Leseprobe
Inhalt
Einleitung
1. Das Theater Sartres
2. Das Drama ‚Geschlossene Gesellschaft‘
2.1 Entstehung
2.2 Ansatzpunkte der Analyse
3. Der Blick
3.1 Das Theaterpublikum
3.2 Der Blick des Anderen in ‚Huis clos‘
4. Das Motiv der Freiheit
Schluss
Einleitung
Jean-Paul Sartre (1905-1980) hat seine Gedanken nicht nur in zahlreichen philosophischen Abhandlungen festgehalten, sondern sich auch anderer Literaturgattungen bedient, unter anderem des Romans und des Dramas. Eines dieser Dramen ist ‚Geschlossene Gesellschaft‘ (Huis clos, 1944). Die Thematik des Stückes korrespondiert mit Sartres Überlegungen zum Blick, zur Freiheit und zu zwischenmenschlichen Beziehungen im Allgemeinen, welche er zu einem großen Teil in seinem philosophischen Hauptwerk ‚Das Sein und das Nichts‘ (L’être et le néant, 1943) behandelt. Einige Autoren, die sich analytisch mit Sartres Theaterstücken beschäftigt haben, weisen jedoch auf den Umstand hin, dass „viele Theaterstücke Sartres vor allem in Deutschland falsch inszeniert werden, d. h. zu ernst genommen, nämlich auf angeblich eindeutige existentialistische Botschaften hin stilisiert werden.“[1] Sartre selbst betonte, dass der vielzitierte Satz „Die Hölle, das sind die andern“ immer falsch verstanden worden sei in dem Sinne, dass man glaubte, er wolle „damit sagen, dass unsere Beziehungen zu andren immer vergiftet sind, dass es immer teuflische Beziehungen sind. Es ist aber etwas ganz andres, was ich sagen will. Ich will sagen, wenn die Beziehungen zu andern verquer, vertrackt sind, dann kann der andre nur die Hölle sein.“[2] Dieser Zustand intensiviert sich umso mehr, je stärker eine Person vom Urteil anderer abhängig ist. Auf diesem Verhältnis und seiner Darstellung in ‚Geschlossene Gesellschaft‘ soll das Augenmerk der folgenden Untersuchung liegen.
1. Das Theater Sartres
Die häufige Anwendung rein literarischer, nicht philosophischer Formen bei Sartre erklärt Georges-Arthur Goldschmidt damit, dass sich der existierende Mensch in seiner „Einmaligkeit und Gesellschaftlichkeit“[3] mittels der philosophischen Sprache nicht erfassen ließe, dies sei im Gegenteil eher ein Ausklammern der Frage. Das Entscheidende an Sartres Philosophie könne sein, „daß es sie in ihrer philosophischen Formulierung eigentlich nicht gibt.“[4] Im Französischen ist die anekdotische Erfassung des jeweils existierenden Menschen nicht ungewöhnlich, während das Philosophische im deutschen Sprachraum so gut wie personlos ist.
Trotz Volker Roloffs Warnung, Sartres Theaterstücke nicht ausschließlich auf existentialistische Botschaften hin zu untersuchen, kann der philosophische Ansatz nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Sartre wollte ein Theater schaffen, das den Zuschauer zum Nachdenken anregt, wobei er „mit Vorliebe die Mittel der grotesken Komik, der Ironie, Verfremdung, Mythisierung, Mehrdeutigkeit ausspielt. Besonders in ‚Geschlossene Gesellschaft‘ wird deutlich, dass das Absurde und Groteske gerade nicht [...] als neue Botschaft, sondern als Mittel des theatralischen Diskurses selbst fungieren.“[5] Sartres Modell eines zeitgenössischen Theaters orientiert sich in seinen Grundzügen vor allem an Brechts epischem Theater, am Aktionstheater Artauds, dem Imaginationstheater Genets und am absurden Theater Becketts, Ionescos und Adamovs.[6] Doch unterscheiden sich Sartres Methoden der Verfremdung und Distanzschaffung erheblich von Brechts Techniken, denn Sartre lehnte den epischen Verfremdungseffekt ab. Für den Zuschauer muss die Identifikation mit den Figuren und die Nachvollziehbarkeit der auf der Bühne dargestellten Konflikte möglich sein, damit er interessiert ist und sich angesprochen fühlt, aber in absoluter Distanz. Als schwaches Mittel und rein formalen Abstand zum Erlangen dieses Effekts nennt Sartre die Schaffung einer räumlichen Distanz, auf welche er „aus einer gewissen Ängstlichkeit“[7] selbst zurückgriff, indem er das Stück ‚Geschlossene Gesellschaft‘ in die Hölle verlegte. Besonderen Wert legt Sartre auf Sprache und Gestik, wobei beides nicht voneinander getrennt werden kann. Die Sprache soll elliptisch sein, das heißt, es muss immer ein Teil fehlen, der das Denken ausdrückt; das Denken wird vom Schauspieler durch Gesten zum Ausdruck gebracht. Weiterhin sollen die Wörter zwar einfach sein, aber in einem nicht-alltäglichen Zusammenhang gebraucht werden, um sich von der Alltagssprache zu unterscheiden, das heißt, „daß wir eine Sprache nehmen müssen, deren Wörter die Wörter von jedermann sind, daß wir aber diese Wörter mit einem Rhythmus gebrauchen müssen, einer Bedeutung und einer Distanz, so daß wir mit ihnen ein Gebilde konstituieren, das dann durchaus nicht mehr das Alltägliche und Natürliche ist.“[8] ‚Huis clos‘ ist ein Beispiel für die Umsetzung dieser theoretischen Anschauungen. Ausschlaggebend für die Schaffung von Distanz ist also der Stil, das Zusammenspiel von Sprache, Gestik und Dekor in einer bestimmten Art und Weise. Dem Zuschauer sollen allgemeine Situationen vor Augen geführt werden, in denen der Mensch die Freiheit besitzt, zwischen Alternativen zu wählen, deren eine der Tod ist. „Man stürze die Menschen in solche allgemeinen extremen Situationen, die ihnen nur zwei Auswege offen lassen, man sorge dafür, daß sie mit ihrer Wahl des Auswegs sich selbst wählen, dann hat man gewonnen, das Stück ist gut.“[9]
2. Das Drama ‚Geschlossene Gesellschaft‘
2.1 Entstehung
‚Geschlossene Gesellschaft‘ ist nach ‚Die Fliegen‘ (Les mouches, 1943) Sartres zweites Theaterstück. Der Einakter wurde am 17. Mai 1944 im Pariser Théâtre Vieux-Colombier uraufgeführt. Sartre verfasste es auf Anregung eines Freundes, dessen Frau und deren Schwester Schauspielerinnen werden wollten. Da sie damit auf Tournee gehen wollten, musste es leicht zu inszenieren sein. Simone de Beauvoir schrieb dazu in ihren Memoiren: „Der Gedanke, ein ganz kurzes Schauspiel aufzubauen, mit einem einzigen Bühnenbild und nur zwei oder drei Darstellern, reizte Sartre. Er dachte gleich an eine geschlossene Situation: an Menschen, die während eines langen Luftangriffs in einem Keller eingeschlossen sind; dann kam ihm der Einfall, seine Helden auf ewig in die Hölle zu sperren. Er schrieb mit Leichtigkeit ‚Huis clos‘, das er zuerst ‚Les autres‘ nannte.“[10] Sartres Anliegen ging jedoch über den bloßen Anlass hinaus. Er verarbeitete in dem Drama seine Theorien über das menschliche Zusammensein, das Verhalten von Menschen zueinander und die Bedeutung der anderen für den einzelnen. Für die allgemeine Nachvollziehbarkeit dieser, wie Sartre sagt, allgemein menschlichen Erfahrung eignete sich die dramatische Form sehr gut.
2.2 Ansatzpunkte der Analyse
‚Geschlossene Gesellschaft‘ ist ein Situationsdrama, in dem das Verhalten von Menschen in einer bestimmten Situation vorgeführt wird. Die Thematik des Stückes ergibt sich aus der Handlung, aus den Gesprächen der Figuren. In ‚Huis clos‘ treffen drei einander fremde Menschen in einem Second-Empire-Salon, aus dem sie nicht entkommen können, aufeinander. Zur Schaffung von Distanz wählte Sartre das Absurde, indem er die Handlung in die Hölle verlegte. Die Wahl des Ortes und der damit verbundene Zustand der „Abwesenheit“ seiner Bewohner hat aber auch symbolische Bedeutung, denn Sartre wollte „einfach zeigen, daß viele Leute in einer Reihe von Gewohnheiten und Gebräuchen verkrustet sind, daß sie Urteile über sich haben, unter denen sie leiden, die sie aber nicht einmal zu verändern suchen. Und diese Leute sind wie tot.“[11] Nach Sartres Ansicht begeben sich die Menschen aus freien Stücken in die Hölle, wenn sie nicht von ihrer Freiheit Gebrauch machen, jeden Teufelskreis zu durchbrechen.
Die in der Hölle eingeschlossenen Figuren des Stückes sind drei Vertreter der Bourgeoisie: der Intellektuelle Garcin, die kleinbürgerliche Inés und die aus dem Großbürgertum stammende Estelle. Zunächst verhalten sich alle so wie sie es vermutlich im Leben auch taten, doch „this is a drawing-room in which the politenesses of social exchange are rapidly and radically undermined and in which servants do not answer the bell.“[12] Es gibt keine Stabilität, die emotionalen Beziehungen zwischen den Figuren, die Verhältnisse von Macht und Verwundbarkeit sind einem ständigen Wechsel unterworfen. Durch den wiederholten Umsturz der jeweiligen Situation zieht sich eine deutliche Unruhe und Instabilität durch das gesamte Drama. Mit dem Fortschreiten der Handlung gelangen die drei Verdammten zu der Erkenntnis, dass alles so vorherbestimmt war, jeder ist der Folterknecht für die beiden anderen. Die scharfsinnige Inés durchschaut dies als erste und kommentiert die Situation:
Ganz klar, eine Personaleinsparung. Das ist alles. Die
Kunden machen die Arbeit alleine, wie in Selbstbedie-
nungsrestaurants. (5. Szene)
Hier findet sich eines der zahlreichen komischen Momente des Stückes.
Als parodistische Erweiterung des gegenseitigen Vorstellens berichtet jede Figur, wann und wie sie gestorben ist und aus welchem Grund sie in die Hölle gelangte, wobei die Geschichten von Garcin und Estelle zunächst nicht der Wahrheit entsprechen. Die Figuren belügen sich gegenseitig, um von den anderen so gesehen zu werden, wie es ihrem Wunschbild von sich selbst entspricht. Garcin möchte als Held erscheinen, während Estelle sich als vollkommen unschuldig darstellt. Wiederum ist es Inés, die die größte Menschenkenntnis beweist:
Für wen spielen Sie denn diese Komödie?
Wir sind doch unter uns. (5. Szene)
Estelle und Garcin sind nur zu gern bereit, der Lage zu entfliehen, Konflikten aus dem Weg zu gehen und sich selbst zu täuschen. Garcins nur ab und zu durch den Kellner unterbrochene Rede in der ersten Szene zeigt deutlich seine Nervosität; der Kellner wirkt dagegen routiniert und überlegen, für einen Kellner fast etwas respektlos. Garcin redet sich ein, er sehe der Situation ins Gesicht und habe keine Angst, doch schon die mehrmalige Wiederholung dieser Beteuerungen lassen den Zuschauer misstrauisch werden. Sein Vorschlag, jeder solle sich in seine Ecke verkriechen und schweigen, misslingt. Estelle versucht von Anfang an, die Situation zu verleugnen:
[...]
[1] Roloff, Volker: Existentielle Psychoanalyse als theatrum mundi. Zur Theatertheorie Sartres, in: Traugott
König (Hg.): Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 94
[2] Jean-Paul Sartre über Geschlossene Gesellschaft, in: Jean-Paul Sartre. Gesammelte Werke Bd. 2,
Theaterstücke. Hg. Traugott König. Hamburg: Rowohlt 1991, S. 61
[3] Goldschmidt, Georges-Arthur: Ist da jemand? Gemeinschaft oder Gesellschaft – Heidegger oder Sartre, in:
Traugott König: Sartre. Ein Kongreß, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 429
[4] ebd.
[5] Roloff, S. 94
[6] Sartre, Jean-Paul: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970, in: Gesammelte
Werke Bd. 9, Hamburg: Rowohlt 1991, S. 144
[7] Sartre, Jean-Paul: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970, Theaterstücke
Bd. 9, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 19
[8] ebd., S. 28
[9] ebd., S. 46
[10] Biemel, Walter: Sartre. Monographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1964/1995 (26. Aufl.), S. 52
[11] Jean-Paul Sartre über Geschlossene Gesellschaft, S. 62
[12] Goldthorpe, Rhiannon: Huis clos. Distance and ambiguity, in: Sartre, ed. by Christina Howells, London u. a.:
Longman 1995, S. 103