat den Gebrauch der Vernunft als Lösung und Erklärung für alle Probleme der Welt idealisiert, versuchte das Denken der Menschen von althergebrachten und überholten Vorstellungen zu befreien und kämpfte für die Akzeptanz von neu erlangtem Wissen.[6] Das epochale Hauptwerk ist die Enzyklopädie. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich mit diesen zwei Epochen Begriffe wie Gefühl und Verstand gegenüberstehen. Inhaltlich sollen nun die Facetten der Aufklärung und der Romantik erarbeitet und aufgezeigt werden, wie sie in der Erzählung zum Vorschein kommen. Denn in der Erzählung Der Sandmann werden beide Perspektiven „auf höchst differenzierte Weise nachgezeichnet, gegeneinander geführt und kritisiert, so daß sie beide ihre partielle Berechtungen behaupten.“[7] Dabei ist nicht eindeutig welche der beiden Perspektiven der Erzähler favorisiert. Unverkennbar ist, dass die Positionen von Romantik und Aufklärung in Der Sandmann personalisiert und verkörpert werden durch Nathanael und Clara. Beide Charaktere bringen die unterschiedlichen Zugänge zur Welt zum Ausdruck. In dem Konflikt zwischen den beiden Protagonisten wird eine Spannung zwischen diesen beiden Denkrichtungen begründet.[8] Das Auge und das Perspektiv spielen in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle[9], denn sie beeinflussen die Wahrnehmung und damit die Bewertung des Gesehenen. Nach dem Aufzeigen der Abhängigkeit und Eingebundenheit von Nathanael und Clara in die Denkstrukturen der Romantik bzw. der Aufklärung sollen dann beide Sichtweisen kritisch beleuchtet werden und das Problem einer einseitigen Weltanschauung vor Augen geführt werden.
Bereits bei der Namensgebung lässt sich feststellen, mit welcher kompositionellen Akribie die Erzählung gefertigt ist. N a t h a n a e l kommt aus dem Hebräischen und bedeutet soviel Gott hat gegeben, auch Gottesgabe oder Gottesgeschenk. Diese Bedeutung ist nicht so bezeichnend wie die der anderen Charaktere, doch Giese vermutet hier:
„Vielleicht ist bei diesen Namen aber die Bedeutung weniger wichtig als die Funktion: der Name soll als fremd, unüblich, besonders auffallen, so wie ja auch Nathanael anders ist als seine Freunde, die so altdeutsch-vertraute Namen wie Lothar oder Siegmund tragen.“[10]
Treffender ist wohl die Koseform seines Namens, seine Mutter nennt ihn Thanelchen (5), was wiederum an Thanatos erinnert und im altgriechischen Tod bedeutet. Nathanael ist ebenfalls die griechische Entsprechung für den Namen Theodor, Hoffmanns zweiten Vornamen.[11]
Von ersten Hinweisen durch den Namen kann Nathanael ferner als eine typische Figur der Romantik bezeichnet werden. Er ist ein junger, empfindsamer, phantasiebegabter und introvertierter Student, der sich von seinen Gefühlen und seiner Phantasie leiten lässt und sich demnach wenig von damaligen romantischen Dichtern unterscheidet. Er „gebärdet […]sich als ein radikaler frühromantischer Idealist, als ein – wenn auch reichlich verwirrter – Schüler Fichtes.“[12] Nathanael ist empfänglich für alles Wunderbare und Geheimnisvolle, seine Gefühlseindrücke sind intensiv und verdichten sich zu einer inneren Bilderwelt, die er schon als Kind freizusetzen versucht, etwa in dem er sich künstlerisch betätigt.[13]
Nathanael ist von der Heftigkeit seiner inneren Bilder derart überzeugt, dass er sie gar nicht mehr für innere hält. Einbildung und Wirklichkeit geraten ihm immer wieder durcheinander. Durch die Intensität seiner Empfindungen war von früh an seine physische wie geistige Gesundheit gefährdet.
„Angst und Schrecken hatten mir ein hitziges Fieber zugezogen, an dem ich mehrere Wochen krank lag.“ (10)
Eine mögliche Ursache ist etwa in der Einschränkung seines rezeptiven Vermögens zu suchen. Nathanaels Mutter erklärt ihm: „Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind“ (4) Der Sandmann[14] scheint also nur eine rhetorische Figur für Müdigkeit. Doch das glaubt das Kind nicht:
„Der Mutter Antwort befriedigte mich nicht, ja in meinem kindischen Gemüt entfaltete sich deutlich der Gedanke, daß die Mutter den Sandmann nur verleugne, damit wir uns vor ihm nicht fürchten sollten, ich hörte ihn ja immer die Treppe heraufkommen.“ (5)
[...]
[1] Quellenangaben aus diesem Werk werden in Form von Seitenzahlen in Klammern erfolgen und beziehen sich auf folgende Ausgabe: Hoffmann, E.T.A. Der Sandmann. Stuttgart: Reclam. 2003.
[2] E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke erschienen 1816/ 1817 in zwei Bänden mit gesammelten Geschichten, deren Hauptthema die Nachtseite des Menschen, also das Unbekannte, Bedrohliche und Dämonische der menschlichen Natur ist. Darin enthalten sind: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde und Das steinerne Herz. Der Begriff Nachtstück kommt ursprünglich aus der Malerei und bezeichnet ein Genre von Gemälden, die eine nächtliche Szenerie mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten darstellen.
[3] Wolfgang Nehring bezeichnet ihn als einen der „bedeutendsten Dichter der späteren deutschen Romantik“ 1. Vgl.: Nehring, Wolfgang. Spätromantiker: Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 1997. S.9
[4] Müller, Udo. Literatur der Romantik. Stuttgart und Leipzig: Ernst Klett. 2007. S. 4
[5] Vgl.: Praz, Mario. Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. 3. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. 1988. S. 5
[6] Vgl.: Bahr, Ehrhard (Hrsg.). Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam. 2004.
[7] Giese, Peter Christian. Lektürehilfen: E.T.A. Hoffmann „Der Sandmann“. 7. Auflage. Stuttgart: Klett. 1999. S. 33
[8] Auch im Leben Hoffmanns treten diese beiden Ebenen in Konflikt. Durch sein Amt beim Kammergericht führt er einerseits ein geregeltes, bürgerliches Leben, das andererseits durch sein künstlerisches Schaffen ergänzt wird. Oft geht es in seinen Stücken um Figuren, die wie er im Konflikt zwischen diesen beiden Polen stehen und diesen Lösen müssen oder daran zugrunde gehen. Regelmäßig übt Hoffmann Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft aus, die künstlerische Ambitionen unterdrückt. Hoffmann gilt als Exzentriker, der seine Werke gerne der Welt des Übersinnlichen und Schauerlichen widmet. Vgl.: Nehring. 1997. S. 9-12
[9] Das Auge kann als Leitmotiv in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann gesehen werden. Es zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text. Jedoch nicht nur die Augen selbst, sondern das ganze dazugehörige paradigmatisches Wortfeld (Blick, Sehen, Brille, Perspektiv, Spiegelung, usw.) beherrscht den Text. Schon Platon formulierte den Tops vom Auge als Spiegel zur Seele. Dem Auge kommt also eine Doppelfunktion zu, es ist Wahrnehmungs- und Ausdrucksorgan zugleich. Für diese Betrachtung ist es wichtig zu unterscheiden, dass Nathanael seine Augen benutzt, um innere, seelische Zustände des Sehenden (in diesem Falle Clara) zu erkennen. Clara hingegen benutzt die Augen als Wahrnehmungsorgan, um so die äußere Realität zu erkennen. Hohoff gibt in seiner Monographie einen guten Überblick zur Forschung zum Motiv Auge bis zum Ende der achtziger Jahre: Die Augen und das Sehen – optische Motive. In: Hohoff, Ulrich. E.T.A. Hoffmann. Der Sandmann. Textkritik, Edition, Kommentar. Berlin und New York: Walter de Gruyter. 1988. S. 278-298
[10] Giese. 1999. S. 55
[11] Aus diesem Grunde wird in einigen Interpretationen ein Bezug zwischen Protagonist und Autor hergestellt, etwa Zusammenhänge zwischen Nathanaels Verlust des Vaters und der frühen Scheidung von Hoffmanns Eltern. Vgl.: Wittkop-Ménardeau, Gabrielle. E.T.A. Hoffmann in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. 1968. S. 15
[12] Feldges, Brigitte und Ulrich Stadler. E.T.A Hoffmann. Epoche - Werk - Wirkung. Beck’sche Elementarbücher. München: Verlag C.H. Beck. 1986. S. 145
[13] Es fällt auf, dass viele Romantiker in künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereichen tätig waren. Zum Beispiel verfasste E.T.A. Hoffmann nicht nur Texte, sondern er komponierte und zeichnete auch.
[14] Die Figur des Sandmanns, der Kindern Sand in die Augen streut damit sie einschlafen, gilt traditionell als durchweg gütige Figur. Im psychologischen Blick auf die Nachtseite der Seele und die Kindheit als traumatischer Ort verkehrt Hoffmann in der Tradition der romantischen Phantastik den Sandmann zur Schreckensgestalt. Vgl.: Kremer, Detlef. E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Klassiker-Lektüren. Band I. Berlin: Erich Schmidt Verlag. 1999. S. 66