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PNEUMA

Der Atem des Geistes ist nicht immer frei

Title: PNEUMA

No Entry , 2025 , 445 Pages

Autor:in: Stefan Ruchti (Author)

StorySphere: Novels & Short Stories
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Summary Excerpt Details

Wenn Gedanken zu Daten werden – wem gehört dann noch das Ich?

Für die junge Neurologin Livia Martens ist das Praktikum in der geheimnisvollen Forschungsanstalt hoch in den Schweizer Alpen ein Traum – bis sie das Projekt PNEUMA kennenlernt. Was als revolutionäre Technologie zur Entschlüsselung des Bewusstseins präsentiert wird, entpuppt sich bald als gefährliches Spiel mit Erinnerungen, Identität und Macht.

Zwischen kalten Korridoren, flackernden Interfaces und den rätselhaften Blicken von Prof. Dr. Adrian Voss gerät Livia immer tiefer in ein Netz aus Versprechen und Manipulation. Je mehr sie über PNEUMA erfährt, desto stärker wächst in ihr die Frage:

Wo endet Forschung – und wo beginnt der Verlust ihrer eigenen Seele?

Excerpt


Stefan Ruchti

 

PNEUMA

Der Atem des Geistes
ist nicht immer frei

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Impressum:

Copyright © StorySphere 2025

Ein Imprint der GRIN Publishing GmbH, München, Germany

Druck und Bindung: Libri Plureos GmbH, Friedensallee 273,        
22763 Hamburg

Text: © 2025 Copyright by Stefan Ruchti

Umschlaggestaltung: generiert mit KI

 

Herstelleradresse: info@bod.de  

Danksagung

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die den Mut haben, in die unsichtbaren Räume ihres eigenen Bewusstseins zu gehen.
Allen, die den Schmerz eines Abschieds kennen und trotzdem weitergehen.
Allen, die zwischen Licht und Dunkelheit wandeln und aus beiden etwas Kostbares mitnehmen.

Mein Dank gilt meiner Familie, die mir gezeigt hat, wie wichtig es ist, den eigenen Weg zu finden – selbst wenn er durch Nebel führt.
Meinen Freunden, die geduldig zugehört haben, wenn die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwammen.
Und jedem Leser, der sich auf diese Reise eingelassen hat: Ihr macht die Geschichte erst lebendig.

PNEUMA

von Stefan Ruchti

Inhalt

Das Flackern – Ankunft

Innerer Zwiespalt

Die zweite Session

Jenseits der Schwelle

Interface

Rückkehr

Bewusstsein zum Verkauf

Das Doppelspiel

Fluchtversuche

Der Kampf um Freiheit

Das erste Licht

Unter der Oberfläche

Kontrollverlust

Der vergessene Trakt

Das Gegenprotokoll

Der Architekt im Rauschen

Abstieg ins Ursprungssystem

Das Nachbeben

Ein leiser Vorbote

Das Echo

Vor der Schwelle

Der Rückweg

Der Schattenkontakt

Das Letzte Protokoll

Markus’ Warnung

Mira und der Riss

Unter Beobachtung

Die zweite Spur

Voss’ Einladung

Unter Strom

Das verschwundene Protokoll

Schwelle

Kein Zurück

Hinter der Schwelle

Verfolgung

Der neue Ort

Der Blicklose

Durch das flackernde Tor

Der rote Pfad

Der Turm ohne Spitze

Die Seitwärtsstufen

Die flimmernde Mauer

Die Stadt der Herzen

Ruf des Turms

Die Grenze

Der schmale Weg

Die Entscheidung am Ende des Weges

Die gläserne Tür

 

Vorwort

„Wir sind, jeder von uns, eine einzigartige Geschichte, die von einem einzigartigen Geist erzählt wird – und es ist unsere Geschichte, die unser Sein formt.“
– Oliver Sacks, Neurologe und Schriftsteller

Dieses Buch ist kein Roman im klassischen Sinn.
Es ist eine Spurensuche.
Ein Fragmentfeld.
Ein Echo von Stimmen, die nie ganz verschwunden sind.

Wir leben in einer Welt, in der Systeme lernen, uns zu lesen – bevor wir uns selbst verstanden haben. In dem Daten oft mehr Bedeutung tragen als Empfindungen. Und in der Erinnerung zunehmend digitalisiert wird – komprimiert, geordnet, gefiltert. Doch was bleibt dabei zurück? Was wird verdrängt, gelöscht, überschrieben?

PNEUMA fragt nicht nach der Zukunft – sondern nach dem, was wir bereit sind zu vergessen, um sie zu erreichen.
Es handelt von Livia – einer Figur, die nicht nur durch Systeme geht, sondern durch das, was zwischen den Zeilen existiert: durch Zweifel, Verlust, Berührung, Veränderung. Was sie findet, ist kein Ergebnis.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen.

Herzliche Grüsse

Stefan Ruchti

 

**Für jene,

die schweigen,
aber nicht vergessen.**

Für die,
die unter der Oberfläche lauschen,
wenn Systeme sprechen
und Herzen flüstern.

Für die Fragenden.
Für die Fühlenden.
Für die,
die noch wissen,
dass Erinnerung kein Besitz ist –
sondern ein Auftrag.

 

Kapitel 1:

Das Flackern – Ankunft

 

Livia hatte den Brief schon so oft gelesen, dass das Papier weich geworden war. Die schwarzen Lettern des offiziellen Schreibens wirkten beinahe graviert, als wollten sie ihr den Moment unauslöschlich ins Gedächtnis brennen:
Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu dürfen…

Das Praktikum in der renommiertesten neurologischen Forschungsanstalt der Schweiz. Eine Chance, die wie ein seltenes Fenster erschien – nur für einen Augenblick offen, bevor es sich für immer schliessen würde.

Als sie Jonas davon erzählte, stand er am Fenster ihrer kleinen Wohnung in Basel, die Schultern angespannt, den Blick hinaus auf die regennasse Strasse gerichtet. Er war gross, mit einer Selbstsicherheit, die er wie eine zweite Haut trug. Menschen drehten sich nach ihm um – nicht nur wegen seiner Statur, sondern wegen dieser Mischung aus Charme und der Überzeugung, dass die Welt ihm etwas schuldig sei.

„In die Berge? Ins Gotthardmassiv?“ Seine Stimme klang, als hätte sie einen schlechten Witz gemacht. „Wir wollten doch ins Ausland. Ich habe den Job schon zugesagt.“

Livia, kleiner und schlanker als er, lehnte sich gegen den Küchentisch. Ihr dunkles Haar fiel ihr lose über die Schultern, und in den grauen Augen glomm eine Mischung aus Vorfreude und Trotz. „Das ist nicht irgendein Praktikum, Jonas. Das ist das Praktikum. Ich habe so lange darauf hingearbeitet.“

„Und ich habe gearbeitet, um uns diesen Schritt ins Ausland zu ermöglichen.“ Er drehte sich endlich zu ihr um, sein Gesicht scharf gezeichnet im Licht der Strassenlaterne, die von draussen hereinschnitt. „Wir könnten ein neues Leben anfangen. Zusammen. Warum willst du das wegwerfen?“

Der Streit begann leise, fast sachlich. Doch wie immer mit Jonas kippte es schnell. Seine Worte kamen in Wellen, jede mit einer unterschwelligen Erwartung, dass sie sich fügen würde. Livia hörte ihn reden – von Karrieresprüngen, Reisen, einem Leben unter warmer Sonne – und spürte gleichzeitig, wie sich eine kalte Klarheit in ihr ausbreitete.

„Es geht immer nur um dich“, sagte sie schliesslich. Ihre Stimme war ruhig, aber schneidend. Sie wusste, dass er diesen Satz hassen würde.

Jonas presste die Lippen zusammen. „Das ist unfair.“

„Nein, das ist ehrlich.“

Es war nicht dieser eine Satz, der alles beendete. Die Risse in ihrer Beziehung waren schon lange da – kleine, unsichtbare Brüche, entstanden aus Gesprächen, die nie geführt wurden, und Kompromissen, die immer auf ihrer Seite lagen. Nun wurde aus den Rissen ein Bruch.

Am Abend packte sie ihre Tasche. Kein Drama, keine Tränen, nur der klare Entschluss, zu gehen. Jonas stand in der Tür, sah zu, sagte nichts mehr. Vielleicht wusste er, dass Worte jetzt nur noch wie Staub in der Luft hängen würden.

Der Zug verliess Basel in der Morgendämmerung, rollte hinaus aus der Stadt, hinein in eine Landschaft, die mit jedem Kilometer einsamer wurde. Regen wich Nebel, und die Berge wuchsen vor dem Zugfenster wie graue, schweigende Riesen. Sie sah nicht zurück.

Je höher die Gleise sich schraubten, desto tiefer sanken ihre Zweifel. Am Ende blieb nur ein Gedanke: Ich gehe meinen Weg.
Und dieser Weg führte sie direkt ins Herz der Berge – und an einen Ort, der alles verändern würde.

Livia stand vor dem massiven Gebäude der neurologischen Forschungsanstalt, dass sich wie ein kalter Koloss in den grauen Himmel reckte. Hoch oben in den Schweizer Bergen thronte die Klinik über einem Tal, in dem Nebel sich wie träge Schleier zwischen den Fichten wand. Die Fenster waren spiegelglatt, so als wollten sie jeden Blick abschirmen – vor der Welt draussen und vor dem, was im Inneren wartete. Ein strenger Wind riss an ihrem dünnen Mantel. Trotz des späten Sommers fühlte sie einen unangenehmen Kälteschauer, der nichts mit dem Wetter zu tun hatte.

Sie hatte sich diesen Augenblick unzählige Male ausgemalt und jede erdenkliche Variante durchgespielt – den Augenblick, in dem sie durch das mächtige Tor schreiten und ihr Promotionspraktikum in Neuropsychologie in der renommierten Klinik antreten würde. Endlich war es so weit.

Die Chance, echte Einblicke in die Geheimnisse des menschlichen Geistes zu gewinnen. Doch jetzt, hier vor diesem kalten Betonmonolithen, spürte sie nur eine wachsende Unsicherheit.

Livia war alles andere als eine gewöhnliche Studentin. Schon in jungen Jahren hatte sie das Rätsel des Bewusstseins in seinen Bann gezogen: Wie kann aus blossem biologischem Gewebe etwas so Flüchtiges wie Gedanken und Gefühle entstehen? Ihr Antrieb war das Verlangen, zu ergründen, wie Identität sich formt, warum wir so sind, wie wir sind, und auf welche Weise der Geist in die Materie gelangt – und ob der freie Wille überhaupt mehr als eine Illusion sein könnte.

In der Klinik würde sie Zeugin sein, wie Menschen an den Grenzen ihres Bewusstseins existierten – zwischen Leben und Tod, zwischen Sein und Nichtsein. Ihre Aufgabe war klar: Sie sollte lernen, beobachten, dokumentieren – vielleicht sogar verstehen. Doch hinter dieser professionellen Fassade keimte die Angst, selbst zum Spielball in einem grösseren, dunkleren Experiment zu werden.

Livia griff in ihre Tasche und zog ihr Badge hervor, den sie per Post vom Institut erhalten hatte. Dieses kleine Metallplättchen war mehr als nur eine Zutrittskarte – es öffnete ihr die Tür in eine Welt, in der das ‘ICH’ zerfloss und das Bewusstsein nur als fragiles Flimmern in der Dunkelheit existierte.

Mit einem tiefen Atemzug öffnete sie die gläserne Tür und trat ein.

Die sterile Empfangshalle lag in unheimlicher Stille. Ein automatisches Terminal prüfte ihre Identität, bevor sich lautlos eine weitere Tür öffnete. Dahinter erwartete sie Prof. Dr. Adrian Voss.

Er war grösser, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Dunkle Kleidung, glatt zurückgekämmtes Haar, stechender Blick. Eine Erscheinung, die gleichzeitig faszinierte und abschreckte.

„Willkommen, Frau Martens“, sagte er ruhig. „Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise und sind bereit für das, was jenseits der Oberfläche liegt.“

„Ich... denke schon“, erwiderte sie unsicher.

„Gut.“ Ein kurzes Nicken. „Dann zeige ich Ihnen später etwas.“

Nach einer kurzen Einweisung durch den Sicherheits-verantwortlichen in die Gepflogenheiten und Security relevanten Themen der Klinik – bei der sie die wichtigsten Ansprechpartner kennenlernte und ihre Unterkunft gezeigt bekam –, durfte Livia ihre wenigen persönlichen Sachen ablegen: einen Koffer und eine kleine Aktentasche mit ihrem Laptop. Anschliessend führte man sie durch eine Schleuse, vorbei an zahlreichen geschlossenen Türen, über einen langen, in klinischem Weiss gestrichenen Flur in den Forschungstrakt. Über dem glatten Boden flackerte Neonlicht, während Monitore wirbelnde Gehirnscans und teils rätselhafte Diagramme anzeigten, die sie nur zum Teil zu deuten vermochte.

„Das hier“, sagte Voss und blieb vor einem abgedunkelten Raum stehen, „ist eine unserer neuronalen Schnittstellen.“

Er tippte einen Code in das Bedienfeld. Die Tür glitt zur Seite.

Ein Mann lag in einer Liege, der Kopf in eine helmartige Vorrichtung eingespannt. Sensoren an Schläfen, Nacken und Brust. Auf einem Bildschirm sah Livia eine seltsame Landschaft – Berge, aber aus Licht. Bewegte Geometrie, wie ein Traum aus digitaler Materie.

„Was... sieht er?“, flüsterte sie.

„Seine eigene Erinnerung. Oder das, was PNEUMA daraus konstruiert.“

„Und er weiss, dass es nicht real ist?“

„Manchmal. Manchmal nicht. Das ist der Punkt. Das Interface erzeugt eine bewusste Simulation – eine Welt, gespeist aus Erinnerungsfragmenten, Bedeutungsclustern. Wir beobachten, wie das Ich sich dort verhält.“

Livia trat näher. Der Mann bewegte sich nicht, aber sein Atem beschleunigte sich leicht.

„Ist er... wach?“

„Wach genug. Nicht im klassischen Sinn. Das Bewusstsein ist nicht binär. Es flackert.“

Livia drehte sich langsam zu Voss. „Und wenn er nicht mehr weiss, wer er ist?“

Er lächelte kühl. „Dann haben wir etwas gelernt.“

Livia fragte: «Was ist dann PNEUMA genau?

Voss erwiderte und hielt dabei, wie für einen Professor üblich einen kurzen Vortrag.

PNEUMA – das Protokoll für Neuronale Echtzeit-Übertragung, Musteranalyse und Assimilation – stellt keinen weiteren Schritt in der Entwicklung neurotechnologischer Interfaces dar, sondern eine fundamentale Neudefinition dessen, was Bewusstsein bedeutet. Es handelt sich um ein kognitives System, das neuronale Aktivität nicht nur misst, sondern semantisch dekodiert, dynamisch interpretiert und in simulative Rückkopplungsschleifen überführt. PNEUMA extrahiert bedeutungstragende Kognitionsmuster – etwa Emotionen, Entscheidungsstrukturen, Erinnerungscluster – und nutzt diese, um in Echtzeit eine virtuelle Repräsentation des Ich-Zustands zu erzeugen: ein simuliertes Bewusstseinsmilieu, gespeist aus autobiografischem Material, rekonstruiert auf Grundlage neuronaler Frequenzmuster.

Im Zentrum steht die These, dass Bewusstsein keine stabile, metaphysische Instanz ist, sondern eine konfigurierbare Matrix aus Informationszuständen. PNEUMA greift diese Matrix auf und übersetzt sie in steuerbare Strukturen. Die technische Architektur basiert auf multimodalen Sensorfeldern, tiefenanalytischer Mustererkennung sowie adaptiven Feedback-Algorithmen, die sowohl Input aus dem Subjekt als auch aus der externen Operatorinstanz verarbeiten. Dabei entstehen Resonanzfelder zwischen Beobachter und Subjekt – emotionale Übertragungen, die gezielt genutzt werden können, um Reaktionen zu verstärken, zu modulieren oder zu dekonstruieren. Erinnerungen werden dabei nicht nur erinnert, sondern rekonstruiert, neu gewichtet, isoliert oder überschrieben.

PNEUMA wird bereits in verschiedenen Feldern getestet – von der Rehabilitationsneurologie über forensische Simulationen bis hin zur kognitiven Rekonstruktion bei Gedächtnisverlust oder psychischen Traumzuständen. Ziel ist nicht allein die Analyse, sondern die gezielte Veränderung: Wer den Code eines Bewusstseins erkennt, kann ihn umschreiben. Gedanken werden so zu Daten. Und Daten – zu Werkzeugen.

Livia schluckte schwer, während sich ein Ziehen in ihrem Magen ausbreitete. Diese Forschung erschien ihr einerseits genial, andererseits zutiefst beunruhigend. Eine leise Stimme in ihr mahnte, sie sei zu weit gegangen – doch der unersättliche Forscherdrang in ihr verlangte nach mehr.

„Sie sehen es jetzt, oder?“, sagte Voss. „Das Bewusstsein ist formbar. Und wer es formen kann, kann alles verändern – Kriege verhindern, Menschen zu mehr Selbstreflexion bewegen, anderes Verhalten anstossen. Einfach gesagt: die Welt besser machen.“

Livia schwieg. Doch in ihr war längst etwas erwacht – kein klarer Gedanke, keine feste Überzeugung, sondern ein feines, pulsierendes Bewusstsein, dass hier Kräfte am Werk waren, die grösser waren als sie. Es war ein Sog aus Faszination und Unbehagen, ein stilles Versprechen, das Wissen nicht nur erklärt, sondern auch verändert. Und irgendwo tief in ihr flackerte der gefährliche Gedanke, dass sie vielleicht bereit wäre, diesem Sog zu folgen – selbst, wenn sie nicht wusste, wohin er führte.

Später, als sie mit Voss durch einen ruhigeren Korridor zurückging, blieb er plötzlich stehen und musterte sie einen Moment lang. „Sie wirken... vorbereitet. Nicht überrascht. Das ist selten.“

Livia zog die Schultern leicht an. „Ich denke, ich wusste, worauf ich mich einlasse.“

„Wirklich?“, fragte er. „Viele glauben das. Doch kaum jemand kommt mit einer solchen Kälte zurecht.“

Sie zögerte, dann sagte sie leise: „Mein Vater hatte Alzheimer. Früher war er Jurist, messerscharf. Am Ende hat er mich kaum noch erkannt. Ich habe gesehen, wie ein Bewusstsein zerfällt. Wie jemand langsam... verschwindet.“

Voss nickte langsam. „Das erklärt Ihre Motivation.“

„Ich wollte wissen, ob man das aufhalten kann. Oder wenigstens verstehen. Aber je mehr ich lerne, desto weniger sicher bin ich, ob wir überhaupt begreifen, was wir da erforschen.“

Er lächelte. Nicht arrogant, sondern... beinahe verständnisvoll. „Ein guter Anfang. Zweifel sind wertvoll. Sie zeigen, dass noch etwas in Ihnen denkt.“

Livia hob eine Braue. „Sie meinen, das Denken allein macht uns menschlich?“

„Kann man Denken wirklich kontrollieren?“

„Nein“, erwiderte Voss, und in seiner Stimme lag keine Spur von Zweifel. „Aber es ist das Einzige, was wir überhaupt kontrollieren können. Alles andere… ist eine sorgfältig gepflegte Illusion.“

Die Worte trafen Livia wie ein kalter Hauch, der durch einen Spalt in der Wirklichkeit drang. Sie wusste nicht, ob sie sich wehren oder zustimmen sollte. Ein Teil von ihr wollte das Gesagte sofort verwerfen, es als arrogante Vereinfachung abtun. Doch ein anderer Teil – der leise, gefährliche – spürte, dass Voss etwas berührt hatte, das sie nicht benennen konnte. Etwas, das sich wie der erste Riss in einer unsichtbaren Wand anfühlte.

Seine Worte hallten in ihr nach, lange nachdem sie sich getrennt hatten.

Kaum hatte Livia ihr zugewiesenes Zimmer betreten, wurde ihr noch ein Abendessen angeboten. Zu müde von der langen Reise lehnte sie jedoch höflich ab und liess sich auf das schmale Bett sinken. Die Matratze gab kaum nach, als hätte sie nur den Zweck, einen Körper zu tragen, nicht, ihn zu umarmen. Unter dem dünnen Laken fühlte sich der Stoff kühl und glatt an – ein Gefühl, das eher an eine Untersuchungsliege erinnerte als an ein Bett.

Der Raum war rein funktional, fast spartanisch: ein schlichter, hochkantiger Schrank, dessen Tür beim Öffnen kaum hörbar in den Scharnieren klickte und im Inneren nach Desinfektionsmittel roch; ein kleiner Schreibtisch mit einer glatten, kühlen Oberfläche, die keinen Platz für persönliche Dinge zu lassen schien. Die Wände waren in einem grauweissen Ton gestrichen, so gleichmässig, dass ihre Augen fast keinen Halt fanden – als sollte jede Farbe, jede Erinnerung ausgelöscht werden.

Einziger Farbtupfer war der medizinische Notfallknopf an der Wand – ein sattes, unruhiges Rot, das im sterilen Umfeld wie ein Fremdkörper wirkte. Er zog ihren Blick immer wieder an, wie ein stiller Wächter oder ein ständiges Versprechen, dass hier etwas schiefgehen könnte.

Die Luft war frisch, aber nicht lebendig; sie roch nicht nach Holz oder Stoff, sondern nach etwas Gereinigtem, Gefiltertem – so sauber, dass es beinahe künstlich wirkte. Das Licht von der Decke war kühl und flach, frei von Wärme, und summte in einem kaum hörbaren, gleichmässigen Ton, der wie ein ständiger Tinnitus im Hintergrund lauerte.

Kein Strassenlärm drang herein, kein Wind, kein Rascheln von Bäumen – nur das ferne, gedämpfte Summen der Lüftung und hin und wieder ein leises Knacken im Metallgestell des Bettes, als wollte es daran erinnern, dass es da war.

Livia lehnte sich zurück, spürte den kalten Rahmen an ihrer Schulter, und hatte das Gefühl, der Raum beobachte sie – nicht durch Augen, sondern durch sein völliges Fehlen von Persönlichkeit. Es war ein Ort, der alles Private ausradiert, bis nur noch der Körper übrigbleibt.

Sie lag eine Weile reglos da und starrte zur Decke, als könnte deren sterile Leere eine Antwort liefern. Doch in ihrem Kopf drängten sich Bilder übereinander, Worte hallten nach, Voss’ unbewegter Blick bohrte sich wie ein fixierter Punkt in ihr Bewusstsein. Dazwischen das Flackern – jenes unstete Licht aus der Schnittstelle, in dem die Berge aus digitaler Materie aufleuchteten. Was hatte sie da gesehen? War es die echte Erinnerung des Mannes – gefiltert durch eine Maschine? Eine präzise konstruierte Simulation? Oder etwas Drittes, das sich jeder bekannten Kategorie entzog, wie ein Schatten, der nicht zum Licht gehört und doch von ihm geformt wird?

Langsam zog sie die Schuhe aus, legte sich hin. Das Licht über ihr flackerte kurz, als wollte es die Stimmung verstärken. Sie schloss die Augen – doch das Bild des Mannes im Interface flackerte hinter ihren Lidern weiter. Die Lichtberge. Die flüssige Geometrie. Sein starrer Blick.

Und Voss' Stimme: "Das Bewusstsein ist nicht binär. Es flackert."

Sie wälzte sich hin und her, das Laken kühl unter ihrer Haut, aber nicht kühl genug, um den flackernden Strom in ihrem Kopf zu beruhigen. Gedanken kamen nicht geordnet, sondern wie Splitter – zu scharf, um sie zu ignorieren, zu schnell, um sie zu fassen. Voss’ Stimme, der Blick des Mannes im Interface, das kalte Licht der Berge aus digitaler Materie – alles mischte sich zu einem einzigen, unerbittlichen Rauschen. Es war, als würde ihr Gehirn versuchen, eine Frequenz zu finden, auf der Ruhe möglich wäre, und dabei nur auf Störungen stossen.

Je länger sie lag, desto mehr wurde der Raum um sie herum zu einer Enge, die nicht aus Wänden bestand. Etwas in der Stille drängte sich an sie, so subtil, dass sie nicht sagen konnte, ob es von aussen kam oder aus ihr selbst. Der Schlaf blieb aus, nicht wie ein Gast, der sich verspätet, sondern wie jemand, der beschlossen hat, gar nicht zu erscheinen.

Schliesslich setzte sie sich auf. Ihre nackten Füsse fanden den kalten Boden, und das leichte Kribbeln in den Zehen schickte einen unangenehmen Schauer nach oben, bis in die Wirbelsäule. Sie ging zum Fenster, jeder Schritt lautlos auf dem glatten Belag, als würde der Boden ihr Gewicht verschlucken.

Draussen lag die Klinik wie in eine andere Realität versetzt unter dem nächtlichen Firmament. Das Licht der Sterne schien hier matter, als hätte selbst der Himmel einen Filter. Zwischen den Gebäudeflügeln lagen schmale Pfade, im Schnee versunken, und der Schnee war nicht der weiche, glitzernde Schnee aus Kindheitserinnerungen, sondern etwas Kompaktes, Starres, beinahe Feindliches. Kein Wind, kein Knirschen – nur eine Stille, so dicht, dass sie die Konturen der Berge noch schwerer machte.

Die Gipfel standen wie dunkle Wächter über dem Tal. Keine Bewegung, kein Flackern, nur diese unbeirrbare Präsenz, als hätten sie alles gesehen, was hier jemals geschehen war – und als würden sie schweigen, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus einem Pakt.

Im Glas des Fensters sah sie ihr Spiegelbild kaum. Nur ein schwacher Umriss, ein flüchtiger Schatten, der nicht ganz mit ihr übereinstimmte. Für einen Atemzug hatte sie das Gefühl, dieser Schatten bewege sich minimal verzögert – zu langsam, um es sicher zu wissen, zu schnell, um es zu vergessen.

Etwas in ihr zog sich zusammen. Es war kein klarer Gedanke wie Ich bin nicht allein, sondern ein körperliches Wissen, so instinktiv wie der Impuls, vor einer unsichtbaren Kante zurückzuweichen. Es war das Gefühl, dass die Klinik nicht nur ein Gebäude war, sondern ein Organ – lebendig, atmend, bewusst. Und in diesem Moment hatte sie den unerschütterlichen Eindruck, dass dieses Organ sie betrachtete, nicht als Person, sondern als Signal.

Nicht sichtbar.
Aber da.

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Details

Title
PNEUMA
Subtitle
Der Atem des Geistes ist nicht immer frei
Author
Stefan Ruchti (Author)
Publication Year
2025
Pages
445
Catalog Number
V1608513
ISBN (eBook)
9783389146286
ISBN (Book)
9783389146293
Language
German
Tags
Frage nach dem Ich Identität Entschlüsselung des Bewusstseins Bewusstsein Erinnerung Erinnerungen Manipulation Pneuma
Product Safety
GRIN Publishing GmbH
Quote paper
Stefan Ruchti (Author), 2025, PNEUMA, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1608513
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