Vereinbarkeit der neuen europäischen Kartellverordnung 01/2003 mit dem primären Gemeinschaftsrecht


Seminararbeit, 2003

52 Seiten, Note: 14 Punkte


Leseprobe


Gliederung

Literaturverzeichnis

EINFÜHRUNG

GRÜNDE FÜR EINE REFORM
I. Das bisherige System.
II. Die Folgen des Anmelde- und Genehmigungssystems.
III. Reform der VO Nr. 17/1962 – Die Durchführungs-VO Nr. 1/2003.
1. Entstehung der VO Nr. 1
a. Reformablauf im Bereich der vertikalen Vereinbarungen
b. Reformablauf im Bereich der horizontalen Vereinbarungen
2. Ziele und Mittel der Reform-VO Nr. 1
a. Die Ziele
b. Die Mittel
3. System der Legalausnahme
a. Das Anmelde- und Erlaubnissystem
b. Das System der Legalausnahme
c. Unterschiede der beiden Systeme

FRAGESTELLUNG.

VEREINBARKEIT DER VO NR. 1 MIT DEM PRIMÄREN EG-RECHT
A. Formelle Rechtmäßigkeit der neuen Durchführungsverordnung.
B. Materielle Rechtmäßigkeit der neuen Durchführungsverordnung.
I. grammatikalische Auslegung.
1. Ansicht der Reformkritiker
a. der Begriff ‚erklären’
b. der Begriff ‚Gruppe’
2. Ansicht der Reformbefürworter
a. der Begriff ‚erklären’
b. der Begriff ‚Gruppe’
3. eigene Stellungnahme
II. systematische Auslegung.
1. Ansicht der Reformkritiker
a. Argument aus Art. 83 Abs. 2 lit. a und b EG
b. Argument aus Art. 83 Abs. 2 lit. a EG
c. Argument aus Art. 83 Abs. 2 lit. b EG
d. Argument aus Art. 84 EGV
2. Position der Reformbefürworter
3. Eigene Stellungnahme
III. historische Auslegung.
1. rechtshistorische Argumente der Reformbefürworter
2. rechtshistorische Argumente der Reformkritiker
3. eigene rechtshistorische Untersuchung und Wertung
a. EGKS-Vertrag
b. Diskussionen um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
c. Spaak-Bericht
d. Die vermittelnde Tätigkeit von Hans von der Groeben
e. Kompromiss
f. Ergebnis der Recherche
g. VO zur Durchführung der Art. 85 und 86 (VO Nr. 17)
IV. Art. 85 in Auslegung des EuGH.
1. EuGH-Rspr. aus der Sicht der Reformkritiker
2. EuGH-Rspr. in den Augen der Reformbefürworter
3. Eigene Stellungnahme zur EuGH-Rspr
V. teleologische Auslegung.
1. Bedeutung der teleologischen Auslegung
2. Sinn und Zweck der Wettbewerbsregeln
a. das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes
b. Verbotsprinzip als Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Ziels
c. die Ausnahme des Art. 81 Abs. 3 EG
d. systematische Einheit
3. konkreter Regelungsinhalt des Art. 81 EG
a. Begriff des Wettbewerbs
Fazit
b. Beeinträchtigung der Wettbewerbsstrukturen
Fazit
4. Rechtsnatur des Beeinträchtigungsverbots gem. Art. 81 Abs. 1 EG
5. mögliche verfahrensrechtliche Einkleidungen des Verbots
a. Legalausnahme
b. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt
c. Missbrauchsgesetz mit Beseitigungsfolge
d. Verfahren zur bestmöglichen Durchsetzung des Verbots
6. Gegenüberstellung der VO Nr. 1 mit der VO Nr. 17
a. Mittel zur koordinierenden Einflussnahme
(1) Gruppenfreistellungsverordnungen
(2) Zusageentscheidungen
(3) Nichtanwendbarkeitsentscheidungen
b. Verzicht auf das Meldeerfordernis
c. Sanktionsmaßnahmen
7. teleologische Gesamtbewertung der VO Nr
VI. vertragskonforme Auslegung im Übrigen
1. Verhältnismäßigkeit der VO Nr. 1
2. Rechtssicherheit
VII. Ergebnis der Prüfung.

SCHLUSSBEMERKUNG

EINFÜHRUNG

Der Rat der Europäischen Union hat am 16.12.2002 die neue Durchführungs-verordnung[1] (im Folgenden bezeichnet als VO Nr. 1) zu den in den Artikeln 81 und 82 des EG-Vertrages[2] niedergelegten Wettbewerbsregeln einstimmig ver-abschiedet. Die neue Verordnung tritt zum 1. Mai 2004 in Kraft, d.h. zeitgleich mit dem Beitritt von zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten. Die Einigung über die neue Durchführungsverordnung krönt einen kontroversen Diskussions- und in-tensiven Gesetzgebungsprozess. Die neue Durchführungsverordnung bedeutet in erster Linie einen tief greifenden Systemwechsel. Das bislang bestehende Verfahren einer vorherigen Kontrolle mittels Anmeldung und Genehmigung für wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen i.S. des Art. 81 Abs. 1 und 3 wird überführt in ein System der Legalausnahme. Das bedeutet, dass die Frei-stellung vom Kartellverbot kraft Gesetzes automatisch erfolgt, wenn die Vor-aussetzungen des Art. 81 Abs. 3 vorliegen. Die Vorschläge der Kommission sind zunächst in den Niederlanden, Großbritannien und Deutschland auf heftig-ste Ablehnung gestoßen. Insbesondere in Deutschland wird u.a. in Abrede ge-stellt, dass ein Wechsel zu Gunsten des Systems der Legalausnahme zulässig ist, da ein solcher Systemwechsel eine Änderung des EGV voraussetze. Diese Zweifel greifen eine alte Streitfrage auf, die bereits bei der Vorbereitung der Verordnung Nr. 17/1962 (im Folgenden bezeichnet als VO Nr. 17) heftig diskutiert jedoch nicht endgültig entschieden wurde. Es ging dabei um die Be-urteilung, ob dem Art. 85 EGV (Art. 81 EG n.F.) ein bestimmtes Verfahrens-system zur Durchführung der Wettbewerbsvorschriften (Anmelde- und Geneh-migungssystem oder das System der Legalausnahme) immanent ist. Bereits da-mals glaubte man diesen Streit nur durch den EuGH beilegen zu können[3]. An-gesichts der neuen Aktualität der Problematik und zahlreicher weiterer Beden-ken bezüglich der VO Nr. 1 ist die Anrufung des EuGH von einem einzelstaat-lichen (deutschen) Gericht spätestens nach dem Geltungsbeginn zumindest le-gitim[4]. EuGH würde dann im Vorlageverfahren gemäß Art. 234 entscheiden müssen, ob der Systemwechsel durch die Verordnungs-Ermächtigung des Art. 83 gedeckt ist. In dieser Arbeit soll die Vereinbarkeit der neuen europäischen Kartellverordnung mit dem primären Gemeinschaftsrecht untersucht werden, zumal die mögliche Entscheidung des EuGH zu dieser Frage einen herausra-genden Vergleichsmaßstab liefern würde.

GRÜNDE FÜR EINE REFORM

I. Das bisherige System.

Die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft wurden im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 1957 in Rom niedergelegt. Das europäische Kartellrecht basiert auf einem generellen Verbot von Wettbewerbsbeschrän-kungen, das nur durch behördliche Freistellung im Rahmen eines präventiven Anmelde- und Genehmigungssystems aufgehoben werden kann[5]. Vereinbarun-gen zwischen Unternehmen, die den Wettbewerb und den zwischenstaatlichen Handel beschränken, sind nach Art. 81 Abs. 1 verboten und nach Abs. 2 nich-tig, es sei denn, das Verbot in Abs. 1 wird nach Art. 81 Abs. 3 unter bestimm-ten Voraussetzungen für nicht anwendbar erklärt. Für diese Nichtanwendbar-keitserklärung ist nach Art. 9 Abs. 1 der VO Nr. 17 ausschließlich die EU-Kommission zuständig. Nationale Behörden und Gerichte können lediglich die Bestimmungen des Art. 81 Abs. 1 und 2 anwenden[6].

II. Die Folgen des Anmelde- und Genehmigungssystems.

Die Folge dieses stark zentralisierten Genehmigungssystems ist eine Flut von Anmeldungen, zumal nur die Anmeldung vor Geldbußen bei praktizierten Ver-einbarungen schützt, Art. 15 Abs. 5 a) VO Nr. 17. Bereits 1967, d.h. nur fünf Jahre nach Inkrafttreten der VO Nr. 17, lagen der EU-Kommission 37.450 Anmeldungen vor[7]. Geboten war eine Anpassung, um die Zahl der Einzelan-meldungen zu beschränken. Zu nennen sind hier folgende von der Kommission ergriffenen Maßnahmen: Einführung des Spürbarkeitskriteriums bei der Ausle-gung des Begriffs ‚Beeinträchtigung des Wettbewerbs’[8], um Bagatellfälle vom Anwendungsbereich des Art. 85 Abs. 1 auszuschließen; zahlreiche generell-ab-strakten Gruppenfreistellungsverordnungen, die bestimmte Gruppen von ge-genwärtigen und künftigen Vereinbarungen, Beschlüssen oder abgestimmten Verhaltensweisen vom Kartellverbot befreien; die Praxis der sog. „comfort let-ters“[9] - informelle Verwaltungsschreiben, die formelle Einzelfreistellungs-entscheidungen umgehen. Mit diesen Mitteln ist es der Kommission zwar ge-lungen, die Flut der Neuanmeldungen einzudämmen. Die Last von rund 200 unerledigten Freistellungsanträgen[10], die wegen der vollkommenen Kapazitä-tenauslastung nur noch vor sich hergeschoben wird, zeigt jedoch deutlich, dass die Grenzen der Anpassungsmaßnahmen erreicht sind[11]. Eine Erledigung in-nerhalb akzeptabler Fristen ist kaum noch möglich. Die anstehende EU-Erwei-terung dürfte die ohnehin desolate Situation noch verschärfen. Hinzu kommt, dass es sich bei den Anmeldungen meistens um Routinefälle handelt, die zwar über der Bagatellgrenze liegen, jedoch zu keiner schwerwiegenden Wettbe-werbsbeeinträchtigung führen[12]. Anstatt der aktiven Wettbewerbspolitik muss sich die Kommission mit der reagierenden Rolle begnügen[13].

Deswegen ist nach einhelliger Ansicht das derzeitige System wegen seiner In-effizienz äußerst reformbedürftig[14].

III. Reform der VO Nr. 17/1962 – Die Durchführungs-VO Nr. 1/2003.

1. Entstehung der VO Nr. 1

Das europäische Kartellverfahrensrecht ist seit einigen Jahren im Fluss. Die Ursache dafür liegt in der zur Gründungszeit der EWG berechtigten und sinn-vollen Reichweite des Art. 85 Abs. 1 EGV[15], dessen Verbot sowohl die hori-zontalen als auch die vertikalen Bindungen zwischen den Wettbewerbern er-fasst[16]. Unter den vertikalen Beschränkungen sind Vereinbarungen zwischen Wettbewerbern unterschiedlicher Wirtschaftsstufen, wie z.B. Hersteller mit Zwischenhändlern und Endverkäufern, zu verstehen. Mit der zunehmenden Praxiserfahrung hat man erkannt, dass vertikale Absprachen in der Mehrzahl Effizienz fördernd sind, da sie nicht den interbrand- sondern lediglich den intrabrand-Wettbewerb betreffen[17].

a. Reformablauf im Bereich der vertikalen Vereinbarungen

Die Folge dieser Erkenntnis war eine Vielzahl von Gruppenfreistellungsverord-nungen (kurz GVO), die die überschießende Reichweite des Art. 85 Abs. 1 EGV korrigieren sollte. Diese Praxis mündete schließlich in der sog. Schirm-freistellungsverordnung Nr. 2790/99 vom 22. Dezember 1999 (in Kraft ab dem 01.01.2000). Sie hat alle bisherigen GVO, die Vertikalvereinbarungen zum Ge-genstand hatten, ersetzt und stellte diese grundsätzlich vom Verbot frei, soweit der Marktanteil der Teilnehmer im jeweiligen Markt nicht über 30% hinaus-geht. Nur einzelne Formen der Vertikalbindungen werden von dieser Erleichte- rung ausgenommen[18].

b. Reformablauf im Bereich der horizontalen Vereinbarungen

Bei den horizontalen Beschränkungen ist zwischen bloßen Kooperationen zweier rechtlich selbständiger Unternehmen und den Unternehmenszusammen-schlüssen zu unterscheiden. Bei den letzteren handelt es sich um sog. Großfu-sionen, bei denen sich alle Teile der fusionierenden Firmen zu einem neuen rechtlich selbständigen Unternehmen zusammenschließen. Solche Unterneh-menszusammenschlüsse werden seit 1990 anhand der Fusionskontroll-Verord-nung geprüft. Bloße Kooperationen zweier rechtlich selbständiger Unterneh-men werden nicht von der Fusionskontroll-Verordnung erfasst und bilden folg-lich den Regelungsbereich der VO Nr. 17. Der Großteil aller wettbewerbsbe-schränkenden Vereinbarungen ist freilich letztgenannter Art. Im Hinblick auf solche horizontale Vereinbarungen, sprich die Kartelle, die unbestritten eine er-hebliche Gefahr für den freien Wettbewerb darstellen[19], gehen die für die nächste Zukunft ins Auge gefassten Änderungen noch weiter. Die Entwicklung nahm ihren Lauf mit der Vorlage eines „Weissbuchs über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag“ am 28.04.1999[20] seitens der Generaldirektion IV der Kommission. Darin forderte die Kommission alle interessierten Kreise auf, bis zum 30.09.1999 Stellung-nahme zu den darin enthaltenen Reformvorschlägen abzugeben. Mit dem Ver-ordnungsvorschlag vom 27.09.2000 an den Europäischen Rat hat sie ihr Re-formvorhaben fortgeführt. Am 16.12.2002 wurde die VO Nr. 1 im Rat verab-schiedet.

2. Ziele und Mittel der Reform-VO Nr. 1

a. Die Ziele

Bei den Vorarbeiten für die neue VO Nr. 1 fühlte sich die europäische Kom-mission als Hüterin der Gemeinschaftsverträge drei grundsätzlichen Zielen ver-pflichtet. Die Reform soll an dem Erfordernis einer wirksamen Überwachung bei einer möglichst einfachen Verwaltungskontrolle, so Art. 83 Abs. 2 lit. b, zu messen sein. Außerdem muss sie die kohärente und einheitliche Anwendung der Wettbewerbsregeln und eine angemessene Rechtssicherheit der Unterneh-men gewährleisten[21]. Die Verwirklichung dieser Ziele sah man aufgrund des ineffizient gewordenen Anmelde- und Genehmigungssystems (s.o. S. 2 f.) und dem damit einhergehenden Freistellungsmonopol der Kommission gem. VO Nr. 17 als nicht mehr gewährleistet an. Des Weiteren fühlte sich die Kommissi-on nicht mehr in der Lage, das bisherige System mit ihren beschränkten Kapa-zitäten fortzuführen[22]. Die Kommissionstätigkeit soll sich schwerpunktmäßig auf die Verfolgung besonders schwerer Wettbewerbsverstöße auf konzentrier-ten, in Liberalisierung begriffenen Märkten, ausrichten[23]. Dies gebietet die sachgerechte Prioritätensetzung der Kommission als Wettbewerbshüterin.

b. Die Mittel

Unter mehreren diskutierten Reformvorschlägen, die sich in die das Genehmi-gungssystem verbessernden und das System ablösenden einteilen lassen (sog. Klein- und Großlösungen[24]), hat sich die Europäische Kommission für den letzten Vorschlag in ihrem Weißbuch entschieden. Der Verordnungsvorschlag und die VO Nr. 1 selbst übernehmen bis auf wenige Modifizierungen die Ideen des Weißbuchs. Im Mittelpunkt der Reform steht somit die Abschaffung des Anmeldungs- und Genehmigungssystems und der Übergang zum Verbotsprin-zip mit gesetzlicher Ausnahme, Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 1. Dieser Reformschritt wird unterstützt durch die Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung, die einerseits der weiteren Entlastung der Kommission dienen und andererseits zur einheitlichen Rechtsanwendung in den Mitgliedsstaaten (vgl. Art. 3 VO Nr. 1) führen soll. Dies wird dadurch erreicht, dass die nationalen Wettbewerbsbehör-den und Gerichte nun Art. 81 Abs. 3 unmittelbar anwenden. Die Art. 11-15 VO Nr. 1 regeln die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den nationa-len Wettbewerbsbehörden innerhalb eines „Netzes“[25], zu dessen Gunsten die Kommission ihr ursprüngliches Freistellungsmonopol abtritt. Den nicht auszu-schließenden Kohärenzproblemen wird durch eine Reihe von Informations-, Kooperations- und Evokationsmechanismen begegnet, siehe insb. Art. 16 VO Nr. 1. Neben diesen grundsätzlichen Änderungen bringt die Verordnung eine Reihe von ergänzenden Regelungen, die durch die Systemumstellung bedingt sind und deswegen keine eigenständige Bedeutung haben.

3. System der Legalausnahme

Den Kernpunkt der Reform und somit der VO Nr. 1 stellt daher die Einführung des Systems der Legalausnahme dar. Um eine sichere und klare Grundlage für die nachfolgenden Überlegungen zu der Vertragsvereinbarkeit der VO Nr. 1 zu gewinnen, müssen hier die beiden Verfahrenssysteme ausführlich dargestellt und insbesondere auf ihre Unterschiede hin untersucht werden.

a. Das Anmelde- und Erlaubnissystem

Genehmigungssysteme beruhen auf dem Grundsatz, dass das grundsätzliche Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nur durch die Intervention

einer zu diesem Zweck befugten Behörde im Wege einer rechtsgestaltenden Genehmigungsentscheidung aufgehoben werden kann[26]. Mit anderen Worten: Wettbewerbsbeschränkungen werden aufgrund ihrer Gefährlichkeit für ein ge-meinschaftsweites System unverfälschten Wettbewerbs grundsätzlich einem strengen Verbot unterworfen und können nur unter bestimmten Voraussetzun-gen, welche die Vermutung der Gefährlichkeit ausnahmsweise entkräften, von diesem Verbot durch einen positiven Akt freigestellt werden. Die Anmelde-pflicht bringt neben ihrer Funktion, die Einzelfallprüfung zu ermöglichen, den grundsätzlichen materiellen Verbotscharakter zum Ausdruck[27].

Dieses Verbot wird im Art. 81 Abs. 1 postuliert. Solche Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen, die von dem Verbot erfasst werden, erklärt Abs. 2 kraft Gesetzes für nichtig. Diese Nichtigkeit entfaltet zivil- und öffent-lichrechtliche Folgen. Öffentlichrechtlich kann das Verbot zu verwaltungs-rechtlichen Sanktionen seitens der Kommission (Abstellungsandrohung, Zwangs- und Bußgeld, vgl. Art. 3, 15, 16 VO Nr. 17) führen. Zivilrechtlich ist Nichtigkeit mit ex tunc Wirkung als unmittelbare Rechtsfolge vorgesehen. Auch mittelbare Rechtsfolgen in Form von Schadensersatz- oder Unterlas-sungsklagen sind möglich, nachdem der EuGH den individuellen Schutzcha-rakter des Art. 81 Abs. 1 bejaht hat[28]. Gem. Art. 81 Abs. 3 können die Bestim-mungen des Abs. 1 unter bestimmten dort aufgeführten Bedingungen für nicht anwendbar erklärt werden. Abs. 3 geht damit von der Erfüllung des Tatbestan-des des Abs. 1 aus, was in den Fällen des Negativattests nach Art. 2 VO Nr. 17 gerade nicht der Fall ist[29]. Wollen Unternehmen eine individuelle Freistellung in Anspruch nehmen, müssen sie es bei der Kommission anmelden, vgl. Art. 4-10 VO Nr. 17. Die Beteiligten haben nach der erfolgten Anmeldung einen An-spruch auf Bescheidung[30]. Fehlt die Anmeldung oder ist sie unvollständig, so scheidet eine Freistellung selbst bei ihrer tatbestandlichen Einschlägigkeit aus[31]. Die Vereinbarung trifft weiterhin die Nichtigkeitsfolge des Art. 81 Abs. 2. Zuständig für Erteilung der echten Ausnahmegenehmigung ist die Kommis-sion, Art. 9 Abs.1 VO Nr.17, wobei sich die Nichtanwendbarkeitserklärung auf einzelne Maßnahmen (Einzelfreistellungen) oder auf Gruppen von Maßnah-men (Gruppenfreistellungen) beziehen kann. Liegen die Voraussetzungen des Art. 81 III vor, besteht ein Anspruch auf Erteilung der Freistellungserklärung[32]. Bis zu dem Erlass der Freistellungserklärung (oder bis zum in ihr bezeichneten Zeitpunkt) bleibt das angemeldete Kartell schwebend unwirksam[33].

Die Berechtigung für das Genehmigungssystem ergab sich u.a. aus dem Um-stand, dass zur Zeit des Erlasses der VO Nr. 17 noch keine festen Maßstäbe zur Handhabung des Art. 81 Abs. 3 existierten[34].

b. Das System der Legalausnahme

Auch das System der Legalausnahme beruht auf einem grundsätzlichen Verbot. Jedoch wird die Grenze für die Zulassung von Kartellen ebenfalls im Gesetz festgelegt. Es ist zunächst den Beteiligten überlassen, ob sie eine bestimmte Beschränkung des Wettbewerbs als zulässig betrachten und praktizieren oder nicht; erst im Streitfall entscheidet dann eine Behörde oder ein Gericht über die Auslegung des Gesetzes und damit über die Zulässigkeit der konkreten Wettbe-werbsbeschränkung[35].

Ein solches System der Legalausnahme sieht nun die neue VO Nr. 1 vor. Die Kernbestimmung des Systemwechsels enthält Art. 1 Abs. 2 VO Nr. 1: Erfüllen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltenswei-sen i. S. von Art. 81 Abs. 1 die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3, so sind sie in Zukunft ohne vorherige Entscheidung erlaubt. Die Freistellungen ergeben sich somit unmittelbar aus dem Gesetz. Diese Voraussetzungen stellen kumula-tiv[36] eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot dar. Liegen die Vorausset-zungen des Abs. 3 nicht oder nicht mehr vor, bleiben die Vereinbarungen – wie bisher – unzulässig und nichtig und genießen auch vor dem Eingreifen einer Behörde oder eines Gerichts keine vorläufige Gültigkeit. Wettbewerbsbe-schränkungen, die gegen das Kartellverbot in Art. 81 Abs. 1 verstoßen, aber die Voraussetzungen des Abs. 3 erfüllen, sind unmittelbar mit ihrem Abschluss voll wirksam. Die Notwendigkeit, genauer die Obliegenheit von Anmeldungen entfällt, zumal eine positive Entscheidung hinsichtlich der Feststellung der Vereinbarkeit mit Art. 81 ohnehin nur noch deklaratorischer Natur wäre[37]. Die beteiligten Unternehmen beurteilen eigenverantwortlich im Wege einer Selbst-einschätzung, ob ein Verbotsverstoß vorliegt[38]. Die Rechtsunsicherheit über die Rechtswirksamkeit des Kartells kann dadurch beseitigt werden, dass der Ver-stoß durch die EG-Kommission, nationale Behörden oder auch durch Privat-klage vor den Gerichten geltend gemacht wird[39].

Die Abgrenzung zum Missbrauchsprinzip erfolgt anhand der Nichtigkeitsver-mutung. Ein Missbrauchsprinzip bedeutet die uneingeschränkte Zulässigkeit einer Wettbewerbsbeschränkung bis zu einer konstitutiven Feststellung ihrer Unzulässigkeit[40]. Im Gegensatz zu dem Weißbuch, in dem die Kommission hervorhob, dass es im neuen System der Legalausnahme für Kartellvereinba-rungen keine Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 81 geben solle[41], wird in der VO Nr. 1 die Nichtigkeitsvermutung für die nicht vom Art. 81 Abs. 3 erfassten Vereinbarungen aufrechterhalten. Dies wird insbesondere vom Art. 2 S. 2 VO Nr. 1 verdeutlicht. Demnach obliegt die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 vorliegen, demjenigen, der sich auf diese Voraussetzungen beruft.

Der Begriff der Legalausnahme ist etwas missverständlich. Gesetzliche Aus-nahmen vom Kartellverbot gibt es jetzt auch schon, nämlich sekundärrechtlich in Gestalt der GVOen. Daher ist es ist nicht korrekt in einem Legalausnahme-system von Freistellungsverordnungen zu sprechen, da eine Freistellung gerade nicht mehr erforderlich ist. Das Verfahren der Einzelermächtigung der Kom-mission durch den Rat zum Erlass von GVOen wurde aber beibehalten[42]. Da sich beide Begriffe fest eingebürgert haben und man die Verordnungen rein funktionell als einschränkende Konkretisierung der Legalausnahme[43] verstehen kann, soll hier auf die, wenn auch begriffstechnisch unsaubere, Verwendung beider Bezeichnungen nicht verzichtet werden.

c. Unterschiede der beiden Systeme

Der entscheidende Unterschied zwischen dem System der Legalausnahme und dem Genehmigungssystem liegt in der Vorverlagerung des Rechtswirksam-keitszeitpunktes für solche Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen i.S.d. Art. 81 Abs.1, die an sich die Kriterien des Abs. 3 erfüllen. Gelten solche im System der Legalausnahme unmittelbar mit dem Entstehen, wird ihre Wirk-samkeit im Genehmigungssystem irgendwann nach dem Entstehen durch eine administrative Entscheidung postuliert. Als Folge dieser Vorverlagerung ent-fällt die Notwendigkeit der Anmeldepflicht als Einleitung des Freistellungsver-waltungsverfahrens. Die vorherige Kontrolle der Einhaltung der Wettbewerbs-regel bei der geplanten Verhaltenskoordinierung der beteiligten Unternehmen wird durch die nachträgliche Kontrolle der als (irrtümlich) rechtmäßig einge-schätzten und im Zweifel praktizierten Verträge oder Beschlüsse ersetzt.

FRAGESTELLUNG

Die vom Rat verabschiedete Reform-VO Nr. 1 muss von der Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen gem. Art. 83 gedeckt sein. Bei den sekundär-rechtlichen Normen, welche die Verordnungen sind, ist der Grundsatz zu be-achten, dass sie primärrechtliche Vorgaben nicht verändern dürfen. Der Um-fang der Verordnungsermächtigung in Art. 83 Abs. 2 ist durch den Inhalt der Art. 81, 82 vorgegeben[44]. Eine Durchführungsverordnung kann die darin fest-gelegten Grundsätze weder ändern noch ergänzen[45]. Die neue Kartellverord-nung wäre dann EG-vertragswidrig, bedürfte also zu ihrer Wirksamkeit einer Änderung des EG-Vertrages, wenn das in der VO Nr. 17 geregelte Prinzip des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt, das durch das System der Legalausnahme (Art. 1 Abs. 2 VO Nr.1) ersetzt werden soll, schon durch Art. 81 Abs.1, 3 vor-gegeben wäre. Die VO Nr. 1 wäre dann deswegen insgesamt rechtswidrig, weil sie ohne die Schlüsselbestimmung im Art. 1 Abs.2 nicht erlassen worden wäre.

VEREINBARKEIT DER VO NR. 1 MIT DEM PRIMÄREN EG-RECHT

Die VO Nr. 1 ist dann mit dem primären Gemeinschaftsrecht vereinbar, wenn sie formell und materiell seinen Vorgaben entspricht.

A. Formelle Rechtmäßigkeit der neuen Durchführungsverordnung

Die VO Nr. 1 ist formell rechtmäßig, wenn bei ihrem Erlass die Verfahrensvor-schriften des EG-Vertrages beachtet wurden. Maßgeblich ist vorliegend Art. 83 Abs. 1. Demnach werden die zweckdienlichen Verordnungen vom Rat auf Vorschlag der Kommission (Art. 250 Abs. 1) und nach Anhörung des Europäi-schen Parlaments mit qualifizierter Mehrheit (Art. 205 Abs. 2) beschlossen. Eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Vorgaben ist nicht ersichtlich. Von der formellen Rechtmäßigkeit der VO Nr. 1 kann ausgegangen werden.

B. Materielle Rechtmäßigkeit der neuen Durchführungsverordnung

Die DurchführungsVO ist dann materiell rechtmäßig, wenn sie die dem Ver-trag zu Grunde liegenden Grundsätze verwirklicht und dem Erfordernis einer wirksamen Überwachung bei möglichst einfacher Verwaltungskontrolle Rech-nung trägt, Art. 83. Die maßgeblichen Grundsätze sind dabei anhand der Aus-legung der einschlägigen gesetzlichen Normen zu ermitteln. Auslegungskriteri-en sind der Wortsinn, der Bedeutungszusammenhang des Textes, die Normvor- stellungen des Gesetzgebers, die Regelungszwecke und schließlich die allge- meinen Rechtsprinzipien sowie Grundsätze des EG-Rechts[46].

[...]


[1] Verordnung (EG) Nr. 1/2003, die die Verordnung Nr. 17/1962 ersetzen soll

[2] urspr. Art. 85 und 86 EGV; Artikel ohne Gesetzesangabe sind solche des EG-Vertrages in der Fassung von Nizza

[3] s. Bartosch, EuZW 2001, 103

[4] s. Hossenfelder/Lutz, WuW 2003, 119; Jaeger, WuW 2000, 1066

[5] Sondergutachten der Monopolkommission, Tz. 4

[6] ebenda

[7] Weißbuch, Tz. 25

[8] E 64/344/EWG, ABl. L 64 vom 10.6.1964, S. 1426

[9] ausführlich zu diesem Begriff Commichau/Schwartz, Rn. 758 f.

[10] Schaub im Handelsblatt v. 02.11.1999

[11] Weißbuch, Tz. 40

[12] vgl. Deselaers/Obst, EWS 2000, 42

[13] Schwenn, RIW 2000, 180

[14] vgl. nur Sondergutachten der Monopolkommission, Vorwort

[15] Möschel, Wirtschaftsdienst 1999, 504

[16] vgl. EuGH Slg 1966, 281 „Maschinenbau Ulm“

[17] Sondergutachten der Monopolkommission, Tz. 2

[18] vgl. Emmerich, Kartellrecht, § 36, S. 380

[19] Sondergutachten der Monopolkommission, Tz. 3

[20] KOM (1999) 101 endg./2, Brüssel, 12.5.1999; ersetzt allein wegen der Änderung einer Formalie die Veröffentlichung KOM (1999) 101 endg. vom 28.4.1999

[21] Weißbuch, Tz. 52

[22] Schütz, WuW 2000, 688

[23] Paulweber/Kögel, AG 1999, 504

[24] Weißbuch, Tz. 55-73

[25] vgl. 15 Erwägungsgrund VO Nr. 1

[26] Weißbuch, Tz. 53

[27] Paulweber/Kögel, AG 1999, 509

[28] EuGH, Rs. 127/73, BRT/Sabam, Slg. 1974, 51 (62)

[29] hier stellt die Kommission aufgrund der ihr bekannten Tatsachen in einer förmlichen Entscheidung fest, dass ein Verstoß gg. Art. 81 Abs. 1 gerade nicht vorliegt.

[30] s. Deselaers/Obst, EWS 2000, 43

[31] EuGH Slg. 1983, 1825 (1902)

[32] EuGH Slg. 1966, 299 (347); Langen/Bunte, Art. 85 generelle Prinzipien, Rn. 149

[33] Commichau/Schwartz, Rn. 746

[34] Weißbuch, Tz. 77

[35] Mestmäcker, EuZW 1999, 524

[36] Geiger, EUV/EGV Art. 81 Rn. 48

[37] vgl. Deselaers/Obst, EWS 2000, 42

[38] Sondergutachten der Monopolkommission, Tz. 6

[39] Mestmäcker, EuZW 1999, 527

[40] Möschel, Wirtschaftsdienst 1999, 505

[41] Weißbuch, Tz. 78

[42] Hossenfelder/Lutz, WuW 2003, 128 – die Autoren stufen aber diesen Umstand als Ausdruck der Ablehnung der Forderung der Kommission nach einer Generalermächtigung zum GVO-Erlass seitens des Rats ein.

[43] vgl. Geiger, EuZW 2000, 166

[44] Paulweber/Kögel, AG 1999, 506

[45] Immenga/Mestmäcker – Ritter, Art. 87 Rn. 5

[46] vgl. Larenz/Wolf, § 4 Rn. 36

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Vereinbarkeit der neuen europäischen Kartellverordnung 01/2003 mit dem primären Gemeinschaftsrecht
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Rechtswissenschaften)
Veranstaltung
Seminar im Kartellrecht
Note
14 Punkte
Autor
Jahr
2003
Seiten
52
Katalognummer
V16071
ISBN (eBook)
9783638210201
Dateigröße
575 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Seminarschein gilt als Voraussetzung für die Promovierung in Baden-Württemberg
Schlagworte
Vereinbarkeit, Kartellverordnung, Gemeinschaftsrecht, Seminar, Kartellrecht
Arbeit zitieren
Wladimir Morlang (Autor:in), 2003, Vereinbarkeit der neuen europäischen Kartellverordnung 01/2003 mit dem primären Gemeinschaftsrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16071

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