Das Schlagwort ‚Kollektive Intelligenz‘ erreicht in letzter Zeit in verschiedenen Medien vermehrt eine gewisse Popularität. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, die Entstehung und die Relevanz kollektiver Intelligenz in Unternehmen durch eine umfangreiche interdisziplinäre Literaturrecherche zu untersuchen.
Gleichzeitig sollte ein Überblick über den Stand der empirischen Forschung gewonnen werden. Die Analyse schafft Klarheit bezüglich der Definitionsvielfalt, differenziert in Bezug auf den hier vorliegenden Unternehmenskontext verwandte Unterbegriffe kollektiver Intelligenz und arbeitet einflussreiche theoretische Grundlagen der System- und Selbstorganisationstheorie heraus. Dabei wurde der Eindruck gewonnen, dass kollektive Intelligenz ein altes Phänomen ist, welches nun in Wissenschaft und Wirtschaft vermehrt neue Beachtung findet. Notwendige und hinreichende Rahmenbedingungen, welche ein Unternehmen zur Förderung von kollektiver Intelligenz schaffen kann, werden aufgezeigt und das sogenannte „Genom-Konzept“ wird vorgestellt. Im Verlauf wurde deutlich, dass die ausgewählten praxisorientierten Methoden kollektiver Intelligenz für die Lösung unternehmensspezifischer Fragestellungen trotz teilweise berechtigter Kritik praktikabel einsetzbar sind. Es wurde dargelegt, welche Problemstellungen im Unternehmen mit den vorliegenden Methoden bearbeitet werden können.
Durch die Nutzung kollektiver Intelligenz kann sowohl ein Mehrwehrt für den einzelnen Mitarbeiter als auch für Unternehmensabteilungen oder die gesamte Firma entstehen. Diese Untersuchung liefert einen Beitrag zum Verständnis kollektiver Intelligenz und zur Weiterentwicklung eines vollständigen Konzeptes für den Unternehmenskontext.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Problemstellung
2. Grundlagen kollektiver Intelligenz
2.1 Von individueller zu kollektiver Intelligenz
2.2 Differenzierung spezifischer Unterbegriffe kollektiver Intelligenz
2.3 Klassifizierung nach Problemarten
2.4 Theoretische Grundlagen
2.5 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen
3. Entstehungsbedingungen kollektiver Intelligenz
3.1 Das Genom-Konzept
3.2 Bedingungen im Unternehmen
3.2.1 Organisationsstruktur und Führungsverständnis
3.2.2 Unternehmensleitbild
3.2.3 Kommunikation
3.2.4 Anreizsetzung und Motivation
3.2.5 Diversität
3.2.6 Gruppenarbeit
3.3 Zusammenfassung der Bedingungsanalyse
4. Kollektive Intelligenz in der Unternehmenspraxis
4.1 Einsatz von Organisationsaufstellungen zur Analyse von Strukturen, Beziehungen und Problemen
4.1.1 Ursprünge und Definition
4.1.2 Einsatzmöglichkeiten und Arten
4.1.3 Methodik und Ablauf
4.1.4 Zum Wissenschaftlichkeitsproblem in der theoretischen Analyse
4.1.5 Kritische Betrachtung
4.2 Einsatz von Großgruppenmethoden zur Förderung von kreativem Potenzial und Veränderungsprozessen
4.2.1 Ursprünge und Definition
4.2.2 Anwendungsgebiete
4.2.3 Methodik bewährter Großgruppenmethoden
4.2.4 nextmoderator® - Ein Methodenmix aus Präsenz und Virtualität
4.2.5 Kritische Betrachtung
4.3 Einsatz von Prognosemärkten für Vorhersagen im unternehmerischen Umfeld
4.3.1 Ursprünge und Definition
4.3.2 Anwendungsgebiete
4.3.3 Methodik
4.3.4 Kritische Betrachtung
4.4 Zusammenfassung der Methoden in der Unternehmenspraxis
5. Schlussbetrachtung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 – Unterscheidungsmerkmale kollektiver Intelligenz
Abbildung 2 – Klassifizierung kollektiver Intelligenz nach Problemarten
Abbildung 3 – Visualisierung einer OA im Zeitpunkt und
Abbildung 4 – Ursprünge der Großgruppenmoderation
Abbildung 5 – Häufigkeitsverteilung einzelner Großgruppenmethoden
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 – Bausteine des Genom-Konzepts kollektiver Intelligenz
Tabelle 2 – Aufgabenarten und Folgerungen für das Gruppenpotenzial
Tabelle 3 – Anwendungsgebiete für OA nach Unternehmensebenen
Tabelle 4 – Bewährte Großgruppenformate in der Übersicht
Tabelle 5 – Betriebswirtschaftliche Prognosevariablen
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Problemstellung
Innerhalb der letzten 150 Jahre entwickelte sich die westliche Gesellschaft in Richtung Individualisierung, Dezentralisierung und Pluralisierung. Ziel war es, ein Maximum an Möglichkeiten zu erreichen, das Leben selbst zu gestalten und alle Gelegenheiten zu nutzen. „Multioptionalität war gleichbedeutend mit Freiheit und Zukunftsperspektiven“ (Ullrich, Wenger, 2008, S. 23). Bestand früher umstandsbedingt automatisch eine große Vernetzungsdichte innerhalb von Familien, so suchte der Mensch bald nach Abnabelung und Eigenständigkeit. Dieses Streben nach Individualität hat in vielen Bereichen seinen Höhepunkt erreicht und für die Zukunft wird bei fortdauernder Individualisierung eine Rückbesinnung auf das ‚Wir‘ erwartet. Demzufolge erlebt unsere Gesellschaft derzeit einen Paradigmenwechsel im Sinne einer Abkehr vom Geniekult um zentralisierte Expertenintelligenz hin zu kollektiver, gemeinschaftlicher Intelligenz und Problemlösefähigkeit (vgl. Ulkan et al., 2007, S. 2). Hatte Thomas Edison die Glühbirne noch still und leise alleine entwickelt, so benötigt beispielsweise die Weltraumfahrt die Zusammenarbeit mehrerer tausend Menschen. Unsere Gesellschaft wird sich dieses mächtigen Gruppenpotenzials sukzessive bewusst.
Angesichts der technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre ist zu bemerken, dass die Intelligenz des Einzelnen oft nicht mehr ausreicht, um unter der gegebenen Vielfalt, der Komplexität, dem Überfluss an Informationen und der rapiden Änderungsgeschwindigkeit der Umwelt rechtzeitig allumfassende Entscheidungen zu treffen. Globalisierung wird durch herausragende Informationstechnik vorangetrieben und führt zu einer stark zunehmenden Vernetzungsdichte und zu einer Steigerung des Leistungs- und Innovationsdrucks aller Beteiligten. Immer wichtiger erscheint es deswegen, die Erfahrungen und das Wissen möglichst vieler Individuen in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen, mit anderen Worten, kollektive Intelligenz (KI[1] ) zu nutzen. Unternehmen haben den Zweck, Ziele zu erreichen, die Einzelpersonen oder Maschinen nicht erreichen können. Daher liegt die Nutzung von KI speziell hier nahe. „Je besser es Gruppen von Menschen gelingt, sich als intelligente Kollektive zu formieren, als offene kognitive Subjekte, die Initiativen setzen, sich ihrer Phantasie bedienen und schnell reagieren, desto erfolgreicher werden sie in einer durch Konkurrenz geprägten Umwelt wie der unsrigen sein“ (Lévy, 1997, S. 17). Unternehmen, die dieses Potenzial erkennen und nutzen, erhalten folglich einen Wettbewerbsvorteil.
Was genau verbirgt sich hinter dem angeblich neuen Phänomen der KI? Und was steckt hinter ähnlich populären Begriffen wie ‚Schwarmintelligenz‘, ‚Crowd Sourcing‘ oder ‚Weisheit der Massen‘?
In der Realität finden sich scheinbar zahllose Beispiele. Ein perfekt organisierter Bienenstock gleicht einem Superorganismus. Durch einfache Regeln bez. Arbeitsteilung, Nachwuchs, Nahrungssuche und Klimaregulation funktioniert das Zusammen- und Überleben von 50 000 Bienen pro Schwarm auf effiziente und geordnete Weise. Das Unternehmen Google verbindet das kollektive Wissen von Millionen von Menschen mit ausgeklügelten Algorithmen und hochentwickelter Technologie, um erstaunlich akkurate Suchergebnisse hervorzuzaubern. Anhand der Online-Enzyklopädie Wikipedia konnte verfolgt werden, wie Menschen jeder Schicht, jeden Alters und jedes Intellekts freiwillig und ohne Bezahlung dazu beitrugen, eine einzigartige kollektive Wissensbasis zu schaffen. Ein viel zitiertes Lehrstück ist auch das Ochsenbeispiel des britischen Gelehrten Francis Galton, bei dem das Gewicht eines Ochsen durch die Masse der Besucher besser geschätzt wurde als durch einzelne Experten. Bei Wer wird Millionär? gilt der Publikumsjoker schon lange als das sicherste Mittel zur richtigen Antwort. Prognosemärkte konnten das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 schließlich besser vorhersagen als die meisten Meinungsforschungsinstitute.
Diese medienwirksamen Entwicklungen einerseits, aber auch Forschung aus dem Bereich der Naturwissenschaften bezüglich Schwarmintelligenz sind der Grund, warum sich Unternehmen vermehrt für KI interessieren und es stellt sich die Frage, ob und wie dieses vermeintliche Potenzial genutzt werden kann.
Im Rahmen dieser Untersuchung wird der Forschungsfrage nachgegangen, unter welchen Bedingungen KI entstehen kann und welche Relevanz dieses Konzept im Unternehmenskontext hat. Ziel dieser Arbeit ist es, auf der Basis entsprechender Theorien und unter Berücksichtigung der nötigen Rahmenbedingungen einen Überblick über die verschiedenen aktuellen Anwendungsgebiete kollektiver Intelligenz im Unternehmen zu geben und darzulegen, welche Methoden in der Praxis eingesetzt werden können. Hierzu wird die bestehende Literatur zum Thema KI und zu interdisziplinär angrenzenden Gebieten eingehend analysiert und mit praxisnahen Beispielen aufbereitet.
Zu Beginn wird erörtert, was unter KI zu verstehen ist und wie diese mit individueller Intelligenz zusammenhängt. Danach wird geklärt, welche spezifischen Unterbegriffe von KI in Bezug auf den hier vorliegenden Unternehmenskontext abgegrenzt werden sollen. Anschließend wird der theoretische Ursprung von KI analysiert, wobei insbesondere die Ansätze der Systemtheorie, der Kybernetik und der Selbstorganisationstheorie zielführend dargestellt werden.
Im Weiteren werden die Entstehungsbedingungen kollektiver Intelligenz unter expliziter Schwerpunktsetzung untersucht. Dazu wird zunächst ein Konzept vorgestellt, mit dem ein kollektives Intelligenzsystem systematisch entworfen werden kann. Anschließend werden beeinflussende Faktoren von KI wie die Unternehmensstruktur, das Führungsverständnis und das vorherrschende Unternehmensleitbild beleuchtet. Darüber hinaus sind auch das Kommunikationsverhalten, die Anreizgestaltung bzw. Motivation der Mitarbeiter und das richtige Maß an Diversität wichtige Stellschrauben. Abschließend wird auf den Faktor Gruppenarbeit eingegangen und dessen Vor- bzw. Nachteile gegenüber Individualleistungen werden untersucht.
Im Fokus der Arbeit stehen die Anwendung und die Methoden von KI in Unternehmen. Aufbauend auf die zuvor entwickelten Theorien soll deutlich werden, wie und warum Praktiken kollektiver Intelligenz funktionieren. Dabei werden die Methodik der Organisationsaufstellung, bewährte Großgruppenverfahren und das Instrument der Prognosemärkte näher untersucht.
In der Schlussbetrachtung erfolgen eine Zusammenfassung der Ergebnisse und eine kritische Auseinandersetzung mit dem KI-Konzept. Nach einem Resümee wird ein Ausblick auf die mögliche zukünftige Forschung präsentiert.
2. Grundlagen kollektiver Intelligenz
KI ist ein Phänomen, welches von erstaunlicher Unschärfe geprägt ist. Die Perspektive der KI kann in vielen verschiedenen Bereichen in unterschiedlichen Wissenschaften angewendet werden. Aufbauend auf begrifflichen Grundlagen sollen nach der Darstellung verschiedener Definitionsansätze eine Arbeitsdefinition festgelegt und bestimmte Unterbegriffe abgegrenzt werden. Anschließend werden theoretische Grundlagen von KI betrachtet.
2.1 Von individueller zu kollektiver Intelligenz
Im Allgemeinen wird individuelle Intelligenz in der Psychologie wie folgt beschrieben: „Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewußt [sic] auf neue Forderungen einzustellen; sie ist die allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“ (Stern, 1912, S. 3). Durch sie werden anschauliche sowie abstrakte Beziehungen erfasst, hergestellt und gedeutet, wodurch neuartige Situationen gegebenenfalls durch problemlösendes Verhalten bewältigt werden können. Dabei ist Intelligenz immer individuelles Konstrukt und Merkmal der menschlichen Persönlichkeit, da sie über persönliche Denkstrukturen, Interpretationsmuster, Werthaltungen und die eigene Lebenskultur an den Menschen selbst gebunden und durch Erfahrungen und biologische Voraussetzungen geprägt ist. Man kann sie nur über beobachtbares Verhalten messen und muss sie in Beziehung zum Verhalten Dritter und zur jeweiligen Umwelt setzen (vgl. Roth, 1998, S. 10ff.). Die individuelle Intelligenz hat durch die bisherige, empirisch gut belegte Forschung einen hohen Stellenwert in der Psychologie. Wurden früher ausschließlich kognitive Fähigkeiten bei der Intelligenzbeurteilung beachtet, so haben heute vermehrt auch nicht-kognitive Facetten wie z.B. emotionale oder soziale Intelligenz an Bedeutung gewonnen. Für diese Intelligenzbereiche gibt es jedoch noch keine einheitlichen Definitionen und keine empirisch gültigen Messverfahren. Welche Bedingungen intelligentem Verhalten zu Grunde liegen, lässt sich zusammenfassen „als die Interaktion zwischen den im Organismus Mensch genetisch festgelegten Informationen und den relevanten Gegebenheiten der Umwelt in einer individuellen Biographie“ (Roth, 1998, S. 11). Letztendlich ist Intelligenz ein Begriff, der bisher weder eindeutig beschrieben wurde noch problemlos zu beobachten ist (vgl. Myers, 2005, S. 459).
Laut Brockhaus (2010) ist das Verständnis eines „Kollektivs“ definiert als „eine Gruppe, in der Menschen in einer Gemeinschaft zusammenleben; Arbeitsgruppe; Team“.
Die Schlussfolgerung beider Definitionen könnte sein, dass KI die aggregierte Intelligenz von zu einer Gruppe zusammengeschlossenen Individuen ist. Diese einfache Annahme kann jedoch nicht ohne Weiteres getroffen werden. Es folgt eine Rezeption verschiedener, chronologisch geordneter Definitionen:
Nach Pierre Lévy (1997, S. 29) ist KI in Bezug auf den Cyberspace „(…) eine Intelligenz, die überall verteilt ist, sich ununterbrochen ihren Wert erschafft, in Echtzeit koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann“. Darunter versteht er, dass jeder Mensch etwas, aber niemals alles weiß, dass die Gesellschaft die individuelle Intelligenz mangelhaft nutzt, dass Kommunikation über Wissen nur mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel gelingen kann und dass man Unterschiede in Kompetenzen anerkennen muss, um dieses Potenzial zu aktivieren und den Menschen somit eine intelligente Identität geben zu können (vgl. Lévy, 1997, S. 30f.). Vorrangig ging es Lévy um die Schaffung eines (virtuellen) dynamischen Wissensraumes durch menschliche Interaktion.
Thomas Malone vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) definiert KI in umfassender Weise folgendermaßen: „ Collective intelligence is groups of individuals doing things collectively that seem intelligent ” (Malone, 2006, o.S.). Interessanterweise wird hier nicht der Outcome der Gruppenleistung als KI bezeichnet, sondern die Organisation als Gruppe an sich (vgl. Aulinger, 2009, S. 41).
James Surowiecki (2007) spricht in seinem Buch „Die Weisheit der Vielen“ von KI und meint damit letztlich das statistische Phänomen, dass das von ausreichend vielen Gruppenmitgliedern gewonnene arithmetische Mittel unter bestimmten Bedingungen (Meinungsvielfalt, Unabhängigkeit, Dezentralisierung, Aggregation) eine äußerst exakte Schätzung abgibt, die oft besser ist als die einzelne Schätzung eines Fachexperten. Seiner Meinung nach sind große Gruppen eher in der Lage, die richtige Entscheidung zu treffen als Experten, da diese Gruppen aus einer ausreichende Anzahl gut informierter Menschen bestehen und sich demnach extreme Ansichten gegenseitig neutralisieren.
Nach Segaran (2008, S. 2) geht es um „das Finden neuer Erkenntnisse über unabhängige Teilnehmer“ bzw. um „die Kombination aus Verhalten, Vorlieben und Ideen einer Gruppe von Leuten, um neue Einblicke zu erhalten.“ Er beschreibt, wie man mit modernen Kommunikationsmitteln und dem Internet Nutzerdaten sammeln, kombinieren und analysieren und diese letztlich mit Hilfe statistischer Methoden und Algorithmen nutzen kann.
Peter Kruse versteht unter KI grundlegend „(…) Selbstorganisationsprozesse, bei denen viele Personen übersummative Ordnungen bilden, ohne dass ihr Potenzial eingeschränkt wird und die gesamte Intelligenz nur in der [Anm. d. Verf.: Netzwerkverbindung] steckt“ (Kruse, 2008, S. 25) und das Phänomen, bei dem „(…) das Wissen und die Fähigkeit[en] Einzelner in Netzwerken zu einer übergeordneten Musterbildung [verknüpft werden]“ (Kruse, 2009a, S. 82). Kruse (2008, S. 26) sieht KI lediglich als moderne Variante des Begriffs Kultur, welche er als älteste Fähigkeit des Menschen bezeichnet, mit vereinter Kraft übersummative Lösungen zu erzeugen.
Im Rahmen eines Workshops der Steinbeis School of Management and Innovation (SMI) knüpften Teilnehmer aus Wissenschaft und Praxis KI an folgende Bedingungen:
Die Gruppe besitzt die Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen durch gemeinsame oder individuelle Verarbeitung von Informationen.
Diese Fähigkeit erlaubt es der Gruppe, zu besseren Ergebnissen zu gelangen, als es mit herkömmlichen Verfahren oder durch einzelne Gruppenmitglieder möglich ist. (Aulinger, 2009, S. 53)
Was bei dieser Definition als „besseres Ergebnis“ angesehen werden kann, ist im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen, denn es gibt keine festgelegten Maßstäbe oder Messverfahren.
Anhand der Vielzahl an unterschiedlichen Definitionen wird die Tragweite des KI-Konzepts bereits ansatzweise deutlich. Einige Autoren beziehen KI rein auf die durch neue Technologien ermöglichten Methoden, auf das Wissen vieler zuzugreifen. Andere wiederum halten die Definition allgemeiner und betonen die „höhere Gruppenleistung“ im Gegensatz zu einer reinen Quantität. Um weiter zwischen Konzepten von KI differenzieren zu können, sollen die Unterscheidungsmerkmale
(1) Grad der menschlichen Interaktion
(2) Zeitpunkt der Ergebnisentstehung
(3) Ausprägung der Verbundenheit der einzelnen Akteure einer Gruppe
erläutert werden. Die folgende Grafik verdeutlicht die Zusammenhänge:
Abbildung 1 – Unterscheidungsmerkmale kollektiver Intelligenz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene erweiterte Darstellung nach Aulinger (2009), S. 54ff.
Zunächst weichen die Definitionen im Grad der menschlichen Interaktion voneinander ab. Interaktion kann zum einen durch aktive Beteiligung face-to-face oder durch Verknüpfung der Individuen basierend auf modernen Kommunikationsmitteln (bewusste Interaktion) stattfinden. Keine Interaktion kann zum anderen erfolgen, indem sich die Anwender ihres Beitrags zum Endergebnis nicht bewusst sind (unbewusste Interaktion). Diese Möglichkeit wurde erst kürzlich von Google genutzt, indem es, wie bereits 2009, durch Auswertung internationaler Suchanfragen bez. der Teilnehmersongs die Gewinnerin des Eurovision Song Contests 2010 korrekt vorhersagte (Isermann, 2010). Ein weiterer Unterscheidungspunkt ist, ob das Handeln einer Gruppe unmittelbar zu KI führt (unmittelbares Ergebnis) oder ob eine externe Instanz die Einzelleistungen der Mitglieder erst in der einen oder anderen Form auswerten oder aggregieren muss (mittelbares Ergebnis). Schließlich soll noch dahingehend differenziert werden, wie stark die Individuen einer Gruppe miteinander verbunden sind. Fische beispielsweise sind sehr voneinander abhängig und (re)agieren entsprechend dem unmittelbaren Verhalten ihres Nachbarn (taktische Verbundenheit). Internetnutzer weltweit sind sich zwar der Existenz aller anderen bewusst, richten ihr direktes Verhalten jedoch nicht nach dem der anderen aus (strenge Unverbundenheit). Zu diesen beiden Extremausprägungen kommen zahlreiche Zwischenformen wie z.B. Prognosemärkte, bei denen die Akteure die Handlungen der Mitspieler beobachten können, ihr eigenes Tun aber nicht danach richten müssen (taktische Unverbundenheit) (vgl. Aulinger, 2009, S. 47ff.).
Im Rahmen dieser Arbeit soll mit der zuletzt genannten KI-Definition des SMI Spring Workshops (S. 6) in Verbindung mit den eben beschriebenen Unterscheidungsmerkmalen von Aulinger (2009) gearbeitet werden. Somit sind eine breite Auslegung des KI-Konzepts und eine deutliche Abgrenzung zwischen KI-Varianten möglich. Dies ist vorteilhaft, da letztlich alle Phänomene oder Verfahren von KI für Unternehmen von Nutzen sein können, wenn sie richtig und an geeigneter Stelle angewendet werden. Hier werden nur ausgewählte Anwendungsgebiete und Methoden näher dargestellt, welche eine direkte und bewusste Beteiligung der Mitarbeiter eines Unternehmens erfordern.
Es bleibt festzuhalten, dass „[k]ollektive Intelligenz (...) ausdrücklich nicht die Summe der individuellen Intelligenzen [ist]“ (Ernst, 2005, S. 27). Sie spiegelt die Leistung einer Gruppe von Personen wider, welche keines der einzelnen Mitglieder alleine hätte erbringen können, und ist deshalb nicht bloße Aggregation, sondern emergentes Phänomen, welches dem Prinzip der Übersummativität folgt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile (vgl. Kruse, 2008, S. 25). Insofern sind nicht nur die direkt beobachtbaren isolierten Objekte Bestandteile eines Systems, sondern auch ihre Beziehungen, Wechselwirkungen oder Interaktionen. KI kann sich dabei innerhalb eines Unternehmens auf ein kleines oder großes Team, die gesamte Organisation oder auch auf die Kunden beziehen. „Die individuelle Intelligenz ist dabei Teilmenge und notwendige wie hinreichende Bedingung für die Entstehung kollektiver Intelligenz (…)“ (Huber, 2010). Wie eingangs erläutert, bleibt die individuelle Intelligenz immer an den einzelnen Menschen gebunden. KI hingegen existiert nie ohne Menschen[2], kann aber „zumindest teilweise unabhängig von bestimmten Personen sein“ (Risku, Pircher, 2004, S. 1). Vergleicht man die Neuronen eines Gehirns mit den Mitgliedern einer Gruppe, so gilt: „Je umfassender und intensiver die Teile eines Systems miteinander vernetzt sind und kommunizieren (…), desto höher, d.h. komplexer ist die Intelligenz“ (Wiesmann, 2007). Gelingt es einer Gruppe, gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen und bessere Ergebnisse als mit herkömmlichen Verfahren oder durch Einzelne zu erzielen, so sprechen wir im Folgenden von KI.
2.2 Differenzierung spezifischer Unterbegriffe kollektiver Intelligenz
Unter dem Deckmantel der KI verstecken sich auch Begriffe und Schlagworte wie z.B. „Schwarmintelligenz“, „Crowd Sourcing“ oder „Die Weisheit der Masse“. Wie bereits angedeutet wurde, sind diese Phänomene ebenfalls KI zuzuschreiben. Teilweise müssen sie allerdings etwas differenzierter betrachtet werden, da sie mitunter spezifischen Annahmen unterliegen. Im Folgenden werden im Hinblick auf die Verdeutlichung der Einsatzbreite von KI die wichtigsten Unterbegriffe von KI erläutert.
Schwarmintelligenz ist eine schwache Variante von KI und bezeichnet eine große Gruppe von einfach strukturierten Organismen wie z.B. Fischen, Vögeln, Bienen oder Ameisen, „welche mittels direkter und indirekter Kommunikation [z.B. Pheromone, Schwänzeltanz] ohne zentrale Lenkung koordiniert miteinander reagieren (…)“ (Remer, Lux, 2009, S. 69). Dieses Phänomen wird seit längerem in den Naturwissenschaften erforscht. Durch die konsequente Befolgung einfacher Regeln und lokale Informationsaufnahme erzeugen Interaktionen ein auf globaler Ebene intelligentes und sehr effizientes Verhalten, wodurch hoch komplexe Aufgaben gemeistert werden können. Die einzelnen, taktisch verbundenen Tiere haben jedoch weder einen Gesamtüberblick noch sind sie in der Lage, eigenständig entscheidungswirksam zu handeln (vgl. Lévy, 1997, S. 32). Überwiegend führt Schwarmintelligenz, welche letztlich dem Handeln nach Instinkt zu Grunde liegt (vgl. Aulinger, 2009, S. 43), zu überlebenswichtigem Verhalten (Schutz vor Bedrohungen, Auffinden der nächsten Futterquelle). Dabei beeinflusst das jeweilige Problem situativ, wer mit wem zusammenarbeitet, da nicht alle Mitglieder feste Aufgaben haben (vgl. Neef, Burmeister, 2005, S. 568).
Aufbauend auf den Naturwissenschaften entstand die Idee, die Prinzipien der Dezentralisierung und Selbstorganisation auf menschliche Probleme einer zunehmend dynamischen Umwelt zu übertragen. Über diesen Einfluss fand der Bereich der Informatik in Bezug auf künstliche Intelligenz, Agententechnologie und Robotik ebenfalls Zugang zur Erforschung von KI. Die Nachahmung (und ggf. Verbesserung) intelligenten menschlichen Verhaltens durch Technologien und Prozessverbesserungen in Organisationen standen dabei im Vordergrund. Bisher wurden z.B. auf Tierverhalten basierende mathematische Algorithmen entwickelt und auf Probleme wie die Routenplanung von LKW‘s oder die Zeitablaufplanung von Flugzeugen angewendet (vgl. Miller, 2007, S. 127). Gerade dieser einfache Ansatz der Befolgung von Regeln kann in vielen technischen Bereichen hilfreich sein. Obgleich des augenscheinlichen Nutzens für Prozessoptimierungen in bestimmten Branchen und als Reaktion auf ein dynamisches Marktumfeld soll dieses Konzept hier nicht näher betrachtet werden, da der Fokus dieser Arbeit auf Methoden liegt, welche die aktive persönliche Beteiligung von Unternehmensmitarbeitern erfordert.
Unter dem Begriff Crowd Sourcing versteht man „(…) die Strategie des Auslagerns einer üblicherweise von Erwerbstätigen entgeltlich erbrachten Leistung durch eine Organisation oder Privatperson mittels eines offenen Aufrufes an eine Masse von unbekannten Akteuren, bei dem der Crowdsourcer und/oder die Crowdsourcees frei verwertbare und direkte wirtschaftliche Vorteile erlangen" (Papsdorf, 2009, S. 69). Hierbei geht es also rein um die Nutzung des individuellen Wissens vieler strikt unverbundener Individuen, oft der Kunden oder der Anwender. Unternehmen wie Tchibo, Fiat, Sennheiser oder Starbucks profitieren bereits durch Projekte wie Kunden-Ideen-Plattformen oder Kreativitätskontests davon, indem sie solche Produktideen einfließen lassen (vgl. Roskos, 2009, o.S.). Zweifelsohne hat diese Form der Arbeitsauslagerung für Unternehmen enorme Vorteile, sie nutzt die Intelligenz der einzelnen Individuen jedoch nur sehr begrenzt. In eine ähnliche Richtung geht die Open Source Initiative. Hierbei nutzen Firmen bei der Entwicklung von Softwareprodukten das Potenzial ihrer Anwender. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist das Betriebssystem Linux, bei dem der ursprüngliche Quelltext offen gelegt und zur kostenlosen Nutzung und Überarbeitung an die Internetgemeinde freigegeben wurde. Auch die Online-Enzyklopädie Wikipedia basiert auf dem Open Source Gedanken. Netflix, ein Online-Filmverleih, wollte ebenfalls vom Wissen vieler profitieren und dotierte einen Preis in Höhe von $1 Mio. für denjenigen, der die unternehmenseigene Empfehlungssoftware um mindestens 10% verbesserte. Dass letztlich keine Einzelperson, sondern ein Zusammenschluss von Expertenteams gewann, scheint die Theorie der KI zu bestätigen (vgl. Lohr, 2009, S. BU4). Beide Arten von KI sollen aus dem gleichen Grund wie Schwarmintelligenz hier nicht näher betrachtet werden.
Betrachtet man den Begriff Weisheit der Masse oder Weisheit der Vielen näher, so kommen einem eher Bilder von unkontrollierbaren Menschenmassen und daraus resultierendem Chaos in den Sinn, als von Weisheit geprägtes Gruppenverhalten. Der Mensch verbindet allein mit dem Wort „Masse“ meist etwas Negatives, das vermeintlich immer andere, aber nie einen selbst betrifft (vgl. Massentourismus, Massenkonsum, Massenwahn). Surowiecki (2007) findet jedoch zahlreiche Beispiele, die vermeintlich das Gegenteil zeigen. Eines ist das des U-Boots USS Scorpion, welches auf dem Grund des Atlantiks verschollen war. Das Suchgebiet war mehrere hundert Quadratkilometer groß, weswegen die Suche zunächst erfolglos war. Erst die Herausgabe aller verfügbaren Unglücksdaten an möglichst viele Personen erbrachte die Sensation: Aus den Schätzdaten der Wissenschaftler wurde der Mittelwert gebildet, welcher nur um 75m von der tatsächlichen Fundstelle abwich (vgl. Surowiecki, 2007, S. 18ff.). Im Grunde geht es bei dieser Art von Massenintelligenz um statistische Erhebungsmethoden nach dem simplen Prinzip des Mittelwerts (vgl. Kruse, 2008, S. 25), welches nach den Bedingungen der Meinungsvielfalt, Unabhängigkeit, Dezentralisierung und Aggregation verlangt. Dabei beteiligen sich die Mitglieder einer Gruppe zwar bewusst, z.B. durch Abgabe von Tipps bei Wettspielen, sie sind aber i.d.R. nicht miteinander verbunden und der Nutzen aus den Einzeldaten resultiert nur durch eine separate Auswertung.
2.3 Klassifizierung nach Problemarten
Die breite Auslegung des KI-Konzeptes legt nahe, dass es auf eine Vielzahl von zu bewältigenden Problemen anwendbar ist. Zur genaueren Typisierung werden drei Hauptkategorien aufgezeigt (vgl. Surowiecki, 2007, S. 15f.; Malone et al., o.D., o.S.) (Abb. 2, S. 13).
Kognitionsprobleme
Diese Kategorie umfasst Probleme, bei denen konkrete Lösungen bereits existieren oder aber die Antwort definitiv zu erwarten ist, man sie aber zu gegebenem Zeitpunkt noch nicht weiß oder wissen kann. Beispiele wären die Verkaufsprognosen einer neuen CD oder die Frage nach dem Gewinner der Fußball-WM 2014.
Koordinierungsprobleme
Unter dieser Art von Problemen versteht man solche, bei denen die Angehörigen einer Gruppe nach Wegen suchen, ihr Verhalten auf Grund gleicher Zielverfolgungen miteinander zu koordinieren. Käufer und Verkäufer müssen sich beispielsweise zum Abschluss eines Geschäftes koordinieren. Unternehmen stimmen sich mit Lieferanten und Produzenten ab.
Kooperationsprobleme
Hier geht es darum, Menschen zur Zusammenarbeit zu bewegen, obwohl das strikte egoistische Eigeninteresse prinzipiell dagegen spricht. Dies trifft z.B. für den Fall von Steuerzahlungen, Car-Sharing zur Reduktion der CO2-Werte oder zwanghaft gegründete Arbeitsgruppen zu.
Innerhalb eines Unternehmens sind alle drei Kategorien vertreten, was im späteren Methodenteil noch deutlich werden wird.
Abbildung 2 – Klassifizierung kollektiver Intelligenz nach Problemarten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung nach Malone et al. (o.D.), o.S. bzw. Surowiecki (2007), S. 15
2.4 Theoretische Grundlagen
Als eines der jüngsten Forschungsgebiete im Bereich KI gilt die Anwendung in Unternehmen. In Verbindung dazu mangelt es momentan noch an handfesten Theorien. Im Folgenden sollen unverkennbar wichtige Einflüsse bez. der Grundidee von KI dargelegt werden.
Für die Erklärung der meisten Phänomene von KI bieten die Systemtheorie und die Kybernetik im weitesten Sinne und die Selbstorganisationstheorie im engeren Sinne einige interessante Ansatzpunkte. In der Praxis wird das systemische Verständnis oft als Grundkompetenz von Unternehmensberatungen angesehen, um Lösungen für Probleme im komplexen Unternehmensalltag zu finden. Dieses Wissen ist hilfreich, da es eine vom Problem losgelöste Betrachtungsweise begünstigt und man so der Gefahr entgegenwirkt, sich in Einzelheiten zu verlieren. Die Systemtheorie und die Kybernetik sind ein synergetisches Wissenspaar und greifen insofern ineinander.
Die klassische Idee der Kybernetik nach Wiener (1952) basiert auf einem operationell geschlossenen Regel- und Funktionskreis. Dieses Konzept erklärt sich am leichtesten anhand eines Thermostats, der die Raumtemperatur über einen Soll-Ist-Wertvergleich reguliert. Die wichtigste Erkenntnis ist dabei die Kausalität der Vorgänge. Sinkt die Raumtemperatur, so reagiert ein Thermostat mit der Erhöhung der Heizleistung. Stimmen Ist- und Sollwert wieder überein, schaltet sich die Heizung ab. Die einzelnen Vorgänge bedingen sich ständig und es findet eine Prozessregelung statt. In der Realität ist jeder Regelkreis ein vernetztes System mit einzelnen Mitgliedern und die Kybernetik strebt nach der Gestaltung und Regelung eben solcher Systeme (vgl. Ulrich, 2001, S. 42ff.).
Die interdisziplinäre Wissenschaft der Systemtheorie geht auf den amerikanischen Biologen Ludwig von Bertalanffy (1976) zurück. Sie beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen von Kräften, die Teil eines gemeinsamen Prozesses sind und mit dem daraus resultierenden Gleichgewichtszustand. Ein System wie z.B. biologische Organismen, chemische Reaktionen, Familien, Teams oder Organisationen ist dabei ein „wahrgenommenes Ganzes, dessen Elemente zusammenhängen, weil sie einander gegenseitig im Laufe der Zeit beeinflussen und auf ein gemeinsames Ziel hinwirken“ (Senge et al., 2008, S. 102). Die Struktur eines solchen dynamischen Systems wird dabei nicht nur von den Mitgliedern, sondern auch durch Hierarchiebeziehungen, Werteinstellungen, Wahrnehmungen oder Methoden der Entscheidungsfindung bestimmt (vgl. Senge et al., 2008, S. 103). Das Prinzip der Übersummativität wird hier deutlich: Ein System ist mehr als die Summe seiner Einzelkomponenten. Dieses spielt, wie bereits aus den obigen Definitionen ersichtlich wurde, im Konzept der KI eine wichtige Rolle. Konkret ergibt sich also aus den Wechselwirkungen zwischen den Systemelementen etwas, das nicht direkt aus den Eigenschaften der einzelnen Teile hervorgehen kann (vgl. Klein, 2001, S. 240). Darunter können eine bessere Entscheidung, eine neue Innovation, eine gute Prognose über Absatzzahlen oder etwas anderes fallen, das von einem Einzelnen nicht hätte erbracht werden können. Zu berücksichtigen ist, dass jede Aktion im System direkte und indirekte, beabsichtigte und auch unbeabsichtigte Konsequenzen nach sich ziehen kann. Die Verbindungen zwischen den Elementen sind dabei in einem Kausalitätskreis zu sehen, in dem jedes Element sowohl Ursache als auch Wirkung sein kann. Der Erklärungsansatz steht dem der linearen Ursache-Wirkungskette gegenüber. Die Mitglieder des Systems müssen in ihrer Zusammenarbeit immer das Gesamtbild im Auge behalten.
Kybernetische und systemtheoretische Ideen, insbesondere die Grundideen des Feedback-/Rückkopplungs-Kreises und der Soll-Ist-Abweichungen, fanden über die psychologische Verhaltensforschung Eingang in die Managementlehre und somit in den Unternehmensalltag. Die Führungskräfte sozialer Systeme nutzen Instrumente der Zielvereinbarung, des Qualitätsmanagements und des Controllings heute selbstverständlich, um die Zielerreichung des Unternehmens sicherzustellen. Mitarbeiter vergleichen ihre erbrachte Leistung mit der individuellen Zielvorgabe, Produkte werden mit den Prototypen abgeglichen und unendlich viele Kontrollzahlen fließen in die Rechnungswesenabteilung, um einen Gesamtüberblick über die Unternehmensentwicklung abzubilden. Ohne Zweifel sind diese hilfreichen Praktiken eher an eine zentrale Steuerung und Kontrolle durch die Führungspersonen gekoppelt, was nicht dem Leitgedanken der KI entspricht. Die Steuerungs- und Regelungstheorie funktioniert aber gerade nur in einem stabilen System mit Regelmäßigkeiten problemlos (vgl. Kruse, 2004, S. 26). Da Organisationen und deren Beziehungs- und Interaktionsmuster (Struktur) nicht zu 100% stabil sind, wurde die Kybernetik über die Jahre weiterentwickelt und eine ihrer Ausprägungen ist die Theorie komplexer Systeme bzw. insbesondere die Selbstorganisations- und Chaostheorie. Im Folgenden wird weiter von der Selbstorganisationstheorie gesprochen. Sie dient u.a. als Verständnisrahmen und als Gestaltungskonzept für Veränderungsprozesse in Unternehmen und „(…) untersucht, wie in komplexen dynamischen Systemen Ordnungszustände spontan entstehen und unter welchen Bedingungen Übergänge zu neuen Zuständen möglich werden“ (Kruse, 2004, S. 27). Unter Selbstorganisation versteht man die Fähigkeit eines Systems und dessen Mitglieder, mit sich und anderen Ordnung zu erstellen, ähnlich wie es ein Fischschwarm praktiziert. Das soziale System der Gruppe ist dabei entgegen einer zentralen Steuerung idealerweise Ausprägung eines autonomiefähigen, sich selbst organisierenden Systems, welches Veränderungen erkennt und entsprechend reagiert. Alltagsbeispiele sind u.a. Gewerkschaften, Selbsthilfegruppen oder Bürgerinitiativen. Eine Übertragung des Selbstorganisationskonzepts auf soziale Systeme wie eine Organisation ist möglich.
Laut Ulrich (2001, S. 42ff.) zeichnen sich soziale Systeme dadurch aus, dass sie ein eigenes Bewusstsein und die Fähigkeit zur Selbststeuerung und Selbstreferenz besitzen. Selbstreferenz kann hier mit der Bedeutung des Kausalitätskreises der Kybernetik verglichen werden. Des Weiteren konstituieren sich soziale Systeme aus Subsystemen, die jeweils eigenständige Zielsetzungen verfolgen und spezifische Werthaltungen, Überzeugungen und Motive verkörpern. Obwohl Organisationen Merkmale der Selbstorganisation aufweisen, dürfen sie nicht als autopoietische Systeme bezeichnet werden. Diese charakterisieren sich neben Kennzeichen wie Komplexität, Selbstreferenz, Redundanz und Autonomie insbesondere dadurch, dass sie unter bestimmten Bedingungen wie von Geisterhand spontan entstehen. Lebewesen sind die ursprünglichen Beispiele für autopoietische Systeme. Für den Beobachter ereignet sich Leben von selbst, ohne dass ein äußerer herstellender Prozess eingreift. In Unternehmen hingegen sind die Anfangsbedingungen und auch die Unternehmensziele vom Menschen bestimmt und erst danach setzen Vorgänge ein, die denen autopoietischer Systeme ähneln (vgl. Baitsch, 1993, S. 18ff.). Selbstreferentialität ist dabei Voraussetzung dafür, dass Systeme unabhängig von ihrer Umwelt agieren können (vgl. Schattenhofer, 1992, S. 29) und dass Rückbezüge über die Kommunikations- und Interaktionsmuster zwischen den Beteiligten möglich sind. Kommt Selbstreferenz zu Stande, so werden die einzelnen Mitglieder „ersetzbarer und das System gewinnt mehr und mehr überindividuelle Eigenschaften“ (Schattenhofer, 1992, S. 33). Mitunter spielt auch die Mikropolitik (vgl. Neuberger, 1995, S. 16; Ferris et al., 2002) der Systemmitglieder eine immanente Rolle für die Geschehnisse im System. Dabei stehen Verhaltensweisen einzelner Akteure oder Abteilungen im Mittelpunkt, welche auf die Erreichung eines eigenen Vorteils oder auf den Schutz eigener Interessen ausgerichtet sind. Insbesondere Handlungsspielräume, Macht, Ansehen, Karriere und zwischenmenschliche Prozesse spielen hierbei oft eine Rolle (vgl. Blickle, Solga, 2006, S. 638). Abhängig von dem Grad der partizipativen Mitwirkung der Mitarbeiter kann ein unternehmensspezifisches Thema vorangetrieben oder blockiert werden.
Was bedeuten die theoretischen Ausführungen für die Praxis der KI übertragen auf ein Unternehmen? Organisationen sind offene soziale Systeme, welche sich in verschiedene, miteinander verknüpfte Teilsysteme aufteilen. Dabei ist das Verhalten und Erleben eines einzelnen Mitarbeiters i.d.R. in ein übergeordnetes System aus vertikalen und horizontalen Hierarchie- bzw. Kooperationsstrukturen eingebettet und die Handlung einer Person kann die Handlung einer anderen Person und somit auch den Unternehmenserfolg beeinflussen. Wird beispielsweise eine Aufgabe von einem Mitarbeiter nicht rechtzeitig erledigt, von der der weitere Projektverlauf abhängt, kommt es unter Umständen zu kostspieligem Zeitverzug. Je mehr Systemelemente vorhanden sind, desto komplexer wird das Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflecht. Die daraus resultierende Erhöhung der internen und externen Komplexität hat für jeden Mitarbeiter zur Folge, dass ein Einzelner nicht mehr über genügend Wissen verfügt, nicht mehr schnell genug aktuelle Informationen beschaffen kann und letztlich nicht in der Lage ist, fundierte Entscheidungen zu treffen oder gar eine Organisation, welche eine gewisse Komplexitätsschwelle überschritten hat, eigenverantwortlich zu lenken und zu steuern (vgl. Zielowski, 2006, S. 41; vgl. Kruse, 2009b, S. 59). Viele Unternehmen setzen deshalb verstärkt auf Führungsteams und Projektarbeit, denn Entscheidungen, welche nicht alle Faktoren berücksichtigen, laufen Gefahr, unbeabsichtigte Konsequenzen nach sich zu ziehen. Auf Grund der zunehmenden Komplexität und Dynamik des Marktgeschehens ist es für den Unternehmenserfolg unabdingbar, schnell und flexibel auf veränderte, instabile Umweltbedingungen zu reagieren. Damit verbunden steigen Entscheidungs-, Leistungs- und Innovationsdruck. Eine Entwicklung hin zu kollektiver Problembewältigung im Sinne der Nutzung von KI scheint sinnvoll.
2.5 Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen
KI basiert grundsätzlich auf individueller Intelligenz, ist jedoch für sich genommen ein eigenes Konzept, welches noch in den Kinderschuhen steckt. Im Rahmen dieser Untersuchung wird unter KI die Fähigkeit einer Gruppe von Menschen zur Bewältigung von Herausforderungen durch gemeinsame oder individuelle Verarbeitung von Informationen verstanden. Eine weitere Bedingung ist, dass die Gruppe insgesamt zu einem besseren Ergebnis gelangt, als ein Einzelner dies könnte oder ein anderes Verfahren dies ermöglichen würde.
Um Unterbegriffe von KI wie Schwarmintelligenz, Crowd Sourcing und Die Weisheit der Masse weiter differenzieren zu können, wurden Unterscheidungsmerkmale eingeführt. Dies geschah v.a. im Hinblick darauf, dass in dieser Arbeit der Fokus auf dem unternehmerischen Kontext und auf Methoden liegt, welche den direkten Einsatz der Unternehmensmitarbeiter fordern. Des Weiteren wurde dargestellt, welche Problemstellungen der ökonomischen Wirtschaft mit Hilfe des KI-Konzepts bearbeitet und gelöst werden können. Die Hauptkategorien dieser sind Kognitions-, Koordinierungs- und Kooperationsprobleme.
In Bezug auf die Grundlagen von KI muss festgestellt werden, dass es derzeit an einer einschlägigen theoretischen Fundierung mangelt. Nichtsdestotrotz konnten aus der interdisziplinären Forschung anderer Gebiete wie der Systemtheorie, der Kybernetik oder der Selbstorganisationstheorie wichtige Anhaltspunkte dafür gewonnen werden, welche theoretischen Überlegungen KI zu Grunde liegen. So obliegt dem Systemgedanken, dass ein System mehr ist als die Summe seiner Einzelkomponenten. Dies verbindet sich mit der Idee, dass KI ein Mehrwert aus den Leistungen der einzelnen Gruppenmitglieder ist. Das emergente Phänomen von KI tritt insbesondere in einer systemischen Umgebung auf und je vernetzter die Systemmitglieder sind, desto höher ist die potenzielle KI. Unter Anwendung des Selbstorganisationsprinzips auf ein Unternehmen kann der wachsenden Komplexität und der Dynamik der Umwelt flexibel begegnet werden. Die Einsicht, dass ein Einzelner diesen und weiteren Anforderungen alleine nicht mehr gerecht werden kann, erfordert neue Konzepte, wofür sich KI anzubieten scheint.
3. Entstehungsbedingungen kollektiver Intelligenz
Damit KI im Unternehmen entstehen kann und bestimmte Methoden von KI genutzt werden können, bedarf es bestimmter Bedingungen. Zunächst wird ein Konzept von KI vorgestellt, welches sich mit notwendigen Bausteinen für ein methodisch durchdachtes und planvolles kollektives Intelligenzsystem beschäftigt. Anschließend werden allgemeingültige Bedingungen für KI erläutert, welche durch das Unternehmen geschaffen werden können. Auf notwendige methodische Voraussetzungen wird jeweils unter 4.1, 4.2 und 4.3 eingegangen.
Insgesamt betrachtet sind die vorgestellten Bedingungen sowohl übergeordnete Voraussetzungen für die Entstehung von KI, als auch Teilvoraussetzungen für erfolgreiche Gruppenarbeit. Die Gruppe stellt folglich implizit das Fundament für KI dar, wobei KI selbst der Outcome der Kollektivleistung ist.
3.1 Das Genom-Konzept
Im Zuge des Aufbaus einer Theorie zu KI haben Malone et al. (2010) versucht, die Bausteine von KI zu identifizieren und zu klassifizieren. Dieses sogenannte „Genom-Konzept[3] “ soll Managern helfen, die systematisch sinnvollste Herangehensweise an eine Problemstellung herauszufinden und somit ein maßgeschneidertes kollektives Intelligenzsystem zu schaffen. Die Autoren entwickelten das Konzept an insgesamt 249 Beispielen für KI, und obwohl internetbasierte Beispiele im Fokus lagen, betonen sie ausdrücklich, dass die Dimensionen des Konzepts wichtig sind „in designing any system for collective action, be it a traditional organization or a new kind of electronically connected group“ (Malone et al., 2010, S. 22). Dieses Bausteinkonzept veranschaulicht Fragen, die sich Führungskräfte vorab stellen sollten, und es verdeutlicht wichtige Stellschrauben von KI. Es hilft bei der Entscheidung, ob angesichts der jeweiligen Bedingungen Gruppenarbeit überhaupt ratsam ist und stellt jeweilige Vor- und Nachteile dar.
Das Rahmenwerk des Konzepts besteht aus vier Leitfragen (vgl. Malone et al., 2010, S. 23):
What is being done? (Zielfrage)
Who is doing it? (Personalfrage)
Why are they doing it? (Motivationsfrage)
How is it being done? (Struktur- bzw. Prozessfrage)
Im Zusammenhang mit diesen Grundfragen existieren 16 Gene, die das Design eines kollektiven Intelligenzsystems beeinflussen und den vier Fragen jeweils in bestimmten Kategorien zugeordnet sind (vgl. Malone et al., 2010, S. 24ff.). Eine Übersicht über die verschiedenen Entscheidungswege bietet Tab. 1 (S. 22).
Am Anfang steht dabei die Frage, was die eigentliche Aufgabe, das Problem oder das Ziel ist. Diese kann im Unternehmenskontext minimalistischerweise mit „Erschaffen (Create)“ oder „Entscheiden (Decide)“ beantwortet werden. Meist geht es darum, eine neue Idee, ein neues Produkt oder eine neue Vision zu kreieren oder aber zwischen Alternativmöglichkeiten zu entscheiden. Danach sollte eine Antwort darauf gefunden werden, wer in den Lösungsprozess eingespannt wird, wobei die Möglichkeiten hier bei „Hierarchie/Management“ oder „Gruppe (Crowd)“ liegen. Im vorliegenden Kontext ist hauptsächlich die Möglichkeit der Gruppe interessant, weswegen der Weg, einzelne oder ein paar wenige Experten zu bemühen, hiermit nur erwähnt sei. Denn wenn Spezialisten bekannt sind und sichergestellt ist, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit das beste Ergebnis liefern, so ist es meist überflüssig, sich über die Gruppenalternative Gedanken zu machen. Ist die Fragestellung jedoch so aufgebaut, dass sie von jedem, der sich zur Bearbeitung entschließt, gelöst werden kann, so sollte die Wahl auf das Gen „Gruppe“ fallen (vgl. Malone et al., 2010, S. 26). Dieser Weg ist v.a. zu empfehlen, wenn man das Potenzial der vielen erschließen will und nicht genau klar ist, wer letztlich die Lösung weiß.
Des Weiteren muss geklärt werden, welchen Anreiz die Beitragenden erhalten sollen oder welche Art von Motivation hinter ihrem Handeln stecken könnte. Malone et al. (2010) kategorisieren diese Gründe in „Geld“, „Interesse (Love)“ und „Anerkennung (Glory)“, wohlwissend, dass diese nicht die gesamte Bandbreite menschlicher Motivationsmöglichkeiten abdecken. Der Baustein „Interesse“ kann dabei viele Formen annehmen, z.B. intrinsische Motivation durch die Sache selbst, soziale Gründe oder aber der Beitrag in Bezug auf das große Ganze. Beeindruckend ist, dass im Rahmen von KI vielen Menschen Interesse oder Anerkennung als Anreiz auszureichen scheinen, um einen Beitrag zu leisten (vgl. Wikipedia oder Amazon). Malone et al. (2010, S. 29) sind der Meinung, dass die Auswahl ungeeigneter Anreize der wichtigste Grund für einen Fehlschlag von KI ist. Als letzter Punkt steht schließlich die Entscheidung über die Methode der Aufgabenlösung an. Diesbezüglich kann wieder eine Unterscheidung in die Subkategorien „Erschaffen“ und „Entscheiden“ vorgenommen werden. Gilt es, etwas zu kreieren, so kann die Lösung zum einen aus der „Sammlung (Collection)“ der Einzelbeiträge aller stammen, welche unabhängig von allen anderen entstanden sind (vgl. Flickr oder YouTube). Zum anderen kann sie durch „Zusammenarbeit (Collaboration)“ aller gefunden werden, da eben gerade nicht mehrere Personen alleine am gleichen Problem arbeiten können (vgl. Linux). Soll im Gegensatz dazu über etwas entschieden werden, so kann dies entweder als „Gruppen-“ oder „Einzelentscheidung“ innerhalb der Gruppe erfolgen. Für erstere Kategorie stehen Instrumente wie „Wahl“, „Durchschnitt“, „Konsens“ oder „Prognosemärkte“ zu Verfügung, wobei eine Entscheidung generiert werden soll, die letztlich die Gruppenmeinung repräsentiert. Für letztere eignen sich „Märkte“ oder „Soziale Netzwerke“, bei denen die Einzelentscheidungen am Ende nicht übereinstimmen müssen (vgl. Malone et al., 2010, S. 30f.).
Das Genom-Konzept kann als Landkarte gesehen werden, bei der sich Manager an jeder Weggabelung für eine der Alternativen entscheiden müssen. Malone et al. (2010, S. 31) erheben damit keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Durchaus können in der Zukunft weitere Bausteine die vorliegende Grundstruktur ergänzen oder sich Bedingungen verschieben. Zum jetzigen Zeitpunkt stellt das Konzept für Verantwortungsträger jedoch einen Leitfaden dar, wie sie konstruktiv an das Phänomen von KI herangehen können. Durch systematisches Abfragen der Möglichkeiten wird der Zufälligkeit entgegen getreten, mit welcher in der Vergangenheit viele Beispiele von KI entstanden sind.
Tabelle 1 – Bausteine des Genom-Konzepts kollektiver Intelligenz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung nach Malone et al. (2010), S. 25
3.2 Bedingungen im Unternehmen
Das Forschungsfeld der KI ist sehr interdisziplinär, weswegen es auch in der Literatur verschiedene Meinungen über fördernde Rahmenbedingungen gibt. Anhaltspunkte ergeben sich aus Bereichen wie dem Innovationsmanagement, dem Wissensmanagement oder der Organisations- und Personalentwicklung (vgl. von Rosenstiehl, 2007, S. 363).
Franken und Brand (2008) haben unterschiedliche Studien untersucht und zusammengetragen. Besonders wichtig erschien dabei das Unternehmensleitbild, welches sich in der Unternehmensmission und der -kultur äußert. Auch die Führungskultur, die sich daraus und aus der Organisationsstruktur ableitet, hat einen zentralen Charakter. Diese wiederum beeinflusst den Informationsfluss, die Kommunikation und Interaktion zwischen den Unternehmensmitgliedern maßgeblich. Schließlich spielen auch Anreizsetzung und Motivation eine große Rolle. Die Bedingungen zielen vorwiegend darauf ab, die Kreativität und Eigeninitiative jedes Einzelnen zu entfalten und somit Gruppenaktivität zu fördern (vgl. Franken, Brand, 2008, S. 38).
Darüber hinaus sind nach Surowiecki (2007, S. 32ff.) mindestens die drei Bedingungen der Diversität, der Unabhängigkeit und der Dezentralisierung für KI notwendig. Sind diese erfüllt, so sind seiner Meinung nach die aggregierten Antworten der Individuen genauer als die von Experten. Diversität bezieht sich dabei sowohl auf eine heterogene Gruppenzusammensetzung als auch auf die notwendige Meinungsvielfalt. Unabhängigkeit fordert, dass die Meinungen nicht durch Äußerungen aus dem nahen Umfeld geprägt sind, und durch Dezentralisierung wird ermöglicht, dass Menschen zu Spezialisierungen in der Lage sind und nicht von einer zentralen Autorität gesteuert werden. Diese Bedingungen beugen negativen Gruppeneffekten vor und sind v.a. bei Methoden bedeutend, welche die Meinungen der Gruppenmitglieder auf verschiedene Weise aggregieren.
3.2.1 Organisationsstruktur und Führungsverständnis
Über die Organisationsstruktur werden Regelungen bez. der Verteilung von Aufgaben und Kompetenzen und bez. Handlungsspielräumen im System abgebildet (vgl. Bea, Göbel, 2006, S. 297ff.). Viele Unternehmen werden im hierarchisch-zentralen Sinne geführt. Wie im Rahmen der theoretischen Grundlagen bereits erwähnt wurde, werden Organisationen hier als Systeme angesehen. In Verbindung mit KI nehmen systemisches Management und Selbstorganisation daher einen elementaren Stellenwert ein. Die Überlegenheit bez. der Bewältigung von Komplexität und die Anpassungsfähigkeit selbstorganisierender Systeme liegt nämlich mitunter daran, „dass die für die individuelle Anpassung der Elemente erforderlichen Informationen von diesen selbst und nicht durch eine zentrale Instanz verarbeitet werden“ (Malik, 2000, S. 332). Für die Förderung von Kreativität und Selbststeuerung ist nach Schmidt und Kleinbeck (1997) eine dezentrale Organisationsform mit flacher Hierarchiestruktur sinnvoller. Das kann eine nicht-hierarchisch verstandene Linienorganisation, eine Matrixorganisation oder eine Projektorganisation sein (vgl. deren Vorteile u.a. Schulte-Zurhausen, 2010).
Auch eine vielfältige und intensive Vernetzung der Beteiligten im Sinne einer Netzwerkstruktur trägt erheblich zur Steigerung von eigenverantwortlichem Arbeiten, erhöhter Kommunikation und schnellerer Anpassungsfähigkeit bei. Durch Netzwerke entsteht Zusammenhalt, wächst Sicherheit, zirkulieren Informationen, erfolgt gegenseitige Unterstützung und Leistungen werden arbeitsteilig erbracht. Idealerweise finden sich die Netzwerkmitglieder je nach Bedarf und Interesse im Sinne der Selbstorganisation zusammen, um einer gegebenen Herausforderung gemeinsam zu begegnen. „(…) [Wir] sollten (…) versuchen unsere Welt in ihrer tatsächlichen Vernetzung zu sehen, um mit den technischen Möglichkeiten, die wir entwickelt haben, nicht weiterhin unbekümmert zu hantieren, sondern sie ab jetzt mit Systemverständnis einzusetzen“ (Vester, 2005, S. 9). Dies ist allerdings kein Plädoyer dafür, Hierarchien in einem Unternehmen oder in einer Abteilung abzuschaffen. Überhaupt ist es falsch zu glauben, dass durch die Ablösung hierarchischer Strukturen mit Hilfe von Selbstorganisation Probleme der sozialen Systembildung verschwinden. Während Hierarchie und Fremdbestimmung relativ einfache Organisationsformen sind, so ist Selbstorganisation von der Funktionalität her komplizierter und anspruchsvoller (vgl. Langthaler, Schiepek, 1995, S. 146). Vielmehr geht es darum, gruppendynamische Prozesse, die von Selbstreferentialität, Eigendynamik und heterogener Wissenszusammensetzung geprägt sind, dann nutzbringend einzusetzen, wenn die Intelligenz des Einzelnen nicht mehr ausreicht. Es ist unabdingbar, weiterhin bestimmte Entscheidungen von Experten treffen zu lassen. Aber die Flexibilität, einmal Führungsperson und einmal „normaler“ Mitarbeiter zu sein, soll durch eine Netzwerkkultur gefördert werden. Generell kommt Selbstorganisation als Ergänzung oder Alternative in Betracht, wenn die Komplexität das Steuerungsvermögen einer Zentralinstanz übersteigt.
In einem dynamischen, komplexen Umfeld stößt das Führungsprinzip der Steuerung jedoch an seine Grenzen, während systemische Regelungsmechanismen ihre Stärke gerade hier ausspielen können. Hoch kompetitive Märkte verlangen nach anderen Methoden wie dem tayloristischen Führungsprinzip. Dem heutigen Management kommt letztlich die Aufgabe der Führung, Lenkung und Gestaltung sozialer Systeme zu. Durch ein einfaches Regelwerk soll es den Führungskräften gelingen, die Mitarbeiter so anzuleiten, dass diese selbstverantwortlich mit Blick auf das Wohl der Organisation handeln (vgl. Malik, 2000, S. 368). Führungskräfte haben dabei sowohl mit der externen Komplexität veränderter Umweltbedingungen zu kämpfen, als auch mit der internen Komplexität in Bezug auf Hierarchie- und Entscheidungsstrukturen und organisatorische Abläufe. „Von entscheidender Bedeutung ist dabei die Fähigkeit des Managements, eine angemessene Balance zwischen Stabilität und Instabilität sowie zwischen dezentraler Autonomie und zentraler Vorgabe zu gewährleisten“ (Kruse, 2009b, S. 10). Denn vor allem in einer Phase der Ideenfindung und Informationssammlung verhilft ein dezentrales Netzwerk zu der notwendigen uneingeschränkten Beteiligungsmöglichkeit und zu maximalen individuellen Freiräumen (vgl. Sperlich, 2008, S. 39). In Entscheidungsphasen kann es mitunter hilfreich sein, auf eine Linienhierarchie zurückzugreifen. Trotzdem können auch mit anderen Methoden und Wegen rationale und effiziente Entscheidungen getroffen werden, wie im späteren Methodenteil (Kapitel 4) zu sehen sein wird.
Insofern unterliegt die Führungsrolle der Manager derzeit einem starken Wandel. Kruse (2006, S. 105) sieht dabei „die Fähigkeit, persönliche Überforderungsgefühle zu ertragen und sich auf die komplexe Dynamik selbst organisierender Netzwerke einzulassen, [als] wahrscheinlich (…) eine der wichtigsten Schlüsselkompetenzen für die Führungskraft der Zukunft“. In Netzwerkorganisationen werden Entscheidungs- und Verhaltensspielräume immer wieder neu definiert. Die Mitglieder bilden dabei situations- und aufgabenbedingt soziale Einheiten, welche meist temporär begrenzt sind und heutzutage oft virtuell entstehen. Insbesondere bezogen auf Gruppenarbeit sollten Führungskräfte in der Lage sein, Verantwortung abzugeben (vgl. Kleinbeck, 2006, S. 661). Statt klare Top-down-Anweisungen zu geben, sind die Führungskräfte angehalten, intelligente Systeme zu moderieren und Handlungsräume für deren Mitglieder zu schaffen, so dass diese der Erwartung gerecht werden können, eigene Beiträge einzubringen. Grundsätzlich führt ein kooperativer Führungsstil zu höherer Arbeitszufriedenheit, nicht jedoch per se zu einer besseren Leistung (Neuberger, 1972). Vielmehr spielen hier situative Umgebungsfaktoren wie die Kultur, Branche, Unternehmensbereich, etc. auch eine Rolle. „Erfolgreiche Unternehmen streben unternehmerisches Denken auf allen Ebenen an und behandeln ihre Mitarbeiter als mündige Mitunternehmer: Mitwissen, Mitentscheiden, Mitgestalten, Mitverantworten schafft mehr Vertrauen und Bindung [Anm. d. Verf.: an das Unternehmen] als ständige Kontrolle“ (Ullrich, Wenger, 2008, S. 116f.). In diesem Sinne wird kollektive Führung relevant, welche nach Pór (2008, S. 9) genau dann vorhanden ist, „when people are so attuned to each other (…) that, even when separate, they naturally act in harmony with each other and the goals of the common enterprise“.
Gelingt es, mit Hilfe der Organisationsstruktur und des Führungsverhaltens eine Atmosphäre zu schaffen, in der Hierarchieverhältnisse zwar nach wie vor vorhanden sind, aber über eine flache, dezentrale und informelle Netzwerkstruktur und einen partizipativen Führungsstil gelebt werden, so sind wichtige Grundsteine für die Entwicklung von KI gelegt.
3.2.2 Unternehmensleitbild
Über das Unternehmensleitbild wird die Philosophie einer Organisation verkörpert. Bestandteile davon sind z.B. die Vision, die Mission, strategische Ziele oder grundlegende Werte und Leitlinien.
Die Unternehmensmission verkörpert ein langfristiges und zukunftsorientiertes Ziel und dient dazu, Mitarbeitern, Kunden und Wettbewerbern den Zweck des Unternehmens und die Aufgaben zu verdeutlichen, die das Unternehmen verfolgt. Es ist möglich, über eine gut gewählte Mission das interne und externe Image aufzubauen oder ggf. neu auszurichten und Mitarbeiter zu motivieren (vgl. Jones, Bouncken, 2008, S. 66). Über die Unternehmenskultur werden angestrebte gemeinsame Wertvorstellungen, Verhaltensnormen und Mentalitäten ausgedrückt (vgl. Jones, Bouncken, 2008, S. 408ff.). Sie manifestieren sich in dem Bewusstsein und dem Verhalten aller im Unternehmen Beschäftigten. Malik (2000, S. 369) ist der Meinung, dass auf Grund der im Unternehmen und in der Umwelt herrschenden Komplexität „und des dadurch induzierten Regelungsbedarfs nur die Grundzüge [Anm. d. Verf.: des Unternehmensleitbildes] festgelegt werden [können], während die Details der individuellen Ausgestaltung und Interpretation offen gelassen werden müssen“.
Zur Förderung von KI sollten im Unternehmensleitbild Themen wie Gemeinschaftlichkeit und Intelligenz, aber auch Eigenverantwortlichkeit und systemisches Wissen verankert werden (vgl. Franken, Brand, 2008, S. 36). Es ist überaus wichtig, ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Absicht und eine Ausrichtung auf das ganze System zu haben, so dass sich die Mitarbeiter damit identifizieren können. Dieses „Gemeinsame“ kann sich nur durch einen zusammenhängenden Reflexions- und Kommunikationsprozess entwickeln. Dadurch entsteht in einer Gruppe von Individuen ein gemeinsamer Denk- und Handlungsraum bez. ihren Aufgaben, dem Produkt, den Kollegen und dem Unternehmen, was eine Bindung an das Unternehmen erzeugen kann. In Bezug auf Gruppen wird eine solche Bindung ‚Gruppenkohäsion‘[4] genannt. Mullen und Copper (1994) fanden heraus, dass Gruppen mit höherer Kohäsion bessere Leistungen erzielen. Durch die Internalisierung des Leitbildes agieren sowohl Einzelne ebenso wie die Gemeinschaft reaktiv und kreativ (vgl. Senge et al., 2008, S. 344). Insgesamt sollte also eine Art Bild erschaffen werden, aus dem die Mitarbeiter das Gewissen ziehen, gemeinsam etwas Zweckdienliches zu bewegen oder zu kreieren, wozu keiner alleine in der Lage wäre.
[...]
[1] Anmerkung: Die Abkürzung KI soll in dieser Arbeit für kollektive Intelligenz stehen und nicht wie sonst üblich für künstliche Intelligenz.
[2] Hier wird bewusst der Bezug zu Menschen hergestellt, da nur diese im Rahmen der Arbeit relevant sind. Generell könnte es sich auch um andere Organismen handeln.
[3] Malone et al. (2010) verwenden Begriffe wie Genom und Gene aus der Biologie und meinen damit das Gesamtkonzept bzw. die einzelnen Bausteine von KI. Ein Gen steht für die Lösung auf eine der vier Leitfragen des Konzepts (siehe S. 20).
[4] Gruppenkohäsion = Summe aller Kräfte, die ein Gruppenmitglied an die Gruppe bindet (vgl. Wegge, 2006)
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- Maike Unger (Autor:in), 2010, Kollektive Intelligenz in Unternehmen. Entstehung und Relevanz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162975
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