Konfrontation vs. Akzeptanz

Ein kriterienorientierter Vergleich von zwei Antigewalttrainings im tertiären Präventionssektor


Diplomarbeit, 2010

67 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil A
1. Die aktuelle Diskussion in der Öffentlichkeit und die (sozial-)politische Sichtweise auf die Jugendgewalt
2. Aktuelle Zahlen zur Jugendgewalt

Teil B
1. Aggressions- und Gewalttheorien

Teil C
1. Theoretische Grundlagen für Trainingsmaßnahmen im tertiären Präventionssektor
2. Die Trainingsmaßnahmen
2.1. Anti-Aggressions-Training - AAT
2.1.1. Institutionen
2.1.2. Die theoretische Grundlage
2.1.3. Das Konzept
2.1.4. Die Methoden
2.1.5. Qualitätsstandards
2.1.6. Evaluation
2.2. Anti-Gewalt- und Kompetenztraining - AKT
2.2.1. Institutionen
2.2.2. Die theoretische Grundlage
2.2.3. Das Konzept
2.2.4. Die Methoden
2.2.5. Qualitätsstandards
2.2.6. Evaluation
3. Vergleich der Trainingsmaßnahmen anhand der definierten Kriterien
3.1. Theorierahmen
3.2. Theorie der Interventionsstrategien
3.3. Durchführung
3.4. Qualitätssicherung/Qualifizierung
3.5. Evaluationsmenge/-qualität

Teil D
1. Gemeinsame pädagogische Schnittmengen und Diskussion um die Verbreitung der Maßnahmen

Teil E

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem. Nicht erst der Überfall auf Dominik Brunner im September 2009 am Bahnhof München-Solln hat die Diskussion über die Behandlung von Gewalttätern wiederbelebt, aber seitdem wird deutlich engagierter diskutiert, weil vor allem eine Person versucht hat, vergessene Grenzen aufzuzeigen.

Diese Arbeit hat das Ziel, zwei Trainingsmaßnahmen zu vergleichen, die im tertiären Präventionssektor angesiedelt sind. Die Teilnehmer dieser Trainings sind bereits mehrfach straffällig geworden und müssen oder wollen diese Chance nutzen, ihr Verhalten zu überdenken und zu ändern.

Die Idee zu diesem Vergleich entstand vor allem im zweiten Praktikum, das ich bei einem Anbieter für pädagogische Weiterbildungen absolvierte, der eine Ausbildung zum AAT-Trainer im Programm hatte und diese durch die konkurrie- rende Ausbildung zum AKT-Trainer ersetzte. Die Diskussion für oder gegen die alte Maßnahme und für die Entscheidung, den Ansatz des Violence-Prevention- Networks zu übernehmen, förderte die Neugier, diese beiden so unterschiedlich erscheinenden Varianten der Gewaltarbeit zu untersuchen und gegeneinander zu stellen.

Diese Arbeit stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit in Bezug auf die verwen- deten Methoden, da die Trainer diese individuell weiterentwickeln und anpas- sen, sondern basiert auf den literarischen Veröffentlichungen der jeweiligen In- stitutionen.

Einen Überblick über die aktuelle Diskussion in der Öffentlichkeit und die sehr eingeschränkte Sichtweise der Politik auf das Thema der Gewalt ermöglicht der Abschnitt 1 im Teil A. Ebenso wird hier im Abschnitt 2 die Polizeiliche Kriminalstatistik 2009 in Bezug auf die Gewaltausübung von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden ausgewertet.

Die relevanten Theorien zur Gewaltherkunft und -entstehung werden im Teil B erläutert.

Im Teil C werden dann die theoretischen Grundlagen für die Arbeit mit gewalt- bereiten Jugendlichen dargestellt, diese basieren auf bereits fundierten Thera- pien, wie zum Beispiel der Gestalttherapie. Im weiteren Verlauf folgt eine diffe- renzierte Darstellung der zu vergleichenden Trainingsmaßnahmen. Dabei wer- den unter anderem die Rahmenbedingungen, Konzepte und die verwendeten Methoden erläutert.

Im Anschluss werden die Maßnahmen in fünf Kriterien gegenübergestellt und verglichen.

Die eventuellen Gemeinsamkeiten werden im Teil D dargestellt und eine Weiterentwicklung diskutiert.

Die Ergebnisse werden im Teil E dargestellt und erläutert.

Teil A

1. Die aktuelle Diskussion in der Öffentlichkeit und die (sozial-)politische Sichtweise auf die Jugendgewalt

Die Gewalt in der Gesellschaft wird besonders nach schweren Straftaten, die durch die mediale Verbreitung an die Öffentlichkeit gelangen, zum Diskussions- thema. Dabei werden mehrere Ansätze diskutiert, wie man der Gewalt begeg- nen könnte. Zum einen fordert ein Großteil der Bevölkerung eine Eindämmung der Gewalt durch härtere Strafen, andere fordern, die Entstehung von Gewalt zu verhindern. Beide Ansätze verfolgen das Ziel, das Gewaltpotenzial in der Bevölkerung zu verringern. Dennoch sind drakonische Strafen in der Öffentlich- keit weit populärer als eine effektive Präventionsarbeit oder eine qualitative Aufarbeitung der begangenen Taten.

Aggressives Verhalten ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Der schimpfende Autofahrer besitzt genauso wie der Jugendliche, der mit gewaltsamen Handlun- gen Aufsehen erregt, ein Aggressionspotenzial, jedoch ist das Potenzial sehr unterschiedlich und nur ein geringer Anteil wird straffällig in Verbindung mit ei- ner Gewalttat.

Aktuell erregen in regelmäßigen Abständen spektakuläre Straftaten, wie der Überfall auf Dominik Brunner in München-Solln, die Aufmerksamkeit der Ge- sellschaft. Diese geschehen zwar nicht täglich, jedoch häufen sich die Fälle be- sorgniserregend, den Statistiken nach sind die Zahlen zwar rückläufig, jedoch entwickelt sich in der Öffentlichkeit ein anderes Bild, welches vom persönlichen Eindruck jedes einzelnen Betrachters abhängt. Wie die Gewalt in den unter- schiedlichen Schichten der Gesellschaft wahrgenommen wird, hängt sehr von den sozialen Einflüssen ab. Eine Person aus gehobener Schicht sieht eine Ver- haltensweise eher als aggressiv an als eine Person aus niedriger Schicht, denn man kann davon ausgehen, dass Gewalt in unteren Schichten eher vorkommt oder sogar als Mittel zum Zweck anerkannt wird. Fehlende pädagogische und kommunikative Fähigkeiten in niedrigeren Schichten begünstigen die Anerken- nung von Gewalt als akzeptable Bewältigungsstrategie.

Wenn man die öffentliche Meinung zur Gewalt betrachtet, muss man zwischen mehreren Faktoren sehr genau differenzieren. Ist die befragte Person von einer Gewalttat direkt betroffen oder in ihrem Umfeld halten sich häufig Gewalttäter auf, wird diese anders Stellung nehmen als eine Person, die mit Gewalttaten kaum oder gar nicht in Berührung kommt. Die Nähe zur Gewalt spielt demzufol- ge eine wichtige Rolle. Die Nahsicht auf das eigene Umfeld wird meist durch persönliche Eindrücke beeinflusst, dagegen werden bei der Fernsicht auf grö- ßere Zusammenhänge die Informationen aus den Medien für die Meinungsbil- dung herangezogen. Diese bilden aber nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Verhältnisse ab und unterliegen wechselnden Bedingungen und Schwerpunkt- setzungen bei der Nachrichtenerstattung. So wird über schwere Straftaten weit häufiger berichtet als über leichte Taten, obwohl die leichten Taten den Großteil der Kriminalstatistik darstellen. Dadurch verzerrt sich das Empfinden der Bevöl- kerung, die öffentliche Meinung geht von viel mehr schweren Straftaten aus, als es real gibt. Kurzfristige Berichtswellen beeinflussen die öffentliche Meinungs- bildung und Wahrnehmung durch starke mediale Selektion, welche durch das öffentliche Interesse und die Medienpräsenz gesteuert wird. Diese Berichtswel- len ebben meist nach kurzer Zeit wieder ab und man muss gezielt nach Infor- mationen suchen, um ein Bild über die Entwicklungen in den speziellen Fällen zu erhalten.

Die Politik begegnet jugendlicher Gewalt teilweise sehr ungeschickt. Entweder werden die Gesetze erweitert beziehungsweise verschärft, wie zum Beispiel die aktuelle Tendenz, jugendlichen Straftätern als Konsequenz für ihre Tat den Führerschein für eine bestimmte Zeit abzunehmen. Ob dies einen entscheiden- den Einschnitt in die Lebensgestaltung der Täter darstellt oder alternative Maß- nahmen sinnvoller wären, soll an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Wenn Po- litiker oder Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, das Thema der Gewalt und deren Ursprünge direkt und ohne Zurückhaltung ansprechen und die politi- schen Maßnahmen und Verhaltensweisen kritisieren, werden diese zunehmend in eine rassistische oder diskriminierende Ecke gedrängt und ihre Aussagen aus dem Zusammenhang herausgerissen bewertet. Jedoch sollte zu einer de- mokratischen Gesellschaft gehören, dass auch solche Meinungen gehört wer den und vernünftig darüber diskutiert wird, zumal in diesen Äußerungen sehr häufig reale Verhältnisse dargestellt werden.

Die Möglichkeit, Maßnahmen wie die behandelten Trainings zu fördern und ihre Verbreitung voranzutreiben, geschieht aber eher nicht im Blickpunkt der Politi- ker. Die Träger selbst müssen hier die Initiative übernehmen und durch Koope- rationen und Projekte die Bevölkerung erreichen. Denn dass präventive Arbeit wichtig ist und auch eine Wirkung zeigt, ist zum Beispiel an einem Projekt im Berliner Stadtteil Spandau zu beobachten. Hier engagieren sich vorrangig Ju- gendliche, um das Gewaltpotenzial zu senken. Durch Kiezstreifen und Beglei- tungen von Busfahrern in Kooperation mit der Polizei werden potenzielle Ag- gressoren direkt angesprochen und ihnen wird vermittelt, dass die Ausübung von Gewalt kein sozial akzeptiertes Mittel ist, um Konflikte zu lösen (vgl. Stark- ohne-Gewalt.de).

Die Jugendrichterin Kirsten Heisig fordert in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ (Heisig, 2010) zum Handeln auf. Sie ist mit ihren Möglichkeiten, die ihr die Jus- tiz ermöglichte, an eine Grenze gestoßen, mit der sie der wachsenden Gewalt bei Jugendlichen nicht mehr entsprechend erzieherisch entgegentreten konnte. Ob hier eine Änderung des Jugendgerichtsgesetztes notwendig ist, soll an die- ser Stelle aber nicht weiter diskutiert werden. Jedoch entstehen Gewaltakte nicht plötzlich, die Gewaltkarrieren werden von der Entwicklung der Jugendli- chen und ihrem Lebensweg beeinflusst. Das Gewaltproblem entsteht nicht erst im jugendlichen Alter, sondern die entscheidenden Einflüsse treten bereits in der frühen Kindheit oder durch die familiäre Situation auf. Alkohol und Drogen sowie Arbeitslosigkeit oder die nicht vorhandene Fähigkeit, einer Beschäftigung nachzugehen, sind nur einige Faktoren, die eine durch das Elternhaus bedingte Gewaltkarriere begünstigen, es treten aber auch Jugendliche mit völlig normaler Lebensführung kriminell auf.

Bei der Strafverfolgung ist die Bemessung des Strafmaßes das entscheidende Mittel, auf die Täter Einfluss zu nehmen, dabei wäre eine schnelle Reaktion nach der Tat notwendig, die aber durch die bürokratischen Hürden verwehrt wird. In den Trainingsmaßnahmen wird dagegen auf eine zeitnahe Reaktion auf unerwünschte Verhaltensweisen geachtet, um eine sinnvolle erzieherische Wirkung zu erzielen.

Politische Amtsträger fordern zum einen mehr Unterbringungsmöglichkeiten für jugendliche Straftäter. Bei dieser Maßnahme werden aber keine Gewaltkarrieren beendet, sondern durch die Konzentrierung von Tätern nur weiter begünstigt, wenn nicht sogar gefördert.

Auch sind härtere Strafen nur bedingt förderlich, denn der Jugendliche sieht sich bei einer angemessenen Strafe meist als Opfer des Systems und versucht, gegen dieses weiter anzutreten.

Bei der Umsetzung von angeordneten Maßnahmen fehlen mittlerweile trotz gegenteiliger Bemühungen der politischen Stellen auch finanzielle Mittel, um die Umsetzung sicherstellen zu können.

Die Gewalt von Heranwachsenden wird in der der Gesellschaft zwar mit einem hohen Stellenwert behandelt, verliert aber von Fall zu Fall das Interesse der Menschen, die nicht direkt von der Tat betroffen sind. Diskussionen wie im Fall Dominik Brunner, durch welche Einwirkung er letztendlich gestorben ist, entkri- minalisieren zudem die Täterschaft und machen die Jugendgewalt zu einem Problem, das dann nicht mehr bei den Jugendlichen ihren Ursprung hat, son- dern andere Auslöser, die zu der Tat geführt haben. Der Einfluss von Alkohol und Drogen wird juristisch immer noch als strafmildernd angerechnet, jedoch entscheidet sich der Jugendliche bereits mit der Einnahme der Substanzen da- zu, seine Kontrolle teilweise abzugeben und auf äußere (Gewalt-)Auslöser zu warten.

Auffällig ist, dass die Einnahme von Alkohol in der Öffentlichkeit häufiger zu Gewalttaten führt als in einer geschlossenen Gesellschaft. In der Öffentlichkeit kommt es viel eher zu Spannungen durch Übermut oder Kleinigkeiten, die zum Ausbruch von aufgestauten Aggressionen führen.

Wie die Jugendgewalt in Zukunft in der Politik behandelt wird, bleibt abzuwar- ten. Jedoch wächst die Dringlichkeit, sich mit diesem Thema intensiv zu befas sen, damit die Brutalisierung nicht weiter zunimmt. Welche Tendenzen es zahlenmäßig gibt, wird im weiteren Verlauf durch eine komprimierte Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2009 erläutert.

2. Aktuelle Zahlen zur Jugendgewalt

Der im Mai 2010 erschienene Bericht zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2009 verspricht eine positive Veränderung der Gewalt, die von Jugendlichen verur- sacht wird und strafrechtlich relevant ist. Bei der Statistik, die auf einer bundes- weiten Basis entwickelt worden ist, ist zu beachten, dass sie das Hellfeld be- trachtet. Dabei können die Zahlen des Dunkelfeldes nicht berücksichtigt wer- den. Die Dunkelfeldforschung bestätigt aber die positive Entwicklung in der Kriminalstatistik. Die Zahl der Tatverdächtigen unter den Jugendlichen und Heranwachsenden geht deutlich zurück. Insgesamt wurden 12.049 weniger Tatverdächtige als 2008 registriert, die Zahl lag 2009 bundesweit bei 476.549 (vgl. PKS 2009, 2010). Die Polizeiliche Kriminalstatistik bestätigt ebenfalls den Rückgang der Gewaltkriminalität, weist aber auch darauf hin, dass der Anstieg bis 2007 „auf ein insgesamt gestiegenes Gewaltpotenzial in Teilen der Gesell- schaft und zum anderen auf ein durch polizeiliche Sensibilisierung erhöhtes Anzeigeverhalten der Bevölkerung sowie eine Intensivierung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit zurückgeführt“ (PKS 2009, 2010, S. 8) werden kann. Dies bedeutet, dass die Abnahme der registrierten Gewaltkriminalität kein Beweis für einen tatsächlichen Rückgang der Straftaten ist. Die Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld verschiebt sich fortwährend.

Jugendliche wurden in Verbindung mit Gewalttaten 2009 248.702-mal regis- triert, davon zählten 31.935 Jugendliche zum Kreis der Täter mit gefährlicher oder schwerer Körperverletzung, was einen Rückgang um 3.311 bedeutet (ebd.). „Ob dieser […] Rückgang der Fallzahlen im Hellfeld der Kriminalität eine Trendwende im Hinblick auf eine gesunkene Gewaltbereitschaft Jugendlicher indiziert, kann nicht abschließend beurteilt werden“ (PKS 2009, 2010, S. 11). Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die Aggressivität insgesamt sinkt.

Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil in der Öffentlichkeit liegt der Anteil der tatverdächtigen Jugendlichen ohne deutsche Staatsangehörigkeit bei 17,3%, niedriger als durch die Gesellschaft angenommen. Bei der Aufgliederung auf die verschiedenen Tatarten fällt aber ein höherer Anteil nichtdeutscher Jugendlicher bei Rohheitsdelikten auf. Bedenklich ist die zunehmende Tendenz, dass die Straftaten in der Öffentlichkeit ausgeführt werden und bei den Jugendlichen zum sozial akzeptierten Lebensinhalt werden.

Bei der geschlechterspezifischen Ausübung von Straftaten übernehmen die männlichen Tatverdächtigen bei den Jugendlichen (70,9%) und Heranwach- senden (78,1%) mit über zwei Dritteln den Großteil gegenüber den weiblichen Tatverdächtigen. Die Jugendlichen (11,4%) und Heranwachsenden (10,4%) bilden zusammen mit den Kindern (4,4%) knapp ein Viertel (26,2%) der Tatver- dächtigen gegenüber den Erwachsenen (73,8%) (vgl. PKS 2009, 2010, S. 28).

Ob die Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen und Heranwachsenden wirklich sinkt, bleibt ein subjektiv einzuschätzender Faktor. Hell- und Dunkelfeld verschieben sich fortwährend, jedoch erregen die „öffentlichkeitswirksamen“ Taten die Aufmerksamkeit der Gesellschaft und lassen die Vermutung entstehen, dass zwar die absoluten Zahlen sinken, aber die Schwere und Aggressivität der einzelnen Taten stark zunimmt.

Teil B

1. Aggressions- und Gewalttheorien

Die Frage nach der Definition von Gewalt und Aggression stellt sich schon sehr lange. In dieser Arbeit spielt vor allem die Gewalt und Aggression eine Rolle, die durch den Übertritt zur Straffälligkeit bestimmt wird, die also als sozial illegal etikettiert wird. Die strukturellen Gewaltformen des Staates oder anderer Institutionen stehen dabei nicht im Zusammenhang mit dieser Arbeit. Genauso ist für diese Arbeit die Abgrenzung der Begriffe Gewalt und Aggression nicht relevant, da die Trainingsmaßnahmen sich an bereits straffällig gewordene Jugendliche richten, deren Straftaten durch ihr aggressives Verhalten und die damit verbundene Gewaltausübung verursacht wurden.

Bierhoff/Wagner haben 1998 versucht, die Definition von Gewalt umfassend einzugrenzen. Sie führen vier teilweise sehr unterschiedlich ausgeprägte Definitionen an (Bierhoff & Wagner, 1998).

So hat Buss 1961 Gewalt als „a response that delivers noxious stimuli to another organism“ bezeichnet. Er stellte seine Definition auf eine rein verhal- tenstheoretische Basis. Aggression und Gewalt hat er auf einer physischen Ebene definiert, in der auch die Hilfshandlung des Zahnarztes „gegen“ den Pa- tienten als Gewalt definiert wird (vgl. Bierhoff & Wagner 1998). Diese Erklärung schließt demnach jede Handlung ein, die bei einem anderen Individuum eine unangenehme Reaktion auslöst.

Bereits 1939 hatten Dollard u.a. Aggression als „eine Verhaltenssequenz, deren Zielreaktion die Verletzung einer Person ist, gegen die sie gerichtet ist“ definiert. Diese Definition besagt, dass die Aktion zielgerichtet und mit Absicht ausgeführt werden muss. Nach Werbik und Munzert (1978) muss eine absichtliche Schädigung vorhanden sein (vgl. ebd.).

Zillmann erweitert diese Definition 1979 um die Seite des Opfers, dass das Ziel haben muss, die Schädigung durch die handelnde Person abzuwehren, bei einem Einverständnis durch das „Opfer“ ist es demnach keine Gewalt oder aggressive Handlung (vgl. ebd.).

Die Definition von Bandura (1979) ist auf das soziale System bezogen, in dem die Gewalt ausgelebt wird: „… schädigendes und destruktives Verhalten cha- rakterisiert, das im sozialen Bereich auf der Grundlage einer Reihe von Fakto- ren als aggressiv definiert wird, von denen einige eher beim Beurteiler als beim Handelnden liegen“. Je nach Bezugssystem wird Aggression und Gewalt sehr unterschiedlich beurteilt, ein Boxkampf ist zum Beispiel sozial anerkannt, eine Schlägerei ist in dem dazugehörigen Bezugssystem unter Umständen aber auch anerkannt (vgl. ebd.).

Diese unterschiedlichen Definitionen verdeutlichen die verschiedenen Sichtwei- sen, mit denen aggressives Verhalten in der Gesellschaft gesehen werden kann. Es kristallisiert sich eine Definition heraus, die als Grundlage für diese Arbeit gelten soll:

Gewalt ist eine psychische oder physische Handlung gegen den Willen des anderen oder in der Absicht, dem anderen Schaden zuzufügen, dann auch bei eigentlicher Zustimmung des anderen.

In dieser Definition wird auch die psychische Ebene hinzugefügt, denn Gewalt in psychischer Form ist ein Bestandteil der jugendlichen Gewalt, die in dieser Arbeit behandelt wird.

Für Gewalt existiert immer ein Grund, auch wenn auf den ersten Blick das aggressive Verhalten ohne Auslöser zu entstehen scheint. Als Grund wird meist eine Provokation angegeben, die vom vermeintlichen Opfer verursacht wurde. Bereits Freud hat dazu die Grundtriebe Eros und Thanatos angegeben. Entweder will der Mensch etwas haben und es gibt ein Hindernis, welches er zu eliminieren versucht, oder er versucht, die Gewalt von sich wegzulenken und damit gegen andere zu richten (vgl. ebd.).

Woher die dissozialen Verhaltensweisen bei den Jugendlichen und Heranwachsenden kommen, die sie zur Zielgruppe der Trainingsmaßnahmen werden lassen, soll im Folgenden näher bestimmt werden.

Die Forschung sieht die Verhaltensweisen der Trainingsteilnehmer als Störung in ihrer Entwicklung. Petermann u.a. (Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001, S.

1) unterscheiden zunächst oppositionelles, aggressives und delinquentes Ver- halten und differenzieren so das Verhalten aus unterschiedlichen Sichtweisen. So richtet sich das oppositionelle Verhalten als eine Trotzreaktion gegen die Erziehungsinstitution der Eltern oder der erziehenden Instanz. Dieses Verhalten wird teilweise als provokant empfunden, muss aber nicht unbedingt gewalttätige Formen annehmen, es ist vielmehr ein Auflehnen gegen eingefahrene Verhal- tensmuster auf dem Weg zur Selbständigkeit des Individuums. Das aggressive Verhalten wird als antisozial eingestuft, wenn es in dem jeweiligen Bezugssys- tem nicht den Normen entspricht. Dabei ist nicht unbedingt das selbstbewusste Auftreten gemeint, bei dem ein Jugendlicher seine Meinung vertritt und dabei eine „gesunde“ Aggressivität bewusst einsetzt, sondern die Bereitschaft über das gesunde Maß hinauszugehen und das Gegenüber zu schädigen. Diese Bereitschaft schlägt sich in der juristischen Sichtweise der Delinquenz nieder, Grenzen zu überschreiten und Straftaten zu begehen (Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001, S. 1).

Aggressives Verhalten unterscheidet sich in seinen Ausdrucksformen (vgl. ebd., S. 1 ff.). Petermann u.a. (2001) nennen die von Vitiello und Stoff dargestellten Formen „feindselig versus instrumentell, offen versus verdeckt, reaktiv versus aktiv, affektiv versus ‚räuberisch‘“ und fügen „körperlich versus indirekt aggressiv“ hinzu (ebd., S. 1-2) (s. Tabelle auf S. 12). Die dimensionale Unterscheidung von aggressivem Verhalten ermöglicht eine differenzierte Perspektive auf die Verhaltensmuster der Trainingszielgruppe.

Die Ausdrucksformen treten in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht auf. So bevorzugen Mädchen eher indirekte Formen und Jungen direkte Gewaltformen (vgl. ebd., S. 2). Die für diese Arbeit interessante Ausdrucksform des aggressiv- dissozialen Verhaltens tritt bereits in der frühen Kindheit auf. Es entwickelt sich je nach Einfluss der Umgebung ein gefestigtes Verhaltensmuster, das durch regelmäßige Übertretungen von grundlegenden Rechten geprägt ist. Das ag- gressive Verhalten wird von den Jugendlichen und Heranwachsenden zuneh mend als Möglichkeit der Lebensbewältigung gesehen, wenn ihnen in ihrer Entwicklung keine Alternativen aufgezeigt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Verschiedene Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens (Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001, S. 3).

Die WHO klassifiziert sechs Typen der Störungen des Sozialverhaltens nach ICD-10 (vgl. ebd., S. 5-6):

1. Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens (F91.0)

Das Verhalten ist auf den familiären oder häuslichen Bereich beschränkt und richtet sich ausschließlich gegen Familienangehörige, es übersteigt aber bereits normales Trotzverhalten.

2. Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)

Das normale Trotzverhalten wird im sozialen Umfeld überschritten und das Individuum zeigt aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, das außerhalb von sozialen Normen liegt und stört somit die soziale Bindungsfä- higkeit.

3. Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2)

Das aggressive Verhalten wird von dem Beziehungssystem akzeptiert, übersteigt aber gesellschaftliche Normen und äußert sich in andauerndem delinquentem Verhalten.

4. Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigen Verhalten (F91.3)

Trotzverhalten kombiniert das Individuum mit delinquentem und aggressivem Verhalten.

5. Andere bzw. nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens (F91.8/F91.9)

Symptome für eine Störung sind erfüllt, es ist aber keine definierte Zuordnung möglich.

6. Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92)

Das gestörte Sozialverhalten tritt in Verbindung mit einer Emotionsstörung auf (z.B. Zwangsgedanken oder Depressionen), die wiederum von anderen Faktoren ausgelöst und beeinflusst werden können.

Die Unterscheidung der Störungen ist für die Behandlung von Straftätern insofern wichtig, um die Gründe für das dissoziale Verhalten zu entdecken und in den Trainingssitzungen gezielt die Entstehungspunkte anzusprechen.

Die Gründe für diese Störungen sind sehr vielfältig und liegen zum Teil bereits in der frühen Kindheit. Wenn diese Störungen auftreten und diesen nicht richtig begegnet wird, begünstigt dies die Entwicklung von Folgestörungen. Diese frü hen Störungen werden im weiteren Verlauf nach Petermann u.a. (Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001, S. 15 ff.) dargestellt. Petermann katalogisiert die Ein- flüsse in biologische, psychische und soziale Faktoren, demnach liegen biologi- sche Einflüsse bereits im pränatalen und frühen Säuglingsalter. Dazu zählen unter anderem auch Komplikationen in der Schwangerschaft oder bei der Ge- burt, durch die der Aufbau von neuronalen Verknüpfungen beeinflusst werden kann und dies wiederum zu verändertem Lernverhalten führen könnte (vgl. ebd., nach Greenough & Black 1992). Petermann u.a. (2001) fügen als Ein- flussfaktor das Verhalten während der Schwangerschaft mit an, dabei ist der Konsum von Nikotin und Alkohol das häufigste Merkmal. Mehreren Studien zu- folge schädigt ein hoher CO-Wert Regionen im Gehirn, die für das Lernverhal- ten verantwortlich sind, und es besteht eine signifikante Korrelation zwischen pränatalem Alkoholkonsum der Mutter und späteren kognitiven Störungen des Kindes (vgl. Petermann, Döpfner & Schmidt, 2001., S. 18). Ob diese Einflüsse sich direkt in den sozialen Fähigkeiten auswirken, ist aber nicht abschließend zu beurteilen, da bisher keine abschließenden sicheren Verbindungen bewie- sen wurden.

Psychische Einflüsse wirken sich ebenfalls schon sehr früh aus und ziehen sich bis ins spätere Alter hindurch. Petermann u.a. (2001) stellen einen direkten Zu- sammenhang zwischen niedriger Intelligenz und Aggressivität her. Das Intelli- genzniveau wirkt sich wiederum direkt auf das Lernverhalten und die damit ein- hergehenden sozialen Kommunikationsmöglichkeiten aus. Die Aggressivität schafft für die Heranwachsenden einen Ausgleich der Selbstregulierung. Diese sozial nicht anerkannte Regulierung lässt auf eine fehlende Kontrolle des Ju- gendlichen in der eigenen Person schließen, welcher sein Ventil in der Gewalt- ausübung findet. Demnach kann ein sozial anerkanntes Verhalten nur dann entstehen, wenn eine ausreichende Emotions- und Impulskontrolle existiert (vgl. Petermann u.a. 2001, S. 20). Das Fehlen dieser Kontrollinstanzen begünstigt aggressives Verhalten. Dies führt zu einer verzerrten sozial-kognitiven Informa- tionsverarbeitung (vgl. ebd., nach Dodge & Schwartz 1997). Die verzerrte Ver- arbeitung führt dazu, dass nicht alle Informationen korrekt registriert werden können und der Jugendliche eher Reize aufnimmt, die Provokation verspre chen, „sie glauben, dass Aggression zu Anerkennung, einem höheren Selbstwertgefühl sowie positiven Gefühlen führt und die unangenehmen Konsequenzen in Konflikten reduziert“ (Petermann 2001, S. 21).

Das Bindungsverhalten beeinflusst die spätere Fähigkeit, sich emotional an Personen zu binden beziehungsweise eine Beziehung aufzubauen. Wenn be- reits im Säuglings- oder Kindesalter eine unsichere Bindung vorhanden war, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Individuum im Jugendalter keine belastbare Bindung aufbauen kann. Petermann u.a. (2001) nennen dies eine erpresse- risch-eskalierende Bindung. Das bedeutet, dass das Kind oder der Jugendliche nicht zu Kompromissen bereit ist oder später für mögliche Vergünstigungen keine Zugeständnisse machen wird. Durch infantiles Verhalten versucht der Jugendliche zum Beispiel das Mitgefühl der Eltern zu wecken oder er schiebt die Verantwortung durch Schuldzuweisungen auf die Eltern, die, wenn sie nicht auf solch eine Situation zu reagieren wissen, ebenfalls eskalierend wirken kön- nen. Die fehlende Erziehungskompetenz der Eltern ist demnach ein sehr star- ker Faktor bei der Suche nach den Ursachen und nach den Gründen der Ag- gression. So umreißen Petermann u.a. (2001, S. 23) aggressionsfördernde Faktoren von elterlichen Erziehungszielen in vier Punkten. Das Maß der sozia- len Regeln stimmt nicht, die Überwachung der Regeln ist inkonsequent, die El- tern leben selbst einen aggressiven Erziehungsstil vor und durch die falschen Reaktionen der Eltern werden die Jugendlichen in ihrer Aggressivität bestätigt und sogar teilweise voll akzeptiert. Zudem treten in der Gesellschaft unzu- reichende Elternkompetenz und ein erhöhtes Aggressionspotenzial von Kindern und Jugendlichen gemeinsam auf, daher ist anzunehmen, dass hier ein direkter Zusammenhang besteht.

Ebenso ist aber der Einfluss von Gleichaltrigen nicht zu vernachlässigen. Die Entwicklung des Kindes und Jugendlichen wird immer mehr von dessen sozialen Kontakten beeinflusst. Durch gruppendynamische Prozesse und den Druck, den eine Gruppe ausüben kann, wird das Kind oder der Jugendliche stark in seinem Verhalten beeinflusst.

[...]

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Details

Titel
Konfrontation vs. Akzeptanz
Untertitel
Ein kriterienorientierter Vergleich von zwei Antigewalttrainings im tertiären Präventionssektor
Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg  (Sozialpädagogik)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
67
Katalognummer
V162953
ISBN (eBook)
9783640777990
ISBN (Buch)
9783640778225
Dateigröße
713 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antigewalttraining, AKT, AAT, Vergleich
Arbeit zitieren
Joergen Timm (Autor:in), 2010, Konfrontation vs. Akzeptanz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162953

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