Es ist fraglich, ob die Nationalgesellschaft des sogenannten Dritten Reichs mit den bekannten systemtheoretisch erfassten Gesellschaftstypen hinreichend beschrieben werden kann. Dieser Aufsatz dient daher dem Versuch, denjenigen Gesellschaftstypus zu identifizieren, den man im Deutschland der Jahre zwischen 1933 und 1945 vorfindet, und die ihm eigenen Merkmale herauszustellen. Dabei wird zum einen insbesondere auf das Konzept der „Organisationsgesellschaft“ (vgl. Pollack 1990) und zum anderen auf den Politikbegriff Carl Schmitts (vgl. Schmitt 1963) Bezug genommen. Auch die Rolle der klassischen Geopolitik als zuständigem Programm für das System-Umwelt-Verhältnis wird näher beleuchtet.
Organisationsgesellschaft „Drittes Reich“ – Skizze einer funktional entdifferenzierten Gesellschaftsform
ESSAY
Abstract
Es ist fraglich, ob die Nationalgesellschaft des sogenannten Dritten Reichs mit den bekannten systemtheoretisch erfassten Gesellschaftstypen hinreichend beschrieben werden kann. Dieser Aufsatz dient daher dem Versuch, denjenigen Gesellschaftstypus zu identifizieren, den man im Deutschland der Jahre zwischen 1933 und 1945 vorfindet, und die ihm eigenen Merkmale herauszustellen. Dabei wird zum einen insbesondere auf das Konzept der „Organisationsgesellschaft“ (vgl. Pollack 1990) und zum anderen auf den Politikbegriff Carl Schmitts (vgl. Schmitt 1963) Bezug genommen. Auch die Rolle der klassischen Geopolitik als zuständigem Programm für das System-Umwelt-Verhältnis wird näher beleuchtet.
1. Einleitung
Niklas Luhmann beschreibt in vielfältigen Publikationen die soziale Evolution der Gesellschaftstypen, ausgehend von segmentärer Differenzierung, über die stratifikatorische Differenzierung hin zur modernen funktional differenzierten Gesellschaft, welche das Hauptanalyseobjekt der soziologischen Systemtheorie bildet und, gewissermaßen „übersetzt“ in politikwissenschaftliche und staatsrechtliche Begrifflichkeiten, über die strukturelle Kopplung von Politik und Recht, die Verfassung, zugleich die Grundlage bildet für das Zustandekommen einer demokratischen Staatsform (vgl. Sander 2007: 17). Luhmanns Klassifizierung von Gesellschaftstypen stößt jedoch an ihre Grenzen, wenn man den Versuch unternehmen möchte, die Transformation eines demokratischen Staates hin zu einem autoritären oder gar totalitären Regierungssystem zu erklären und dieses sodann soziologisch einzuordnen. Die Frage nach der soziologischen Erklärung für einen solchen Umbruch zieht schwerwiegende Folgefragen nach sich: Kann eine Gesellschaft, die den Wandel von einer demokratischen zu einer autoritären oder totalitären Regierungsform erlebt hat, weiterhin als funktional differenziert gelten? Wenn ja, wie lässt sich dann – insbesondere bei letzterer Regierungsform – die Politisierung zahlreicher gesellschaftlicher Bereiche verstehen? Wenn nicht, um welche Gesellschaftsform handelt es sich dann? Detlef Pollack ist diesen Fragen in Hinblick auf den Fall der DDR nachgegangen und hat den Erklärungsversuch der Konzeption einer „Organisationsgesellschaft“ unternommen (vgl. Pollack 1990). Ich möchte in diesem Essay der Frage nachgehen, inwieweit sich dieses – im Falle der DDR meines Erachtens plausible – Konzept auch auf den Fall des nationalsozialistischen Deutschlands übertragen lässt. Die Werke Carl Schmitts einerseits, der mit zahlreichen Schriften eine staatstheoretische Selbstbeschreibung des Dritten Reiches aufgestellt hat, und Karl Haushofers andererseits, der mit seinem Konzept der Geopolitik die Expansionspolitik des Dritten Reiches maßgeblich beeinflusst und theoretisch vorbereitet hat, bilden weitere zentrale Faktoren, welche ich versuchen werde in das Konzept einzuordnen.
Es sollte hinzugefügt werden, dass dieser Essay keinen Anspruch darauf erhebt, eine komplette und umfassende Darstellung einer solchen theoretischen und konzeptionellen Einordnung abzuliefern. Der im Titel verwendete Begriff der „Skizze“ verweist darauf, dass dieser Aufsatz verstanden werden sollte als gedanklicher Anstoß zu der Frage, auf welche Weise man sich dem Phänomen des Nationalsozialismus politikwissenschaftlich und soziologisch nähern könnte.
2. Das Dritte Reich als funktional differenzierte Gesellschaft?
Viktor Winkler stellt die These auf, die funktionale Differenzierung habe im Dritten Reich fortgewirkt und die operative Schließung der Funktionssysteme habe weiter bestanden. Dies macht er fest am Beispiel insbesondere des Rechtssystems, aber auch der Politik und der Wissenschaft, welche weiterhin autopoietisch operiert hätten: „Die Radikalisierungstendenzen innerhalb der Verwaltung, die an vielen Stellen ohne direkte Befehle von oben festzustellen sind, die immense Flut an rechtswissenschaftlichen Publikationen im doch so rechtsfeindlichen „Unrechts-Staat“, eine Rechtsprechung, die bemerkenswert linientreu entscheidet ohne durch Gesetze der neuen Führung hieran gebunden zu sein – all das ist zu verstehen als „gewöhnliche“ unablässige Produktion blinder weil selbstreferenziell operierender sozialer Systeme“ (Winkler 2005: 3). Diese Einschätzung ist problematisch und birgt systemtheoretischen Zündstoff. Man fragt sich, wieso Winkler der Überzeugung ist, die Selbstreferenz sozialer Systeme führe automatisch zu „Blindheit“ – dies wäre der Fall, würden sie autark operieren. Soziale Systeme operieren jedoch autonom und können gerade über die Fähigkeit zur Beobachtung ihrer Umwelt, gewährleistet durch strukturelle Kopplungen, nicht überleben. Neben dieser aber eher theoretischen Problematik führt Winklers These jedoch auch zu der Frage, wie die zahlreichen einschneidenden Veränderungen nicht lediglich in den Semantiken, sondern auch in den Strukturen von Politik, Recht, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung und Kunst zu erklären sind, welche nach 1933 eintraten. Geht man dieser Frage nach und führt man sich vor Augen, wie radikal diese Veränderungen in vielerlei Hinsicht wirklich waren, so wird man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die üblichen theoretischen Modelle im Rahmen der Annahme eines funktional differenzierten Gesellschaftssystems und den damit einhergehenden, zwischen den Funktionssystemen ablaufenden Prozessen von Beobachtung, Irritation, Enttäuschung und Autopoiesis hier keine ausreichende Erklärung bieten.
Betrachten wir einige empirische Stichproben. Das Reichspropagandaministerium etwa diente dem Regime einzig zur Kontrolle der und damit als direkte operative Kopplung mit den Medien, womit eine weitere operative Geschlossenheit des Mediensystems ausgeschlossen war. Die binäre Codierung Information / Nicht-Information musste Platz machen für eine Hegemonie politischer Funktionslogik, welche fortan diktierte, was veröffentlicht werden durfte und was nicht. Ähnliches galt für das Wissenschaftssystem, in welchem die Codierung von Wahrheit / Unwahrheit fortan überlagert wurde von politischen, nationalsozialistischen Unterscheidungen, die in einen Biologismus mündeten, welcher seinen Ausdruck fand in Eugenik und Euthanasie. Am deutlichsten ist der Fall jedoch im Rechtssystem: Carl Schmitt, Staatsrechtler und als „Kronjurist des Dritten Reiches“ im nationalsozialistischen Deutschland lange Zeit höchste Autorität des Rechts, veröffentlichte ein Jahr nach der „Machtergreifung“ als Rechtfertigung der vorangegangenen Ermordung Ernst Röhms und anderer einen Artikel mit dem Titel „Der Führer schützt das Recht“ (vgl. Schmitt 1934). Darin heißt es u. a.: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft (…) Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers. (…) In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz “ (Schmitt 1934: 946 f.; Hervorhebungen FS). Es wäre falsch, die hier zitierten Aussagen Schmitts, welcher selbst ein Konzept von durch Leitunterscheidungen generierten gesellschaftlichen Bereichen entwickelt hatte (vgl. Schmitt 1963), als bloße semantische Selbstbeschreibung des Rechtssystems zu begreifen. Die heute übliche Rezeption des Artikels als eine Schrift, welche für das nationalsozialistische Staatsrecht – und damit nicht nur für die Semantik, sondern auch die Struktur der Gesellschaft! – eine zentrale Bedeutung hatte, resultiert daher, dass ihre Inhalte fortan in die Praxis umgesetzt wurden, wie vor allem die politischen Urteile des politischen NS-Volksgerichtshofes gezeigt haben. Die Stellung Hitlers als „oberster Gerichtsherr“ war nicht nur Bestandteil der Semantik nationalsozialistischer Ideologie oder der aus ihr folgenden staatsrechtlichen Selbstbeschreibung des Dritten Reiches. Die Tatsache, dass, wie der Artikel Schmitts zeigt, die Ermordung Röhms und anderer – welche wohl eindeutig nicht zur semantischen „talk“-, sondern zur strukturellen „action“-Dimension zu zählen ist (zum Konzept von „talk“ und action“ vgl. Brunsson 1989; Sander 2009: 23 ff.) – staatsrechtlich legitimiert werden konnte, führt plastisch vor Augen, dass die Stellung Hitlers als „oberster Gerichtsherr“ für die Zeit des Dritten Reiches als faktisch gegeben bezeichnet werden muss. Diese faktische Personalunion belegt nicht nur die Auflösung der Gewaltenteilung, sondern eben auch das Ende der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems, die Unterordnung der Verfassung unter die politische Logik und damit die funktionale Entdifferenzierung der Gesellschaft im und durch den Nationalsozialismus.
3. Das Dritte Reich als Organisationsgesellschaft
Setzen wir das Zwischenfazit des letzten Abschnitts als Prämisse, so kommen wir zu der Notwendigkeit, ein alternatives Modell zur Erklärung der Gesellschaftsform zu entwickeln, die das Dritte Reich gekennzeichnet hat. Detlef Pollack hat den Umbruch in der DDR im Kontext des Endes des Kalten Krieges als „Ende der Organisationsgesellschaft“ beschrieben (vgl. Pollack 1990) und damit ein Modell entworfen, welches meines Erachtens auch hinsichtlich des hier relevanten Falles Verwendung finden kann. Analog zu Pollacks Analyse der DDR stelle ich also die These auf, dass das NS-Regime temporär erfolgreich versucht hat, die Gesellschaft als ihre Organisation einzurichten, um die nationalsozialistische Ideologie auf alle – bis dato – Funktionssysteme bzw. Lebensbereiche zu übertragen und diese zu steuern.
Pollack fasst zusammen: „Organisationen [bestehen] aus Entscheidungen, die sie miteinander verknüpfen (Luhmann 1978: 354 ff.). Organisationen sind gekennzeichnet durch ein bestimmtes Programm, eine bestimmte Struktur und ein bestimmtes Personal (Luhmann 1975: 41 f.). Wer eintritt, akzeptiert das Programm, die Struktur und das Personal“ (Pollack 1990: 294). Wie Pollack dies für die DDR attestiert (vgl. ebd.: 294), so behandelte auch das NS-Regime die gesellschaftlichen Teilbereiche als Subsysteme, die Bürger als Mitglieder und deren Handlungen als Entscheidungen. Pollack schreibt zur DDR: „Alle Ereignisse, alle Handlungen, auch die unverdächtigsten und harmlosen, wurden daraufhin überprüft, ob sich in ihnen Zustimmung oder Ablehnung zum Programm des Sozialismus, zur sozialistischen Gesellschaftsstruktur und zu den führenden Vertretern des Systems ausdrückt. (…) Wer freilich den Gehorsam verweigerte, mußte stets damit rechnen, disqualifiziert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden“ (ebd.: 294).
All diese Feststellungen gelten – in extremerer Form – auch für das Dritte Reich. Wer die Zustimmung zum nationalsozialistischen Programm verweigerte, wurde aus dem hierarchisch strukturierten Organisationssystem komplett exkludiert, nicht länger als Bürger betrachtet und, im schlimmsten Falle, in ein Konzentrationslager gebracht und dort getötet. Gleichwohl – und hier besteht ein signifikanter Unterschied zwischen der Organisationsgesellschaft „DDR“ und der Organisationsgesellschaft „Drittes Reich“, der jedoch nicht das Konzept als solches widerlegt – kann in Bezug auf das nationalsozialistische Deutschland nicht von einer rein ideologischen Codierung gesprochen werden. In der Organisationsgesellschaft „DDR“ wurden die Mitglieder der Organisation primär in Hinblick daraufhin beobachtet, ob sie der sozialistischen Ideologie zustimmen oder sie ablehnen, weswegen die dortige binäre Codierung mit der Unterscheidung von „sozialistisch / nicht sozialistisch“ bezeichnet werden kann (vgl. ebd.: 296). Die Organisationsgesellschaft „Drittes Reich“ beobachtete ihre Mitglieder zwar auch in Hinblick auf die Zustimmung oder Ablehnung zur NS-Ideologie, zentral war jedoch ebenso das rassistische Element des Nationalsozialismus, welches zur Folge hatte, dass man etwa als Jude oder als „Erbkranker“ die eigene Exklusion und später Ermordung selbst durch Zustimmung zum nationalsozialistischen Programm nicht verhindern konnte. Die zentrale Leitunterscheidung der Organisationsgesellschaft „Drittes Reich“ lässt sich somit bezeichnen als eine binäre Codierung, die ebenfalls durch den NS-Staatsrechtler Carl Schmitt selbst in seiner Schrift „Der Begriff des Politischen“ (vgl. Schmitt 1963: 28 ff.) beschrieben worden ist, nämlich die Unterscheidung von Freund / Feind. Unter den Negativwert dieses Codes wurden sowohl jene gefasst, die die nationalsozialistische Ideologie ablehnten, als auch jene, die gemäß dem Programm aus „rassischen“ Gründen als minderwertig galten. Die Organisationsgesellschaft „Drittes Reich“ wurde also letztlich durch ihren bekanntesten Staatstheoretiker selbst bereits auch soziologisch beschrieben.
Diese – im Ursprung politische, aber letztlich eben gesellschaftliche – Codierung überlagerte im Verlaufe der Konsolidierung der NS-Diktatur schließlich immer mehr die gesellschaftlichen Bereiche (ich gebrauche an dieser Stelle bewusst die Formulierung „Bereiche“, da man nicht mehr von operativ geschlossenen und daher auch nicht mehr von existenten Funktionssystemen sprechen kann – alternativ kann man aber von „Subsystemen“ sprechen).
Die Freund-Feind-Codierung bestimmte die Operationen der (zunehmend biologistischen) Wissenschaft: Die Eugenik, die Wissenschaft der „Rassenhygiene“, erblühte und erforschte, wie dem Positivwert des Codes am ehesten genügt werden konnte und man den erbkranken „Feind“ – in der NS-Semantik: Ballastexistenzen – eliminieren konnte. Ebenso determinierte die Unterscheidung die Operationen der (Zentralplan-)Wirtschaft, welche zunächst als Wehr- und ab 1939 als Kriegswirtschaft dazu beizutragen hatte, den ausländischen Feind auszumerzen. Die Medien wurden per Sub-Organisation, dem Reichspropagandaministerium, der Freund-Feind-Unterscheidung untergeordnet, wodurch sie fortan die Funktion hatten, die politische, also die nationalsozialistische Semantik zu einer gesellschaftlichen Semantik zu machen, der man sich in keinem Bereich entziehen konnte. Weder war dies möglich im Bereich der Werbung, noch im Bereich der Nachrichten, noch im Bereich der Unterhaltung, welcher, nicht nur über prominente Filme wie „Jud Süß“, ebenfalls unter das Primat der Freund-Feind-Unterscheidung gestellt wurde. Ähnliches galt für andere Bereiche wie Kunst und Erziehung. Auch das schon in Abschnitt 2 dieses Aufsatzes angesprochene Recht beobachtete und operierte natürlich, wie etwa die Nürnberger Rassegesetzgebung oder die Entscheidungen des Volksgerichtshofes zeigen, determiniert durch die Unterscheidung von Freund / Feind, und hatte dabei die Aufgabe, die daraus folgenden Entscheidungen zusammen mit der Verwaltung in die Tat umzusetzen.
- Arbeit zitieren
- Florian Sander (Autor:in), 2010, Organisationsgesellschaft „Drittes Reich“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163009