Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Göttlicher Wahnsinn
2.1 Das Motiv des göttlichen Wahnsinns
2.2 Der Prolog des Dionysos
3. Menschliche Besessenheit
3.1 Das Motiv der menschlichen Besessenheit
3.2 Der Eingangsmonolog des Pentheus
4. Göttlicher Wahnsinn und menschliche Besessenheit
4.1 Die erste Begegnung zwischen Dionysos und Pentheus
4.2 Die letzte Begegnung zwischen Dionysos und Pentheus
5. Schluss
6. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Welch ein Wahnsinn hat euch betört, ihr drachenentsprossenen Thebaner, dass euch, die kein Schlachtschwert, keine Trompete jemals geschreckt hat, jetzt ein weichlicher Zug von berauschten Toren und Weibern besiegt? [...] Wollt ihr es dulden, dass ein wehrloses Knäblein Theben erobere, ein Weichling mit balsamtriefendem Haar, auf dem ein Kranz mit Weinlaub sitzt, in Purpur und Gold anstatt in Stahl gekleidet, der kein Roß tummeln kann, dem keine Wehr, keine Fehde behagt? Wenn nur ihr wieder zur Besinnung kommet, so will ich ihn bald nötigen, einzugestehen, dass er ein Mensch ist, wie ich, sein Vetter, dass nicht Zeus sein Vater und all diese prächtige Gottesverehrung erlogen ist![1]
Dionysos, der Gott des Rausches und der Begeisterung, der Raserei und des Wahnsinns, gelangt mit einer Schar seiner Anhängerinnen, den Bakchen, aus Kleinasien in die griechische Stadt Theben, wo er als Sohn der Semele, Tochter des damaligen Herrschers Kadmos und Schwester der Agaue, Autonoe und Ino, und des Göttervaters Zeus geboren wurde.[2] Hier geschah ihm auch großes Unrecht, da die Schwestern der Semele, seine göttliche Herkunft leugneten. Daher hetzt er nun alle Frauen Thebens, darunter auch die Schwestern, in das Kithairongebirge, wo diese nun seinem Kult obliegen. Pentheus, der neue König Thebens und Sohn der Agaue, versucht diesen Zustand des Rausches zu unterbinden, indem er dem Rat des Dionysos, der ihm in Menschengestalt erscheint und deshalb von diesem nicht erkannt wird, folgt und als Bakche verkleidet auf den Gipfel des Kithairon zieht, um dort das Treiben der Frauen zu beobachten und eine Gelegenheit zum Sieg über diese auszukundschaften.
Doch die Bakchen entdecken den Voyeur und zerfleischen ihn in ihrem Wahn, allen voran die Mutter des Pentheus, Agaue. Mit dem aufgespießten Haupt ihres Sohnes kehrt sie nach Theben zurück, wo sie erkennen muss, dass sie in der Raserei ihren eigenen Sohn ermordet hat.
Dieser Mythos, der sich um die griechische Gottheit des Dionysos rankt, muss auch die Grundlage des antiken Dichters Euripides für dessen Tragödie „Die Bakchen“ gewesen sein, die erst nach seinem Tode im Jahr 408 v. Chr. uraufgeführt wurde und das einzig erhaltene antike Trauerspiel ist, in welchem der Gott Dionysos, der im antiken Athen als Gott des Theaters galt, eine tragende Rolle einnimmt.
Dass der in dem Spätwerk des Euripides thematisierte Konflikt, der auch schon in der Sage verankert ist und in den Worten des Pentheus, die diesem Text vorangestellt wurden, deutlich hervortritt, also das Spannungsverhältnis zwischen rationaler und irrationaler Kraft, ein Grundkonflikt unserer heutigen Zeit ist, spiegelt der Regisseur Klaus Michael Grüber im Rahmen des Antikenprojekts der Schaubühne am Halleschen Ufer in seiner Inszenierung der „Bakchen“ im Jahr 1974 auf bestechende Weise wieder.
Das Antikenprojekt der Schaubühne, ein gigantisches Unternehmen des Ensembles, dem eine Vorbereitung von einem Jahr vorausgegangen war, wurde in einer Messehalle in Berlin, im Philips-Pavillion, an zwei Abenden realisiert. Den ersten Abend bildete die „Übung für Schauspieler“ unter der Leitung von Peter Stein, den zweiten Abend die Inszenierung der „Bakchen“ von Klaus Michael Grüber.
Klaus Michael Grübers Interesse gilt jedoch weniger der Gegensätzlichkeit der beiden Antagonisten Dionysos und Pentheus, sondern dem „verschränkten ambivalenten Verhältnis“ der beiden Figuren, so Henning Rischbieter in seinem Vorwort zu den Bakchen, wodurch sich ein Wechselspiel zwischen dem göttlichem Wahnsinn des Dionysos und der menschlicher Besessenheit des Pentheus ergibt, dem Gegenstand dieser Inszenierungsanalyse, die sich auf eine Videoaufnahme der Inszenierung stützt.
Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie das Motiv des göttlichen Wahnsinns und das Motiv der menschlichen Besessenheit in der Inszenierung umgesetzt wurden und welches Verhältnis zwischen diesen beiden Motiven besteht. Demnach zerfällt die Analyse in zwei Teilaspekte, in deren erstem Teil die Motive isoliert voneinander betrachtet werden. Hierbei wird im Hinblick auf die gesamte Inszenierung kurz skizziert werden, wo und wann das Motiv auftritt[3], um es schließlich an einer ausgewählten Sequenz genauer zu untersuchen. Im zweiten Teil der Analyse wird am Beispiel von zwei Szenen[4] das Verhältnis der beiden Motive zueinander betrachtet, wobei eine besondere Gewichtung auf dem Interkorrelationsverhältnis, dem Verhältnis zwischen linguistischen, paralinguistischen und kinesischen Zeichen, welche auch den Schwerpunkt des ersten Analyseteils bilden, liegt.
2. Göttlicher Wahnsinn
Göttlicher Wahnsinn, verstanden als sinnentleert, frei von jeglicher Vernunft und auf emotionale Eigenschaften beschränkt, bezieht sich in dieser Inszenierungsanalyse ausschließlich auf die Figur des Dionysos, obgleich vorweggenommen werden muss, dass es durchaus auch andere Figurenträger des göttlichen Wahnsinns gibt, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden kann.
Im Folgenden soll das Motiv, im Sinne eines Leitgedanken oder Themas, anhand einer Betrachtung der gesamten Inszenierung kurz skizziert werden, wobei sich eine Ebene der Isotopie ergeben soll. Anschließend wird eine ausgewählte Sequenz dieser Ebene, der Prolog des Dionysos, einer eingehenderen Analyse unterzogen, die aus einer kurzen Beschreibung der Szene, die sich an Patrice Pavis`s Questionnaire[5] orientiert, einer fokussierten Betrachtung des hier hervortretenden Motivs und aus einer sich anschließenden Interpretation bestehen wird.
2.1 Das Motiv des göttlichen Wahnsinns
Dionysos erscheint auf einer Klinikbahre. In seinen Händen hält er einen Frauenschuh, den er fest an seine nackte Brust drückt. Nur langsam und mühsam artikuliert er die ersten Worte seines Prologs, verfällt immer wieder in hysterisches Lachen, presst schließlich die Worte aus seinem Mund, versucht Sätze zu formulieren, schreit sie heraus. Bohrt nun seine Zeigefinger in die Nasenwurzel bis sein Gesicht völlig vom Schmerz verzerrt ist (Abb. 1).
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Abb. 1
Er schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und beginnt schließlich mit dem Schuh auf die Bahre zu schlagen, immer schneller und schneller, bis sich der Rhythmus auf seinen Körper überträgt und er von der Klinikbahre stürzt.
Schon das erste Bild des Dionysos, das dem Zuschauer hier vor Augen geführt wir, ist das eines Kranken, eines Wahnsinnigen. Die Kombination der hier beschriebenen Zeichen benutzt Klaus Michael Grüber im Folgenden wie ein Verhaltensmuster, welches der Figur des Dionysos zugedacht ist. Auf diese Weise gelingt es ihm immer wieder die vom Publikum evozierten Bilder der ersten Sequenz heraufzubeschwören. Wenn Dionysos in einer späteren Szene vor Pentheus am Boden liegt, sich hin und her wälzt, schreiend und stöhnend das Gesicht verzieht und seine Arme und Beine miteinander verschlingt (Abb. 2), dann sind dies genau die Bilder, die der Zuschauer schon kennt. Hier braucht es keine Klinikbahre mehr um dem Publikum zu suggerieren hier liegt einer, der dem Rausch verfallen ist, frei von jeglicher Vernunft.
Dieses Verhaltensmuster wird zu einem immer wiederkehrenden Motiv, das die gesamte Inszenierung durchziehen wird und bis zum letzten Auftritt des Dionysos anhalten mag, obgleich das Motiv nicht in allen Szenen gleich stark auftritt. So gibt es auch Momente, in welchen Dionysos fast rational wirken mag, wie in der letzten Szene, in der er Pentheus auf den Kithairon schickt. Doch achtet man genau auf seine Gesichtszüge, so ist auch hier ein gelegentliches Zucken auf der Stirn, ein Lächeln auf den Lippen zu beobachten oder ein kurzer Schrei, ein leises Stöhnen zu vernehmen. Das Motiv bleibt also stetig mit der Figur des Dionysos verbunden und tritt in seinem Agieren immer wieder hervor, besonders deutlich in der zu Beginn beschriebenen Sequenz, die im Folgenden als exemplarisches Beispiel einer genaueren Untersuchung zu Grunde liegen soll.
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Abb. 2
2.2 Der Prolog des Dionysos
Die Sequenz beginnt mit dem Einsetzen der Musik Igor Strawinskis und endet mit dem Sturz des Dionysos von der Bahre.
Als die ersten Töne aus Igor Strawinskis Appolon Musagète erklingen, wird die weiße Spielfläche durch grelles Neonlicht erhellt.
Der Bühnenraum, von Gilles Aillaud und Eduardo Arroyo gestaltet, wird durch drei hochgezogene, weiße Rückwände begrenzt, in welchen sich insgesamt vier Öffnungen befinden. In der ersten Öffnung auf der linken Seite steht eine gelbe Kehrmaschine. Die zweite Öffnung, welche durch einen Laden verschlossen werden kann, ist in der Mitte der frontal zum Publikum stehenden Wand und etwa um eineinhalb Meter vom Boden erhöht, die dritte befindet sich in Form einer Tür direkt daneben. Ganz rechts ist schließlich noch eine vierte Öffnung, die verglast ist und in deren Hintergrund zwei Pferde zu erkennen sind. An den beiden Außenwänden rechts und links befinden sich ein Rohr, eine Halterung mit einer Rolle Toilettenpapier, ein Lichtschalter und zwei eingegipste, aufgeschlagene Bücher. Auf der linken Seite der Bühne finden sich Bänke und ein Tisch. In der Mitte der Bühne hängt ein Ventilator.
[...]
[1] Schwab 2001, 40.
[2] Von Eifersucht getrieben erschien Hera, die Gattin des Zeus der Semele in Gestalt ihrer Amme und gab ihr den Rat, sich von Zeus zu wünschen, er möge ihr in göttlicher Gestalt erscheinen, so wie er es auch bei seiner Gattin Hera zu tun pflegte. Semele kam diesem Rat nach und als ihr Zeus unter Blitz und Donner erschien, verbrannte sie unter dem göttlichen Blitzstrahl, worauf Zeus die Leibesfrucht in seinen Schenkel einnähte, aus welcher Dionysos hervorging.
[3] Hierbei sollen zwei Ebenen der Isotopie gebildet werden, die Gegenstand der Untersuchung sind. Siehe auch Fischer-Lichte 1983b, 80f.
[4] Szene wird hier und im Folgenden als Synonym für Sequenz gebraucht.
[5] Pavis 1996, 37f.