Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1) Das Motiv der Hure Babylon
1.1) Unter welchen Umständen und in welcher Form tritt das Motiv auf?
1.2) Die Beziehung zwischen Babylon und Berlin
1.3) Die Mythisierung als Antwort auf die ungebremste Technisierung in den 1920ern
2.) Der Schnitter Tod
2.1) Wann kommt die Todesgestalt zum Einsatz?
2.2) Der Tod als „Aufklärer“
3.) Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
„In den zeitgenössischen Besprechungen des Berlin Alexanderplatz gingen nur wenige Rezensenten auf die mythologische Komponente des Romans ein.“1 Doch besonders dieser interpretatorische Aspekt ist von großer Bedeutung für die Aussage, die Alfred Döblin mit seinem Werk treffen möchte. Döblin hatte schon immer eine Neigung zum Mythischen, wie Thomas Mann feststellte. Diese bekam ihren festen Stand aber erst in seinem Roman Berlin Alexanderplatz.2
Mit der Einbettung des Mythischen in seinem Roman hat sich vor allem Barbara Becker-Cantarino in ihrem Aufsatz „Die Hure Babylon – Zur Mythisierung von Gewalt in Döblins Berlin Alexanderplatz “ beschäftigt. Unter anderem widmeten sich diesem Ansatz Sang-Nam Park, Helmut Becker und Helmut Kiesel, aber mit weniger Ausführlichkeit. Aufgrund der Seltenheit, mit der dieses Thema Titel einer Arbeit wird, erkennt man, dass dieser Aspekt des Romans von den anderen Untersuchungspunkten, vor allem der Montagetechnik Döblins, in den Hintergrund gedrängt wurde. Gerade deshalb ist es interessant oder sogar verpflichtend, mehr über Döblins mythische Absicht in Erfahrung zu bringen.
In Döblins Berlin Alexanderplatz werden zum Einen die Hure Babylon und zum Anderen der Schnitter Tod zu den mythischen Akteuren gezählt. „Die große Hure Babylon und der Tod sind zwei symbolische Gestalten, die mehrmals an verschiedenen Stellen des Romans auftauchen.“3 Diese Textstellen sollen hier in dieser Arbeit als Grundstock für die nachfolgenden Interpretationsansätze dienen. Als erstes wird auf das Motiv der Hure Babylon eingegangen, da es wesentlich weitläufiger dargestellt wird, als das des Schnitter Tods. Nicht immer muss sie durch ein und dieselbe Person verkörpert werden. Die wissenschaftlichen Ansätze bieten ein breites Spektrum der Personifikation durch die Hure, über Frauen, die als Nebenfiguren eher eine nicht relevante Rolle spielen, bis hin zur Großstadt Berlin, die ihre Einwohner verführen soll. Die ansteigende Verstädterung verbindet in sich die rasante Technisierung und die immer weitere Entfernung von den eigenen Wurzeln, der Natur, zu einem gefährlichen Bollwerk.
Der Schnitter Tod kommt in der Sehweise der Hauptperson Franz Biberkopf zum Einen nur als Stimme und zum Anderen als identifizierte Person zu seinem Auftritt. Ob auch er von Döblin eine warnende Aufgabe erhalten hat, soll auf den letzten Seiten versucht werden zu klären.
Mittelpunkt dieser Ausarbeitung wird also die Frage sein, ob Alfred Döblin durch die gezielte Einsetzung dieser mythischen Figuren eine bestimmte Absicht hegte. Es soll untersucht werden, inwiefern er seine Leser oder auch die Bewohner der Großstädte mit Hilfe der beiden Gegenspieler eine, in Rätsel gefasste, Warnung aussprechen wollte.
Döblin ist nicht der erste, der versucht, mit Hilfe von Mythen eine Aufklärung herbeizuführen.
„Vereinfacht lässt sich sagen, dass sich in den zwanziger Jahren Wissenschaft, Philosophie und Kunst um die Erhellung des Mythos selbst und um die Erhellung mit Hilfe des Mythos bemühten.“4
1) Das Motiv der Hure Babylon
In Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz „[ist] [d]as kulturelle Muster … von drei biblischen Themen geprägt, dem Adam- und Eva-Motiv, den Klagen des Propheten Jeremia und dem Motiv der Hure Babylon.“5 Letzteres soll für die nächsten Seiten dieser Arbeit Thema sein. Das Motiv der Hure Babylon ist aus den Offenbarungen des Johannes entnommen worden. In ihnen wird besonders die Gewalt in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt, „sie wird beschworen, herbeizitiert und weiblich konnotiert: die Hure, ein Weib, ein Name, ein Geheimnis ist die Mutter aller Greuel auf Erden.“6 Diese thematisierte Gewalt findet sich im Roman selbst wieder, denn auch Franz Biberkopf wird zu einem ihrer Opfer, die ursprünglich ein anständiges, unbescholtenes und lasterfreies Leben führen wollten.7 Die Funktion der Hure Babylon als Leitmotiv spiegelt sich in der besessenen, hemmungslosen Blindheit und Lebensgier des Franz Biberkopfs wider, der durch sie wieder zum Sittenverfall neigt.8 Barbara Becker-Cantarino schreibt, dass „ihre Gewalt … die Doppelung von „Beschädigung von Leib und Seele“ (Tod, Beraubung, Verletzung, Zerstörung, Aggression) auf der einen Seite [darstellt] und Macht (Herrschaft, „potentia“ – power) auf der anderen Seite. Beschädigung des Anderen und Herrschaft über den Anderen sind unmittelbar miteinander verquikt.“9 Dieser Wille zur „Beschädigung und Herrschaft über den Anderen“ finden sich im Umgang Franz Biberkopfs und auch dessen Freund Reinhold mit dem weiblichen Geschlecht wieder, wobei der Letztere hier ausgeblendet werden soll.
Dass Franz Biberkopf in seinem Inneren von der großen Hure heimgesucht wird, beschreibt das folgende Zitat mit einem mutigen Vergleich: „Die große Babylon, die Metropole, ernährt sich vom Blut der Heiligen, und Franz ist auf seine Weise ein „Heiliger“, der als hochmütig entlarvt wird und also für seine Sünde büßen muss, bevor er wieder zu neuem Leben geboren wird.“10 Inwiefern und vor allem unter welchen Umständen Biberkopf von der großen Hure beeinflusst wird, versuchen die nachfolgenden Passagen zu erläutern.
[...]
1 STAUFFACHER, Werner (Hg.): Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien, Münster 1989. S. 235.
2 vgl. ebd. S. 234.
3 BERNSHEIMER, Helmut: Lektüreschlüssel. Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz, Stuttgart 2002. S. 24.
4 STAUFFACHER. S. 234.
6 ebd. S. 367.
5 BECKER-CANTARINO, Barbara: Die Hure Babylon. Zur Mythisierung von Gewalt in Döblins Berlin Alexanderplatz, in: Methodisch reflektiertes Interpretieren. Festschrift für Hartmut Laufhütte zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Peter Ecker, Passau 1997. S. 367 – 374. S. 370.
7 vgl. PARK, Sang-Nam: Die sprachliche und zeitkritische Problematik von Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz, Berlin 1995. S. 90.
8 vgl. BERNSHEIMER. S. 24.
9 BECKER-CANTARINO. S. 368-69.
10 STAUFFACHER. S.168.