Wann ist Krebsfrüherkennung "gute" Medizin?


Magisterarbeit, 2004

75 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Zur Situation der präventiv-prädiktiven Medizin
1.2. Zur Methode
1.3. Bedingungen für die Möglichkeit von patientenorientierter Medizin

2. Evidence-based medicine und der Wissensbegriff in der Medizin
2.1. Was bedeutet wissenschaftliche Medizin?
2.2. Was bedeutet ‘evidence-based medicine’?
2.3. Was sind die Forderungen von ‚evidence-based medicine’ an die moderne Medizin?
2.4. Verantwortung als Konsequenz aus der doppelten Einsicht?
2.5. Regeln der Kunst (lege artis)
2.6. Zur ärztlichen Haltung

3. Aufklärung und Vertrauen
3.1. Was ist die Idee von Patientenautonomie und Aufklärung?
3.2. Die Arzt-Patienten-Beziehung und die Strukturen der Informationsvermittlung
3.3. Patientenkompetenz und Eigenverantwortung
3.4. Probleme der Nutzen-Schaden-Abwägung
3.5. Gründe für den unmündigen Patienten

4. Patienten-Motivation – Zwischen Risikowahrnehmung und Vertrauen
4.1. Risikowahrnehmung und Vertrauen
4.2. Wissenschaftsprozess und Vertrauen

5. Lebensqualität

6. Resümee

7. Literatur

1. Einleitung

1.1. Zur Situation der präventiv-prädiktiven Medizin

Prävention ist zu einem Schlagwort in nahezu allen medizinischen Disziplinen geworden. Der Tenor ist allgemein positiv. Die Verstärkung präventiver Maßnahmen ist insbesondere in den Bereichen erforderlich, wo der kurative Ansatz weiterhin mit erheblichen Schwierigkeiten, Unsicherheiten und unerwünschten Nebenwirkungen verbunden ist. Diese Situation trifft insbesondere auf große Teile der Onkologie zu. Hierdurch bündeln sich in dieser Fachdisziplin viele medizinische wie aber auch ethische Probleme und Dilemmata der modernen Medizin. Die Inzidenzien vieler tödlicher Tumore sind deutlich angestiegen und steigen weiter. Einerseits wird das vermehrte Auftreten deutlich auf bestimmte Lebensgewohnheiten in den Industrienationen zurückgeführt (z.B. Rauchen und Bronchialkarzinom), andererseits ist aber auch die an sich kaum zu kritisierende Tatsache der stark gestiegenen Lebenserwartung ein wesentlicher Grund für höhere Inzidenzraten bei Prostata- oder Darmkrebs. Immer mehr Menschen kommen in das Alter, in dem Krebserkrankungen gehäuft auftreten bzw. symptomatisch werden. Die nicht zu verachtenden therapeutischen Erfolge in der medizinischen und chirurgischen Onkologie, aber auch die hoch spezialisierte Diagnostik haben dabei die Mortalitätsraten günstig beeinflusst. Mehr und mehr werden auch psychosoziale Faktoren in der Patientenbetreuung und Therapie berücksichtigt. Trotzdem sieht sich die Onkologie insbesondere bei den Tumoren mit großen Problemen konfrontiert, die lange Zeit symptomfrei bleiben und die bei Eintritt der Symptomatik nur noch schwer oder nicht mehr kurativ zu behandeln sind. Die Idee von Krebsfrüherkennung klingt deshalb äußerst erfolgsversprechend. Je früher der Tumor entdeckt wird, umso besser ist er therapierbar. Diese Theorie entspricht aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Realität. Wird die Krebsfrüherkennung aber allein deswegen in die Praxis umgesetzt, damit Tumore wirksamer therapierbar werden, blendet man zunächst das primäre Ziel einer medizinischen Intervention aus. Es geht nicht allein um einen nach medizinisch-physiologischen Kriterien zu bemessenden Therapieerfolg, sondern um die Verbesserung der Situation des Patienten. Moderne Medizin will und sollte patientenorientiert sein, so zumindest wäre das Resultat einer Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen und standesspezifischen Normvorstellungen in Bezug auf ärztliches Handeln. Moderne Medizin vertritt keinen „therapeutischen Nihilismus“ wie zu Anfang des 19. Jahrhunderts, nach dem nur all das „gute“ Medizin war, was sich hypothetisch-deduktiv aus wissenschaftlichen Theorien ableiten ließ (s.u.). Um also die Frage beantworten zu können, ob die Krebsfrüherkennung „gute“ Medizin ist, bedarf es einer Evaluation nicht nur der nach bestimmten wissenschaftlichen Parametern zu erfassenden Wirksamkeit dieser Methode (efficacy), sondern auch ihrer konkreten an den Patientenbedürfnissen orientierten Wirksamkeit (effectiveness). Dass beides nicht immer zusammenfällt, dürfte einleuchtend sein. Andererseits ist die Relevanz bzw. die Notwendigkeit einer Evaluation der patientenorientierten Wirksamkeit medizinischer Intervention insbesondere im Rahmen der Onkologie deutlich gestiegen. Eine chirurgische oder chemotherapeutische Maximaltherapie kann in aller Regel ihre klinische Wirksamkeit belegen, aber in den letzten 20 Jahren wurde immer mehr Kritik an diesem Konzept „Therapie um jeden Preis“ laut. Die Grundidee der palliativen Medizin oder der Hospizbewegung beispielsweise ist es, die Lebensqualität des Patienten bestmöglich zu gestalten, ohne mit den medizinischen Interventionen einen kurativen Ansatz zu verfolgen. Diese Grundidee ist keineswegs fatalistisch, sondern die Konsequenz aus der Einsicht, dass zum Erreichen bestmöglicher Lebensqualität im Sinne des Patienten nicht immer ein maximaltherapeutisches aber nur wenig lebensverlängerndes Vorgehen Priorität haben muss. Ist diese Einsicht, die gekoppelt ist an das sicherlich schwierige Bewusstwerden der Endlichkeit des menschlichen Lebens, einmal grundsätzlich akzeptiert, lässt sich aus dieser „palliativen“ Perspektive heraus auch der ein oder andere kurative oder eben auch präventive Ansatz moderner Medizin kritisch hinterfragen. Letztendlich läuft dies auf eine Abwägung von Nutzen und Schaden bzw. Risiken der jeweiligen medizinischen Intervention hinaus. Der Nutzen einer Operation eines fortgeschrittenen Lungentumors mag erwiesen sein. Besteht der Nutzen aber lediglich in einer Lebensverlängerung um im Durchschnitt wenige Wochen und haben die Nebenwirkungen der Operation (Schmerzen, Krankenhausaufenthalt etc.) stark negative Auswirkungen auf die Lebensqualität, wird die Nutzen-Schaden-Abwägung in vielen Fällen gegen eine Operation ausfallen. Letztendlich sollte diese Entscheidung prinzipiell weitgehend in die Autonomie des Patienten fallen. Gerade in diesen Situationen, wo der mögliche Nutzen den möglichen Schaden nicht allzu deutlich überdeckt, bedarf es der individuellen Sichtweise des Patienten[1]. Nicht umsonst hat sich das Prinzip der Patientenautonomie zum medizinethischen Paradigma des 20. Jahrhundert entwickelt. Patientenautonomie und Lebensqualität sind dementsprechend die Begriffe, die man im Auge behalten muss, wenn man sich der Analyse der ethischen Implikationen der Krebsfrüherkennung zuwendet.

Wie bereits beschrieben, ist die Logik der präventiven oder prädiktiven Medizin zunächst äußerst einsichtig, man möchte sagen, sie ist „evident“. „Vorsorge hilft“ oder „Länger leben durch Vorsorge“ - nicht nur die allgemeine Öffentlichkeit vernimmt diese unisono vorgetragenen Thesen. Innerhalb der medizinischen Profession, seien es Studenten, Niedergelassene, Klinikärzte oder Lehrstuhlinhaber herrscht im Allgemeinen dieselbe Ansicht. Solange wir noch über keine ausreichenden oder zufrieden stellenden Therapiekonzepte für die großen Volkskrankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs verfügen, müssen wir auf Vorbeugung (Primärprävention) oder Früherkennung (Sekundärprävention) setzen. Wenn etwas gar nicht erst entstehen kann oder früh erkannt wird, ist dies allemal besser, als zu warten, bis sich das ein oder andere klinische Zeichen oder ein Leidenszustand des Patienten von selbst zeigt. Was dabei inhaltlich an den der Früherkennung immanenten Problemen in die Öffentlichkeit dringt, ist in aller Regel die unzureichende Inanspruchnahme von Vorsorgemaßnahmen durch die Bevölkerung. Insbesondere für die Krebsvorsorge ist diese Situation bekannt. In immer öffentlichkeitswirksameren Projekten, gefördert durch die unterschiedlichsten Institutionen wie Politik, Krankenkassen, Selbsthilfegruppen, Stiftungen oder Privatpersonen, wird für Vorsorgemaßnahmen geworben. Immer wieder hört oder liest man von dem Vorhaben dieser Institutionen, Eigenverantwortlichkeit oder das Krankheitsbewusstsein im Sinne eines jeden wie auch zu Gunsten der Gesellschaft zu fördern.

1.2. Zur Methode

Anhand der Krebsfrüherkennung lassen sich einige spezifische Problemfelder der modernen Medizin besonders gut deutlich machen. Die sich auf die ethischen Implikationen der Krebs-Früherkennung beziehende Analyse behandelt die aufzuzeigenden Problemfelder entsprechend kontextsensitiv, d.h. die ethischen Probleme und Ambivalenzen ergeben sich z.T. direkt aus der besonderen Situation der Krebsfrüherkennung. Andererseits lassen sich aus der hier behandelten Problematik auch einige kontext-übergreifende Ambivalenzen der modernen Medizin ableiten.

Ich verfolge in der medizinethischen Analyse dieser Thematik einen rekonstruktiven Ansatz. Rekonstruktiv meint in diesem Kontext, dass ich rollengebundene, historisch relativ stabile und gesellschaftlich allgemein akzeptierte moralische Überzeugungen aufgreifen, analysieren und plausibel rekonstruieren werde. Im Weiteren werde ich vor diesem Hintergrund auf Widersprüche und Ambivalenzen in der Krebsfrüherkennung hinweisen.

Der medizinethische Fokus auf diese Problematik ist dabei deutlich anwendungsbezogen. Vor dem Hintergrund einer bestehenden Problematik, hier am Beispiel der Krebsprävention, stellt sich die normative Frage, was die Medizin oder der Mediziner tun bzw. beachten sollte.

1.3. Bedingungen für die Möglichkeit von patientenorientierter Medizin

Es bedarf der Diskussion, ob die an sich evidente Theorie der Prävention in der Praxis überhaupt zum Wohle des Patienten umgesetzt werden kann. Hier wird insbesondere der Umgang mit Wissen und Information in einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung fokussiert werden müssen. Meine Arbeit wird sich dabei in den nächsten Kapiteln schwerpunktmäßig mit den hier nur kurz skizzierten Bedingungen beschäftigen, von denen die prinzipielle Möglichkeit und somit zugleich die Chancen und Grenzen einer patientenorientierten Krebsfrüherkennung abhängen. Das Schaubild fasst das Geflecht der einzelnen Bedingungen und Problembereiche überblicksartig zusammen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

So sind zum einen die Strukturen der Aufklärung bzw. Informationsvermittlung und der (Güter-) Abwägung dieser in aller Regel probabilistischen Informationen im medizinischen Kontext zu berücksichtigen. Hierbei handelt es sich um Fragen zu Kompetenzansprüchen sowohl in Bezug auf den Arzt als auch auf den Patienten. Die Kompetenz des Arztes bezieht sich neben grundlegenden arztethischen Prinzipien im Wesentlichen auf den sachgerechten Gewinn, das Verständnis und die adäquate Vermittlung von medizinischem Wissen. Während die Kompetenz des Arztes prinzipiell einer normativen Evaluation und somit einem deutlichen Anspruchsdenken unterliegen sollte, ist die Patientenkompetenz in viel stärkerem Maße als gegeben hinzunehmen und unterliegt somit im Wesentlichen einer deskriptiven Evaluation. In Bezug auf die Informationsvermittlung im Rahmen einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung bedeutet dies, dass sich die Güte ärztlicher Aufklärung stets auch an der Patientenkompetenz messen lassen muss. Soviel sei bereits hier vorweggenommen; dass man die „erfolgreiche Umsetzung patientenorientierter Medizin“ nicht vorschnell mit der „Gewährleistung von Patientenautonomie“ gleichsetzen darf. Das medizin-ethische Prinzip der Patientenautonomie sollte zwar in bestimmter Hinsicht auch Ziel ärztlichen Handelns sein. Es ist aber zugleich als Sekundärprinzip Mittel zum Zweck und somit funktional zu verstehen; funktional im Sinne einer wesentlichen Bedingung für die erfolgreiche Umsetzung des Primärprinzips einer patientenorientierten Medizin.

Neben dieser Diskussion der Bedingungen für adäquates medizinisches Wissen und patientenorientierter Aufklärung sind zum anderen die Faktoren zu berücksichtigen, welche das Inanspruchnahmeverhalten bzw. die Motivation des Patienten mitbestimmen. Die Risikowahrnehmung und das Vertrauen in die moderne wissenschaftliche Medizin stehen dabei an zentraler Stelle. Als Ausblick auf ein weiteres mit der hier behandelten Thematik eng verzahntes Dilemma moderner Medizin versteht sich das abschließende Kapitel zur Lebensqualität als Paradigma einer Ergebnisevaluation, welche den gesamten Prozesses einer Krebsfrüherkennung mit einbezieht

2. Evidence-based medicine und der Wissensbegriff in der Medizin

2.1. Was bedeutet wissenschaftliche Medizin?

Das Zusammenkommen von Wissenschaft und Medizin wird allgemein auf das 19. Jahrhundert datiert. Die Lokalisation von Krankheitsursachen in einzelnen Organen (Morgagni), Geweben (Bichat) und Zellen (Virchow) sowie die Fokussierung auf die molekularbiologisch-genetische Ebene in der zweiten Hälfte des 20. Jh. machte die Erforschung der Pathogenese nach wissenschaftlich-systematischer Methode erst möglich. Man erhoffte sich, dass

„sicheres zuverlässiges Wissen den Arzt auch zu sicherem, zuverlässigerem therapeutischen Handeln befähigen müsse“[2].

Tatsächlich ist es so, dass der auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhende medizinisch-technische Fortschritt im 20. Jahrhunderts vielen Krankheiten den Schrecken genommen und zu einer deutlichen Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung sowie durch Optimierung von Therapiekonzepten zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität geführt hat. Häufige Krankheiten wie Infektionen, Bluthochdruck, Diabetes oder Krebs wurden durch hygienische, pharmakotherapeutische oder chirurgische Maßnahmen immer erfolgreicher therapierbar und z.T. vermeidbar.

Durch eine systematisch-experimentelle Forschung auf der Grundlage objektiver Kriterien gelang es, Krankheiten besser zu verstehen, ohne am Patienten selbst forschen zu müssen. Diese prinzipielle Unabhängigkeit vom Patienten und die beeindruckenden Erkenntnisse durch die Naturwissenschaften führten anfangs teilweise sogar zu einer ärztlichen Einstellung, welche als therapeutischer Nihilismus bezeichnet wird. Demnach haben die naturwissenschaftliche Erkenntnis über den menschlichen Körper und die hiervon logisch bzw. a priori abzuleitenden Therapieoptionen Vorrang vor einem tatsächlichen bzw. a posteriori Patientennutzen. Die Tatsache, dass naturwissenschaftlich-medizinisches Wissen allein noch nicht zur Einhaltung der ärztlichen Leitideen des Nicht-Schadens (primum nil nocere) und des Wohltuns (bonum facere) im Rahmen einer patientenorientierten Umsetzung reichte, führte später zu der Kritik an einer Anwendung dieses hypothetisch-deduktiven Modells in der praktischen Medizin[3]. Nicht die Frage, was nach dem pathogenetischen Wissensstand helfen kann, sondern die Frage, was nach empirischer Prüfung helfen wird, soll bestimmend sein für die Entscheidung zu einer Therapie- oder Präventionsmaßnahme[4]. In diesem Punkt liegt die Ambivalenz bzw. der Paradigmenwechsel in der Bestimmung des Wissensbegriffs für die Medizin während des 20. Jahrhunderts. Ein, wie sich noch zeigen wird, für die hier behandelte Thematik der Krebsfrüherkennung sehr wesentlicher Punkt. Die naturwissenschaftliche Forschung führt zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In vielen Fällen ließ sich von dieser Erkenntnis ein wirksames und im Sinne des Patienten zweckmäßiges Diagnose-, Therapie- oder Präventionskonzept ableiten. Als Bewertungsmaßstab für den Erfolg bzw. Misserfolg setzte sich aber nicht die wissenschaftlich-theoretische Instanz durch. In einer patientenorientierten Medizin sollte im konsequentialistischen Sinne die Handlungspraxis über die Annahme oder Ablehnung einer medizinischen Intervention entscheiden und nicht die ihr zugrunde liegende mehr oder weniger schlüssige Theorie. Dies ist von der Grundidee her genau das Gegenteil eines therapeutischen Nihilismus. Man könnte hierbei in entsprechender Abgrenzung von einem Begründungs-Nihilismus sprechen. Wenngleich dieser Paradigmenwechsel plausibel klingt, bestehen aber in der medizinischen Praxis weiterhin kaum reflektierte Schwierigkeiten in seiner Umsetzung.

Dass es überhaupt zu einer solchen Abgrenzung der evaluativ-praktischen von der hypothetisch-theoretischen Bewertungsinstanz kam, hängt zu großen Teilen mit der Schwierigkeit zusammen, die unterschiedlichen soziokulturellen Lebens(qualitäts)- und Krankheitskonzepte, die in eine Bewertung von medizinischer Intervention hineinspielen, nach gesetzmäßigen und objektiven Maßstäben zu erfassen. Diese praktische Bewertungsinstanz bildet die wesentliche Grundlage für die Notwendigkeit einer medizinischen Ethik, deren herausragendes Paradigma das Prinzip der Patientenautonomie geworden ist. Hierdurch ist aber zugleich die prinzipielle Dynamik in den Versuchen der Verifizierung und Falsifizierung des weitgehend probabilistischen medizinischen Wissens, wie auch die Dynamik dieses Wissensbegriffs selbst begründet. Die Abhängigkeit vom Krankheitskonzept des Patienten sowie das jeweils nur probabilistische Wissen um den Erfolg einer medizinischen Intervention verweisen auf die Notwendigkeit einer Berücksichtigung des Einzellfalls und die damit verbundenen Probleme in der Arzt-Patienten-Beziehung.

Es soll allerdings noch mal darauf hingewiesen werden, dass durch diese, die wissenschaftliche Medizin beeinflussenden Faktoren nicht an den deutlichen Erfolgen durch die Wissenschaftlichkeit in der Medizin gerüttelt wird. Der Erfolg einer wissenschaftlichen Medizin war während der letzten hundert Jahre in vielen Fällen evident; eben auch im Sinne einer patientenorientierten Medizin[5].

Problematisch wird die Überzeugungskraft für medizinische Interventionen, die sich von wissenschaftlichen Hypothesen ableiten lassen erst dann, wenn sie eben aufgrund ihrer logischen Evidenz angewandt werden, ohne dass sich in der Praxis der erhoffte Effekt einstellt bzw. in erster Linie nicht intendierte Nebenwirkungen zu verzeichnen sind. Viele weitere Faktoren (siehe vorheriges Schaubild) kommen dazu, wenn es darum geht, patientenorientierte Medizin zu gewährleisten:

„Das vermehrte medizinische Wissen kann die Ungleichheit zum Handeln nicht überwinden, sondern im Gegenteil eher noch vergrößern“[6].

Dabei sollte man nicht vergessen, dass eine These wie:

„Der Zweck der Heilkunde ist die Befriedigung eines Bedürfnisses“[7],

welche eine Normierung und Bewertungsinstanz für medizinische Praxis zu bestimmen meint, selbst nur wiederum „axiomatischen Charakter“[8] hat, d.h. sie ist trotz aller gesellschaftlichen Akzeptanz „nur“ eine Setzung und entzieht sich somit prinzipiell einer weitergehenden Letztbegründung.

2.2. Was bedeutet ‘evidence-based medicine’?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen mehr und mehr kritische Stimmen auf, welche eine Wissenschaft in der Medizin anprangerten, die auf der Basis ungeregelter Erfahrung Schlüsse auf bestimmte Indikationen zog. Bekannt in diesem Kontext ist insbesondere Eugen Bleulers 1919 veröffentlichte Schrift über das „undiszipliniert autistische Denken in der Medizin“[9]. Deutschland tat sich scheinbar in dieser Hinsicht immer schon schwer. Die erste randomisierte Doppelblindstudie von 1948 in England wurde in Deutschland lange nicht zur Kenntnis genommen. Dies geschah erst in den 1970er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Biomathematik in die Approbationsordnung eingegliedert. Eine Erklärung für die deutsche Zurückhaltung in kontrollierten Studien mögen die ethischen Probleme mit den Plazebo-Blindversuchen nach den Erfahrungen der Menschenversuche im Nationalsozialismus sein[10].

Neben den kritischen Stimmen innerhalb der Medizin waren für die zunehmenden Versuche einer Objektivierung therapeutischer Erfahrung auch andere Entwicklungen förderlich, die ihr Augenmerk nicht primär auf das individuelle, sondern auf das Gemeinwohl richteten. In diesem Sinne weckten die merkantilistische Staatsphilosophie des 18. Jahrhunderts und die Leitideen eines Wohlfahrtsstaats im 20. Jahrhundert das Interesse für eine Ergebnisevaluation in der Medizin[11]. Weitere Entwicklungen in der Statistik und Biometrie verbesserten die Instrumente und Methoden für dieses Vorgehen. Als Meilensteine sind die im 19. Jahrhundert aufkommende Bedeutung von Korrelationen, sowie die Entwicklung von statistischen Instrumenten zur Signifikanzbestimmung von Unterschieden (Chiquadrat-Test von Pearson und t-test von „student“ Gosset) im 20. Jahrhundert zu nennen[12].

Damals wie heute erwiesen sich die Probleme im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten als eine enorme Hemmschwelle für die Akzeptanz der Evaluation und Qualitätssicherung in der Medizin. Der Theorie-Praxis-Fehlschluss - post hoc ergo propter hoc - ist und bleibt vordergründig plausibel bei Laien wie bei Ärzten. Dabei muss anerkannt werden, dass das Wissen um die probabilistische Natur der geregelten Erfahrung relativ neu ist und zudem viele tradierte Vorstellungen und (Pseudo)-Sicherheiten in Frage stellt bzw. grundlegend falsifiziert. Die Einsicht, dass wir „nur“ etwas über die Wahrscheinlichkeit des intendierten Erfolges sagen können, lässt sich nicht so einfach akzeptieren.

Es gab und gibt also unterschiedliche Probleme mit dem Wissen und dem Bewusstmachen der probabilistischen Natur medizinischer Interventionen und somit ärztlicher Intention. Angesichts der ärztlichen Verpflichtung zur Schadensvermeidung im Sinne seiner Patienten wäre ein grundlegendes Interesse an einer eingehenden Überprüfung medizinischer Praxis nicht nur trotz aller Unannehmlichkeiten zu erwarten, sondern auch moralisch geboten. Wie weit diese ethischen Aspekte reichen, werde ich in einem späteren Kapitel zum Verantwortungsbegriff behandeln. EBM versucht in ihrem Selbstverständnis eben diesen Schritt zur patientenorientierten Qualitätssicherung zu gehen. Dabei behält sie das wissenschaftliche Konzept moderner Medizin bei bzw. verbessert es insofern, als sie ein entscheidendes Kriterium für die Akzeptanz einer wissenschaftlichen These betont: die von den wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeleiteten Vorraussagen müssen eintreten bzw. müssen sich im Sinne Karl R. Poppers „bewähren“[13]. Weiterhin handelt es sich bei dem Objekt der EBM um quantifizierbare Daten, die in systematischen und falsifizierbaren Studien gewonnen werden. Der Fokus des Interesses richtet sich dabei aber nicht auf den Nachweis zulässiger Schlüsse aus wissenschaftlichen Hypothesen, sondern allein auf die Prozessevaluation, d.h. auf die Ergebnisse und die Erfolge der in die medizinische Praxis umgesetzten Theorien. Ergebnis ist dabei stets ein stochastischer Effekt, dessen Ursprung oder Kausalverhältnis nicht weiter relevant sein muss[14]. Ob die Einführung eines neuen Medikaments deshalb die Behandelten heilt bzw. ihre Lebenserwartung verlängert, weil es einer bestimmten Theorie entspricht, ist nicht primär relevant. Was zählt, ist das Ergebnis für den Patienten. ‚Wer heilt - hat Recht’. Oder um es noch mehr auf das handlungswissenschaftlich-normative Grundverständnis der Medizin zuzuspitzen: ‚Wer heilt - der heilt’! Evidenz (hier im Sinne des englischen Begriffs ‚evidence’) meint dabei also den stochastischen a posteriori-Nachweis eines positiv (intendierten?) Effektes bei einer medizinischen Intervention. Sie meint nicht eine Evidenz (im Verständnis der deutschen Sprache) oder Offensichtlichkeit im Sinne einer a priori-Plausibilität eines intendierten medizinischen Erfolgs[15]. So mag für viele der positive Effekt von Präventionsmaßnahmen auf die Verringerung der allgemeinen Mortalitätsrate plausibel oder auch evident sein. Was aber für EBM zählt, ist allein die Ergebnisevaluation, die bei noch so großer „evidenter Erwartung“ eines (theoretischen) Erfolges in der Praxis negativ ausfallen kann. Dies trifft im Übrigen auch für einige der gegenwärtig angewandten Früherkennungsmaßnahmen zu.

EBM versucht, die Nachweisverfahren zu optimieren, welche den medizinischen Anteil an der auch natürlich stattfindenden Heilung ausweisen möchten. Dies ist beim Einzelfall prinzipiell nicht möglich. Es ist auch solange nicht nötig, wie es nicht für Arzt und Patient relevant wird. Diese Relevanz besteht in aller Regel in dem Vertrauen auf die Reproduzierbarkeit. Der Arzt will wissen, ob er noch mal so handeln soll[16].

Für den hier fokussierten Bereich der medizinischen Wissensevaluation ist noch ein weiterer Aspekt der EBM besonders relevant. Die Unterscheidung von interner und externer Evidenz[17]. Als „interne Evidenz“ kann man den Erfahrungsschatz des individuellen Arztes bezeichnen. Dass ein Penicillinpräparat häufig bei bestimmten Symptomen eine Besserung im Sinne des Patienten bewirkt, wird für den Arzt auch aus seiner Erfahrung heraus evident. Zudem gewinnt der Arzt eine gewisse Erfahrung in der Diagnosestellung, insbesondere bei seinen Patienten, die er über lange Zeit betreut. Ob es sich bei dem Symptom Brustschmerzen um einen eher somatischen oder stärker psychisch beeinflussten Befund handelt, wird der Arzt bei ihm bekannten Patienten aufgrund seiner gewachsenen „internen Evidenz“ häufig schneller oder gezielter beantworten können als beispielsweise ein ihn vertretender Kollege. Die „interne Evidenz“ ist aber umso schwächer, je weniger deutlich sich der positive oder negative Effekt einer Therapie zeigt. Dem Arzt bleiben dann aufgrund seines eher geringen Patientenkollektives kaum Möglichkeiten, seine Erfahrungen und Entscheidungen zu evaluieren. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man in einem Niedrig-Risiko-Bereich arbeitet, wenn also die vermutete und zu diagnostizierende Erkrankung eher selten vorkommt. Beides trifft auf die Krebs-Früherkennung zu.

2.3. Was sind die Forderungen von ‚evidence-based medicine’ an die moderne Medizin?

Der Ansatz der EBM zielt methodisch auf eine Stärkung der patientenorientierten Ergebnisse. Zudem gelingt es der EBM in Fortführung der wissenschaftlichen Leitidee einer Handlungswissenschaft wie der Medizin, Schwächen derzeitiger Praxis offen zu legen und Instrumente oder Methoden anzubieten, die helfen können, die arztimmanenten Defizite (s.o.) für die Bewältigung einer angemessenen Ergebnisevaluation auszugleichen. Ergebnis der Akzeptanz von EBM sollte erwartungsgemäß sein, dass der Patient in unterschiedlichen für ihn relevanten Bereichen profitiert. Wie diese Erwartung in ihrer Ganzheitlichkeit wiederum auf ‚evidence’ hin überprüft werden soll bzw. welche Probleme sich durch eine möglicherweise zirkuläre Begründung ergeben, werde ich im Kapitel zur Lebensqualität besprechen.

Zunächst werde ich mich mit der Frage beschäftigen, was EBM an der medizinischen Praxis „verbessert“.

1. Lässt sich die Intention einer medizinischen Intervention relativ deutlich quantifizieren, wie z.B. in einer Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung oder Senkung der Gesamtmortalität durch Krebsprävention, so kann man anhand dieses Kriteriums den stochastischen Erfolg der Intervention bewerten. Wenn die Gesamtmortalität nicht gesenkt werden kann oder in einer Krebsprävention anwendenden Gruppe eher noch ansteigt, kann man nicht ohne weitere Begründung behaupten, dass die entsprechenden Maßnahmen der Krebsprävention „gut“ für den Patienten sind.
2. Eine andere komplexe Situation besteht bei all den Fällen, bei denen eine Intervention zwar den gewünschten Erfolg statistisch zeigt, bei denen aber, um das Ziel zu erreichen, wesentliche nicht intendierte so genannte Nebenwirkungen akzeptiert werden müssen (Beispiel: lebensverlängernde Maßnahmen bei fortgeschrittenem Krebsleiden). Hier rückt eine patientenorientierte Nutzen-Schaden-Abwägung in den Vordergrund, die, um den einleitend skizzierten Anspruch an patientenorientierte Medizin umzusetzen und somit von einem „Besser“ oder „Schlechter“ sprechen zu können, viele Aspekte berücksichtigen muss (siehe obiges Schaubild).

Diese Problematik ist nicht bei allen medizinischen Interventionen gleichermaßen dringlich. Oftmals mag die Nutzen-Schaden-Abwägung relativ unkompliziert ausfallen. Im gegenwärtigen Kontext der Krebsfrüherkennung ist dieser Aspekt aufgrund seiner Komplexität aber besonders hervorzuheben[18]. Kriterien zur Abschätzung der Problematik einer Nutzen-Schaden-Abwägung sind u.a.:

[...]


[1] Sicherlich besitzt dieser Abwägungsprozess nicht überall gleiche Relevanz. Eine Therapie mit einem gut wirksamen Antibiotikum bei einer schweren Lungenentzündung wird nur von den Wenigsten als diskutabel betrachtet.

[2] Toellner 1990, S.10

[3] Siehe u.a. Wiesing 1995, S. 24

[4] Vgl. Bauer 2001a

[5] So z.B. das pathogenetische Konzept der Bakteriologie und Virologie von Robert Koch, welches deduktiv in äußerst wirksame Konzepte für medizinische Interventionen (Hygiene, Impfung, Antibiotika) umgesetzt werden konnte.

[6] Gadamer 1993. Zitiert nach Wiesing 1995, S. 29

[7] Rothschuh 1965, S. 8

[8] Rothschuh 1965, S. 15

[9] Siehe Bleuler 1927

[10] Vgl. Bauer 2001b

[11] Für eine ausführliche historische und ethische Abhandlung der EBM siehe Goodman 2003.

[12] Vgl. Bauer 2001b

[13] Siehe Popper: Logik der Forschung (1976)

[14] Zur einführenden Charakterisierung der Theorie und Praxis von EBM siehe Sackett 1996

[15] Im Folgenden werde ich der Unterscheidung halber von Evidenz (Offensichtlichkeit) und ‚evidence’ (Ergebnis randomisierter Kontrollstudien) sprechen.

[16] Zum Problem der therapeutischen Erfahrung siehe Tröhler 1993

[17] Vgl. Raspe 2000a. Raspe bezieht sich mit seinem semantischen Verständnis von „interner“ und „externer“ Evidenz auf den ‚evidence’-Begriff. Dies soll auch für die weitere Verwendung der Begrifflichkeit von „externer Evidenz“ und „interner Evidenz“ in dieser Arbeit gelten.

[18] Vgl. Hölzel 2002

Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Wann ist Krebsfrüherkennung "gute" Medizin?
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
75
Katalognummer
V162514
ISBN (eBook)
9783640769209
ISBN (Buch)
9783640769353
Dateigröße
672 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ethik, Krebsfrüherkennung, Mammographie, Screening
Arbeit zitieren
Daniel Strech (Autor:in), 2004, Wann ist Krebsfrüherkennung "gute" Medizin?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162514

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