Wie sähe Agatha Christies berühmte „Zeugin der Anklage“ nach deutschem Recht aus?
In Bremen Anfang der 2000er Jahre steht Leonard Wohlfahrt unter Mordverdacht. Vor dem Landgericht soll sich entscheiden, ob er schuldig oder Opfer eines Justizirrtums ist. An seiner Seite: der griesgrämige, aber brillante Strafverteidiger Justizrat Wilfried Roberts, der die Schwächen von Zeugen und Richtern gleichermaßen gnadenlos offenlegt. Doch das ist nur der Anfang – denn auch Leonards Frau Selda wird schon bald selbst ins Visier der Justiz geraten.
Ein packender Justizthriller, der Agatha Christies Klassiker in ein neues, deutsches Licht stellt.
Prolog
Gemeinsam mit den drei Berufsrichtern der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Bremen hatte ich mich an einem Frühsommertag des Jahres 2001 in die Cafeteria des Landgerichts, einem unwirtlichen Ort mit dem Charme einer Bahnhofswartehalle, begeben, um über die Möglichkeiten einer schnellen Erledigung des Strafverfahrens, in dem ich gerade verteidigte, zu sprechen. Da es schon auf Mittag zuging, bestellte ich mir zu meinem Kaffee eine dieser köstlichen Frikadellen, für die die Cafeteria des Landgerichts berühmt war. Die Richter und der Staatsanwalt tranken Kaffee.
„Ich habe selten ein so solide ausermitteltes Verfahren in einer Betäubungsmittelstrafsache gesehen wie in unserem Fall. Keine unsauberen Ermittlungsmethoden, kein verdeckter Ermittler im Einsatz, keine VP*... nichts von alledem. Ein Zeuge, der mit der Sache gar nichts zu tun hat, überführt den Angeklagten. Außerdem haben wir noch das Geständnis, das Ihr Mandant bei der Polizei abgelegt hat, Herr Rechtsanwalt“, meinte der Staatsanwalt zu Beginn unseres Gesprächs.
„... und das nicht verwertbar ist, weil es einem Beweisverwertungsverbot unterliegt, Herr Staatsanwalt“, ergänzte ich und setzte nach: „Außerdem sollten wir es vermeiden, die Beweise zu würdigen, bevor sie erbracht sind, mit anderen Worten: Warten Sie doch einfach ab, bis ich den Zeugen in die Mangel genommen habe. Mal sehen, ob der Zeuge auch dann noch mit weißer Weste dasteht.“
Nun schaltete sich der Vorsitzende Richter in das Gespräch ein. „Jawohl, das wird man dann sehen, was der Zeuge sagt, meine Herren.“ Der Vorsitzende Richter Dr. Bertram Arnold Eisele, der fachlichen Kontroversen, insbesondere über prozessrechtliche Fragen, stets mit großem Geschick aus dem Wege zu gehen verstand, wechselte das Thema, wandte sich mir zu und meinte: „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, Herr Rechtsanwalt, aber wenn ich Sie so höre, habe ich den Eindruck, Sie – und auch Ihre Kollegen - eifern dem Vorbild des Sir Wilfrid aus dem Film Zeugin der Anklage nach. Einmal einen Zeugen so befragen wie Charles Laughton in der Rolle des Sir Wilfrid Roberts die Haushälterin Janet McKenzie in Zeugin der Anklage befragt hat, nicht wahr? – oder irre ich mich?“
Ich wollte ein erträgliches Ergebnis für meinen Mandanten aushandeln, um dessen Sache es nicht gut stand, also antwortete ich: „Sie irren sich nicht. Zeugin der Anklage ist einer meiner Lieblingsfilme. Und welcher Verteidiger will nicht verteidigen wie Sir Wilfrid?“
„Ja, ja ... aber in der Praxis gelingt das doch selten, oder“, setzte der Vorsitzende nach.
Ich kam nicht dazu, auf diese wohl auch eher rhetorisch gemeinte Frage des Vorsitzenden zu antworten.
„Ich gucke ihn immer, wenn er in der Glotze läuft“, meinte der beisitzende Richter, bei dem es sich zugleich um den Berichterstatter, also um den Richter, der am Ende das schriftliche Urteil entwerfen würde, handelte.
„Ich kann diesem Film nicht so viel abgewinnen“, sagte der Staatsanwalt. „Ich mag nämlich keine Gerichtsfilme, weil sie die Staatsanwaltschaft häufig regelrecht in den Dreck ziehen, zumindest aber der Lächerlichkeit preisgeben und das muss nicht sein.“
„Das können Sie von diesem Film aber nun wirklich nicht sagen, Herr Staatsanwalt“, empörte sich der Vorsitzende, der offenbar ein Thema gefunden hatte, zu dem er etwas beitragen konnte.
„Der Film ist doch überhaupt nicht mehr aktuell und er hat so gar nichts mit unserer Rechtsordnung zu tun und außerdem wäre der Täter heutzutage vor einem deutschen Schwurgericht verurteilt worden, weil er durch die DNA überführt worden wäre“, erwiderte der Staatsanwalt unwillig.
„Wirklich“, meinte der Vorsitzende zu bedenken geben zu müssen. Nun meldete sich der andere Beisitzer zu Wort: „Es wäre interessant, den dem Film Zeugin der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalt einmal nach deutschem Prozessrecht durchzuspielen.“
Der Vorsitzende, dem das Gesprächsthema gefiel, fragte: „Sagen Sie mal, Herr Rechtsanwalt, am Ende des Films kündigt Sir Wilfrid, wie Sie sich vielleicht erinnern, doch an, die Frau von Leonard Vole, Christine Vole, verteidigen zu wollen. Das wäre doch ein Fall für Sie, nicht wahr? Haben Sie eine Idee, wie Sir Wilfrid Christine Vole mit Ziel des Freispruchs hätte verteidigen können?“
„Darüber müsste ich nachdenken, Herr Vorsitzender.“
„Na, wie auch immer…ich glaube wir sind uns einig, meine Herren; der Angeklagte will, wie mir scheint, mit seiner Vergangenheit Schluss machen und ein umfassendes Geständnis ablegen und uns damit eine umfangreiche Beweisaufnahme ersparen. Deswegen wird auf eine Strafe, die höchstens bei zwei Jahren liegt, zu erkennen sein und Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren kann man bekanntlich zur Bewährung aussetzen, Herr Verteidiger.“
Der Vorsitzende war sich anscheinend über den Strafrahmen, der für eine Verurteilung wegen Einfuhr einer nicht geringen Menge von Betäubungsmitteln zur Verfügung steht, nicht im Klaren, denn bei zwei Jahren liegt die Mindeststrafe, aber mir sollte es recht sein.
„Unter diesen Umständen wird mein Mandant einen dicken Schlussstrich unter seine Vergangenheit ziehen, reinen Tisch machen und ein umfassendes Geständnis ablegen“, erwiderte ich unter Verwendung all jener Plattitüden, die in derartigen Fällen gewöhnlich vom Richtertisch zu hören sind.
„Ich weiß nicht“, sagte der Staatsanwalt.
„Geben Sie sich einen Ruck, Herr Staatsanwalt. Sie haben ja gelesen, was Ihr Kronzeuge aussagt ...“, sagte der Vorsitzende und ich war mir nicht sicher, ob er die Akten wirklich gründlich gelesen hatte.
„Eben ...“, unterbrach der Staatsanwalt. Nun bluffte der Vorsitzende: „Und irgendwo in der Akte habe ich einen Hinweis auf eine psychiatrische Behandlung des Zeugen gefunden - also ohne vorherige Glaubwürdigkeitsbegutachtung können wir eine Verurteilung allein auf diesen Zeugen ohnehin nicht stützen.“
Ich zweifelte, dass der Vorsitzende die Akte überhaupt gelesen hatte, denn von einer psychiatrischen Behandlung des Zeugen stand nun so gar nichts in der Akte. Unwillkürlich fiel mir ein Zitat von Walther Rode ein, das ich aber besser für mich behielt: >Akten, Vorakten, Vorarbeiten dienen auch dazu, die Beurteilung eines Falles zu monopolisieren. Der Verwalter des Aktes ist der Herr der Wahrheit; er schließt jeden Anderen vom Mitsprechen aus.<
„Ich weiß nicht. Immerhin hat der Angeklagte ein halbes Kilo Heroin eingeführt und die Mindeststrafe liegt schon bei zwei Jahren ...“, erwiderte der Staatsanwalt, der sich jetzt in der Defensive befand.
„... wir wollen die Mindeststrafe auch nicht unterschreiten, Herr Staatsanwalt. Möglicherweise kommt ohnehin nur eine Verurteilung wegen Einfuhr im minder schweren Fall in Betracht. Der Strafrahmen wird jedenfalls in jedem Fall eingehalten.“
„Na gut ... mit Bauchschmerzen, aber okay, ich bin einverstanden“, stotterte der Staatsanwalt schließlich, bei dem ich nun auch nicht mehr sicher war, ob er die Akten wirklich gelesen hat. Ich jedenfalls war erleichtert.
Nachdem das Verfahren abgeschlossen und mein Mandant mit einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, davongekommen war, ging mir das Gespräch über den Film Zeugin der Anklage nicht mehr aus dem Kopf. Wie hätte die Verhandlung vor einem deutschen Gericht ausgesehen? Wäre Leonard Vole heute vor einem deutschen Schwurgericht aufgrund der DNA-Spuren verurteilt worden? Und wie hätte Sir Wilfrid Christine Vole gegen den Vorwurf des Mordes nach deutschem Prozessrecht erfolgreich verteidigen können? Diese Gedanken ließen mich nicht mehr los.
Etwa ein Jahr später betrat ich das Amtszimmer des Vorsitzenden Richters der 9. Strafkammer Dr. Bertram Arnold Eisele, der inzwischen zum Präsidenten des Landgerichts Bremen ernannt worden war.
„Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch über den Film Zeugin der Anklage, Herr Präsident?“ eröffnete ich das Gespräch.
„Ja, wir hatten diskutiert, wie der Fall nach deutschem Recht in der heutigen Zeit wohl ausgegangen wäre und wie Sir Wilfrid Christine Vole mit dem Ziel des Freispruchs wohl verteidigt hätte“, antwortete der Präsident, in dessen Amtszimmer ein Plakat eines juristischen Verlages mit Charles Laughton als Sir Wilfrid an der Wand hing.
„Wie versprochen habe ich darüber nachgedacht und hier ist das Ergebnis. Ich habe die Handlung in die Gegenwart verlegt und in Bremen spielen lassen; verhandelt wird vor der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts Bremen als Schwurgericht mit Ihnen als Vorsitzendem.“
Mit diesen Worten überreichte ich Eisele das Manuskript. Eisele war sichtbar interessiert, bedankte sich ebenso wortreich wie ungeschickt und verabschiedete mich gleich darauf. Er hätte leider viel zu tun. Von einer Justizobersekretärin seiner Geschäftsstelle habe ich später erfahren, dass er sich sogleich mit der Bemerkung, er müsse Prozessakten studieren, abgemeldet hat und sofort nach Hause gefahren ist. Dort angekommen hat er sich vermutlich sofort auf das Sofa gelegt, das Manuskript zur Hand genommen, die erste Seite aufgeschlagen und angefangen zu lesen:

Personen
Justizrat Wilfried Roberts: Strafverteidiger
Johann Matthäus: Rechtsanwalt
Leonard Wohlfahrt: Angeklagter
Dr. Bertram Arnold Eisele: Präsident des Landgerichts
Selda Wohlfahrt: Ehefrau von Leonard W.
Emilia Frentzen: Opfer
Fräulein Jenny/Jeanette Krentz: Haushälterin, Zeugin
Heribert Meier: Oberstaatsanwalt
Heiko Horn: Ermittlungsführer der Kripo
Gernot Schmidtke: Vorsitzender Richter am Landgericht
Dr. Dr. h.c. Hartmut Hansen: Präsident des Landgerichts
Egbert Brandel: Schöffe
Carla Müller: Bürovorsteherin
Ellen Wegener: Auszubildende
Jörgen Lackmann : Staatsanwalt
Prof. Dr. Clemens Miller: psychiatrischer Sachverständiger
PD Dr. Dr. Hannibal Kryger: psychiatrischer Sachverständiger, Privatdozent
Arwed Fischer: Pflichtverteidiger
Werner Müller-Hartmann: Richter am Landgericht
Prof. Dr. Achim von Toelle : Strafverteidiger
Ontje Voß: Experte für Fingerabdrücke
Hermann Windisch: Kriminalhauptkommissar beim BKA, Experte für Fingerabdrücke
Saskia Beneke: Zeugin
Hasso Borchers: Schöffe
u.a.

Teil 1
Die Belastungszeugin
Es wiederholt sich seit tausend Jahren, dass wer für die Wahrheit zu streiten vermeint, vor Lügen im Kleinen nicht zurückschreckt.
Walther Rode, 1931
Eine Dummheit ist nicht darum weniger eine Dummheit, weil ihr ein Richter das gefällige Gewand eines roten Talars verleiht.
Kurt Tucholsky, 1922
Selda öffnete ihre verschlafenen Augen. Die Herbstsonne schickte dort, wo die Vorhänge nicht ganz geschlossen waren, ihre ersten Strahlen in das Schlafzimmer von Selda und Leonard Wohlfahrt. Neben Selda lag tief schlafend Leonard. Es war eine schöne Nacht gewesen. Was für ein Mann, dieser Leonard, mit dem sie nun seit zwei Jahren verheiratet war. Sie streichelte seinen Kopf.
„Es war schön mit dir, Leo“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
„Fortsetzung folgt“, brummte Leonard, ohne die Augen zu öffnen und drehte sich um.
„Du musst aufstehen, Liebling. Denk an deinen Termin beim Anwalt. Rechtsanwalt Matthäus wartet nicht auf dich.“
„Du willst mich wohl unbedingt loswerden“, brummte Leonard verschlafen.
„Oh nein, ganz im Gegenteil, wenn es nach mir ginge, müsstest du für immer hier bleiben, wenn es nach mir ginge, Leo, dann würde ich dich ans Bett fesseln.“
„Dann muss ich ziemlich gut gewesen sein, Schatz?“, fragte er und öffnete vorsichtig ein Auge.
„Oh nein, du warst schlecht wie nie.“
„Nimm das zurück!“
„Nein!“
„Du nimmst das zurück, du Biest!“
Jetzt war Leonard hellwach. Selda nahm ihr Kissen und warf es nach Leo.
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- Swen Reym (Autor:in), 2025, Wo bleibt die Gerechtigkeit, Herr Verteidiger?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1611539