Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Terminologische Festlegung
3. Allgemeine Merkmale und Auswirkungen der Bauernbefreiung auf die deutschen Bauern und ländlichen Unterschichten. Forderungen und politische Partizipation
4. Lebensbedingungen ländlicher Unterschichten im 19. Jahrhundert
5. Bauernbefreiung und beginnende Industrialisierung in Nord- und Mitteldeutschland, ein Beitrag unter besonderer Einbeziehung der preußischen Provinz Sachsen
6. Besonderheiten ländlicher Unterschichten und Bauernbefreiung in Süddeutschland sowie Parallelen zur gesamtdeutschen Entwicklung
7. Ergebnis der Untersuchung
8. Bibliografie
1. Einleitung
Die vorliegende Hausarbeit ist im Rahmen des Hauptseminars „Unterschichten im 19. Jahrhundert: England, Frankreich, Deutschland“ entstanden. Zu diesem Oberthema sollen Auswirkungen der Bauernbefreiung sowie Einflüsse der Industrialisierung und des mit ihr verbundenen Beginns der agrarwirtschaftlichen Kapitalisierung auf die ländlichen Unterschichten in Deutschland dargestellt und untersucht werden.
Der Übergang zur Dreifelderwirtschaft mit Flurzwang im europäischen Mittelalter ermöglichte das Zusammenwachsen der in den Dörfern lebenden Familien zu einer engen Gemeinschaft, die in gewissem Maße gegenseitigen Schutz und Unterstützung bot. Das seit Jahrhunderten bestehende sozioökonomische Ordnungsprinzip der Feudalherrschaft regelte Abgaben und Dienstleistungen sowie die Rechtsprechung zwischen Grundherren und Bauern und bildete auch den bestimmenden Rahmen für unterbäuerliche Schichten. Mit dem die Agrarreformen des 19. Jahrhunderts bezeichnenden Begriff der „Bauernbefreiung“ wurden bis dahin geltende sozial- und besitzrechtliche Strukturen grundlegend verändert bzw. aufgehoben. Durch die Reformen wurde ebenfalls ein Grundstein für die später rapide fortschreitende Industrialisierung gelegt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder auf die agrarwirtschaftlichen Verhältnisse zurückwirkte. Inwieweit diese Entwicklungen die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der ländlichen Unterschichten im 19. Jahrhundert in Deutschland berührten, soll in der vorliegenden Arbeit in Ansätzen aufgezeigt werden.
Zunächst wird versucht, die Gruppe der ländlichen Unterschichten zu bestimmen und zu klassifizieren, bevor anschließend die generellen inhaltlichen Konzepte und Auswirkungen der Bauernbefreiung skizziert werden. Im Folgenden wird auf Faktoren eingegangen, die die Lebensverhältnisse der Unterschichten allgemein prägten, und schließlich soll anhand regionaler Beispiele analysiert werden, inwieweit die Bauernbefreiung sowie die beginnende Industrialisierung die Lebens- und Arbeitsverhältnisse des Agrarproletariats beeinflusst haben. Nord- bzw. Mitteldeutschland mit besonderem Augenmerk auf die Magdeburger Börde in der damaligen preußischen Provinz Sachsen auf der einen Seite und Bayern und Württemberg in Süddeutschland auf der anderen Seite sollen zu diesem Zweck genauer untersucht werden.
2. Terminologische Festlegung
Die Dorfgemeinschaft des 19. Jahrhunderts umfasste neben der uneinheitlichen Schicht der Bauern vor allem die ebenfalls heterogene Gruppe der ländlichen Unterschichten, d. h. der Landarmen und Landlosen bzw. der Landarbeiter mit und ohne Grundbesitz. Die Bauern unterteilten sich in Großbauern oder Vollspänner mit einem Grundbesitz zwischen 100 und 600 Morgen Land, Mittelbauern, die über 30 bis 100 Morgen Land verfügten, und Kleinbauern mit einem Besitz zwischen 5 und 30 Morgen Land, wobei in vielen Gebieten der Übergang von Klein- und Kleinstbauern zu ländlicher Armut fließend war. Unterste Klasse innerhalb der Kleinbauernschaft bildeten die sog. „Kleinkotsassen“ mit einem Landbesitz von 5-10 Morgen Land, deren Erträge normalerweise gerade zur Lebenshaltung ausreichten. Daher können Kleinstbauern durchaus in die Untersuchung einbezogen werden. Zusammen bildeten die Bauern in den Dörfern die politische Führungsschicht[1].
Eine genaue Differenzierung und Bestimmung der Gruppe des Agrarproletariats erweist sich aufgrund ihrer Heterogenität und der regional unterschiedlichen Benennungen ihrer Mitglieder und Subgruppierungen als schwierig. Auf regionale und begriffliche Unterschiede wird, wenn nötig, in den entsprechenden Kapiteln eingegangen. Für die Betrachtung der ländlichen Unterschichten sollen an dieser Stelle zunächst drei Großgruppen klassifiziert werden. Erstens: die Häusler, die ein Haus sowie meistens ein kleines Ackerstück oder einen Garten besaßen und häufig auf einen ergänzenden Verdienst als freie agrarwirtschaftliche Tagelöhner angewiesen waren. Zweitens: die eigentlichen Tagelöhner, die zwar einen eigenen Haushalt besaßen, aber kein eigenes Haus oder Landstück. Sie wohnten bei Grundbesitzern zur Miete und bildeten den überwiegenden Teil des ländlichen Arbeitskräftepotentials. Zu ihnen zählten auch die Saisonarbeiter, die meistens zur Ernte im Sommer in wirtschaftlich lukrativere Regionen wanderten, um sich saisonal z.B. als Erntehelfer und Futterknechte zu verdingen. Drittens: die Dienstleute und das Gesinde, die zumeist auf Gutsbetrieben wie Rittergütern oder größeren Bauernwirtschaften arbeiteten, also Knechte und Mägde. Wie die freien Tagelöhner hatten sie keine eigene Wohnstätte, befanden sich aber im Gegensatz zu diesen in einem langfristigen, vertraglichen Dienstverhältnis mit dem Gutsbesitzer. Sie waren fest in den Betrieb und die Hausgemeinschaft integriert, ordneten sich unter die Dienstherrschaft, verrichteten Dienste im Haus oder der Landwirtschaft, wohnten unter einem Dach mit ihren Herren und wurden hauptsächlich in Form von Naturalien entlohnt[2].
Die Mehrheit der dörflichen Bevölkerung setzte sich aus diesen Gruppen zusammen. Eine zusammenhängende politische Klasse stellten sie allerdings noch weniger als die Bauern dar. Ökonomische Schwächen und Abhängigkeiten gipfelten in politischer Ohnmacht. Die wenigen Landbesitzer unter ihnen waren nicht in der Lage, ihre Familien allein durch die Erträge ihres Ackers zu ernähren. Fast alle Kleinbesitzer waren auf einen Nebenerwerb angewiesen. Das Bestreben, eigenes Ackerland oder wenigstens billiges Pachtland zu erwerben, war unter den Landlosen allgemein sehr hoch. Der Erfüllung dieses Wunsches standen oft nicht nur ihre geringen finanziellen Mittel entgegen, sondern auch die fehlende Bereitschaft der Land besitzenden Bauern[3].
Trotz der anfänglich sehr komplexen Pluralität innerhalb der Gruppe der ländlichen Unterschichten vollzieht sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Unifizierungsprozess der Landarbeiterschaft infolge der Industrialisierung und der Kapitalisierung der Landwirtschaft. Am Ende dieses langen Prozesses sah sich ein nahezu vereinheitlichtes Agrarproletariat einem sich immer weiter differenzierenden und ökonomisch gewachsenen Groß- und Mittelbauerntum gegenüber[4].
3. Allgemeine Merkmale und Auswirkungen der Bauernbefreiung auf die deutschen Bauern und ländlichen Unterschichten. Forderungen und politische Partizipation
Die deutschen Bauern, die um 1800 etwa 80% und um 1850 immer noch zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten, wurden durch die Reformen, die unter dem Begriff Bauernbefreiung zusammengefasst werden, über lange Sicht aus der feudalen Agrarordnung befreit[5].
Grundsätzlich können drei Reformvorgänge unterschieden werden.
Erstens wurden die Bauern durch Ablösungen aus vielfältiger herrschaftlicher Abhängigkeit frei. Durch Geld-, Kapital- oder Landzahlungen konnten die Feudalleistungen, z.B. der Zehnt, abgelöst werden. Die Höhe der Entschädigungen variierte und sank auch mit der Zeit; generell waren aber sämtliche Lasten durch die einmalige Zahlung ihres 25fachen Werts ablösbar[6]. Diese Maßnahme bedeutete einen jahrzehntelangen Prozess, der regional unterschiedlich fortschritt. Der Großteil der Bauern konnte sich die Ablösungen aus dem Augenblick heraus natürlich nicht leisten. Finanzierungsprobleme vornehmlich in den süddeutschen Gebieten, in denen Geldablösung vorherrschte, sollten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beispielsweise durch die Einrichtung von Landrentenbanken behoben werden[7]. Viele unterbäuerliche Dorfbewohner verschuldeten sich bei dem Versuch, ihre Lasten abzulösen oder von Bauern Land zu kaufen, um den engen Wohnverhältnissen zu entkommen[8].
Zweitens wurden in den Dörfern sog. Gemeinheitsteilungen durchgeführt, d.h., bislang kollektiv genutzte Flächen in der Dorfumgebung, wie gemeinsame Weide- und Ackerflächen, also Allmende oder Feldmark, wurden jetzt an die einzelnen Nutzungsberechtigten, die vollberechtigten, an ihrem Besitz gemessenen Gemeindemitglieder, namentlich die Bauern, verteilt[9]. Um jedes Stück besseren Landes wurde gestritten.
Drittens erfolgten im Zuge der Gemeinheitsteilungen Separationen oder Verkoppelungen, wodurch das oft in viele kleine Parzellen zersplitterte Ackerland der Dörfer zu größeren, geschlossenen Feldflächen zusammengelegt wurde. Auch die Gemeinheitsteilungen und Separationen dauerten mancherorts noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts an[10].
Die reformerischen Ideen nahmen ihren Anfang zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch u. a. die Initiativen der preußischen Reformer Karl August Freiherr von Hardenberg und Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und wurden nach einer langen Reihe von Dekreten und Ablösungsverordnungen um die Jahrhundertmitte abgeschlossen, für ganz Preußen beispielsweise mit dem „Gesetz betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse“ vom 2.3.1850[11].
Demnach zielten die obrigkeitlichen Reformen einerseits auf die Beseitigung feudaler Abhängigkeit und andererseits auf die Aufhebung der genossenschaftlichen Bindungen in den Dörfern, d.h. auf einen landwirtschaftlichen Besitzindividualismus, ab. So waren es auch vor allem wirtschaftliche Motive, die die Bauernbefreiung begleiteten. Die Bauern sollten autonom über ihren Besitz und ihre Wirtschaftsweise verfügen, um höhere Erträge erzielen zu können[12]. Mit Abschluss der Flurbereinigung, d.h. der Gemeinheitsteilungen und Separationen und der damit verbundenen Beseitigung allgemeiner Trift- und Weiderechte, wurde die angestrebte Ertragssteigerung auch mehrfach erreicht, indem neue Wirtschaftsmethoden genutzt wurden, die vorher von der konservativen Grundherrschaft untersagt waren, wie z.B. die Bebauung der Brache oder die Einführung anderer Fruchtfolgen und der Stallfütterung, noch bevor neue Düngemethoden und Maschinen ihren Einzug in die deutsche Landwirtschaft fanden[13]. Der durch die Reformen vollzogene Wandel des Flurbildes bedeutete einen wichtigen agrarökonomischen Umbruch. Im Gefüge der besitzrechtlich und territorial neu entstandenen Feldkomplexe wurde die Landwirtschaft intensiviert, technisiert und eröffnete so der Bevölkerung neue Erwerbsmöglichkeiten. Die generelle Bevölkerungszunahme verdeutlicht diese Entwicklung; in vielen Gebieten verdoppelte sich im 19. Jahrhundert die Einwohnerzahl[14]. Nach Rösener wurde durch die Reformen die Landwirtschaft in die liberale Marktwirtschaft überführt. Freie Konkurrenz und nicht ein Privileg bestimmte jetzt über Besitz- und Nutzungsrechte[15]. Grundherr war jetzt der Staat. Aus Formen feudaler Abhängigkeit gingen folglich natürlich neue, (markt)wirtschaftliche Abhängigkeiten hervor. An die Stelle des feudalen Arbeitszwanges trat nun die freie Lohnarbeit. In diesem Zusammenhang sieht Plaul auch nach kapitalistischem Verständnis die wesentliche Auswirkung der Bauernbefreiung auf die Landarmen und Landlosen:
„ Die Folgen und die Bedeutung der Agrarreformen bestanden für diese Schicht der Landbevölkerung also vornehmlich darin, dass sie die juristische Verfügungsgewalt über ihre eigene Arbeitskraft erhielten. “[16]
Die ländlichen Unterschichten, die häufig nicht von den Neuordnungen profitierten, waren entscheidend von den Gemeinheitsteilungen und Separationen betroffen. Hatten bis zum 19. Jahrhundert noch soziale Verflechtungen das formelle Besitzrecht-Schema gesprengt und die landarmen Schichten, die Kleinstelleninhaber, Tagelöhner und Häusler, daher an der Nutzung der Weide- und Ackerflächen Anteil gefunden, obwohl sie rechtlich keinen Anspruch darauf hatten, so wurde jetzt keine Rücksicht mehr auf sie genommen, als es um Besitzrechte und Entschädigungen ging. Besonders der Nutzungswegfall von Triftwegen und Weiden, im Norden auch die entfallende Möglichkeit zum Plaggenstechen[17], schmerzten die landarmen Unterschichten sehr, da sie, wenn sie schon keinen Acker besaßen, immerhin durch Großviehhaltung teilweise ihren Lebensunterhalt bestritten. Nun wurden sie gezwungen, auf die Haltung von Kleinvieh überzuwechseln. Weiterhin waren sie auf die gemeinschaftliche Holznutzung angewiesen, durch die sie ihr Brennholz erhielten, und die nun ebenfalls wegfiel[18].
[...]
[1] Vgl. Felleckner, Thomas, Bäuerliche und unterbäuerliche Bevölkerungsgruppen in der preußischen Provinz Sachsen während der Revolution von 1848/49, Idstein 2003, S. 44 ff.
[2] Vgl. Felleckner, Thomas, Bäuerliche und unterbäuerliche Bevölkerungsgruppen, S. 48.
[3] Vgl. Ebd.
[4] Vgl. Plaul, Hainer, Landarbeiterleben im 19. Jahrhundert. Eine volkstümliche Untersuchung über Veränderungen in der Lebensweise der einheimischen Landarbeiterschaft in den Dörfern der Magdeburger Börde unter den Bedingungen der Herausbildung und Konsolidierung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Tendenzen und Triebkräfte, Berlin 1979, S. 118.
[5] Vgl. Rösener, Werner, Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, S. 221 ff.
[6] Vgl. Felleckner, Thomas, Bäuerliche und unterbäuerliche Bevölkerungsgruppen, S. 59.
[7] Vgl. Rösener, Werner, Die Bauern, S. 231.
[8] Vgl. Schneider, Karl Heinz, Seedorf, Hans Heinrich, Bauernbefreiung und Agrarreformen in Niedersachsen, Hildesheim 1989, S. 108 f.
[9] Vgl. Ebd., S. 9.
[10] Vgl. Rösener, Werner, Die Bauern, S. 221 f.
[11] Vgl. Plaul, Hainer, Landarbeiterleben, S. 36.
[12] Vgl. Schneider, Karl Heinz, Bauernbefreiung, S. 102.
[13] Vgl. Assion, Peter, Brednich, Rolf Wilhelm, Bauen und Wohnen im deutschen Südwesten: dörfliche Kultur vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 22 f.
[14] Vgl. Rösener, Werner, Die Bauern, S. 237.
[15] Vgl. Ebd., S. 235.
[16] Plaul, Hainer, Landarbeiterleben, S. 90.
[17] Plaggenstechen: Stechen von rechteckigen Grasstücken zur Viehfuttergewinnung.
[18] Vgl. Rösener, Werner, Die Bauern, S. 233 f.