Die Geschichte der Menschheit ist eine rekonstruierte, denn sie ist immer etwas Vergangenes und darum als ein Faktensystem schwer zu überprüfen. Erst im Nachhinein kann sie durch Quellen rekonstruiert werden. In der zeitgenössischen Gesellschaft existiert durch die Massenmedien eine scheinbare lückenlose Dokumentation der zeitgeschichtlichen Ereignisse. Dabei wird jedoch oft die Manipulierbarkeit dieser Medien und die subjektive Bezugnahme auf das jeweilige Objekt übersehen. Die Wirklichkeit und Realität, die über Printmedien oder Fernsehen vermittelt wird, empfinden die Rezipienten als natürlich und objektiv. Insbesondere Fotografien gelten als Abzüge des Realen. Doch handelt es sich wirklich um dokumentiertes Zeitgeschehen? Oder konstruieren wir anhand dieser Symbole nur Mythen, die sich in der wiederholten Rezeption von Generation zu Generation weiter verfestigen, bis wir sie als natürliche Wertesysteme und Wahrheiten auffassen? In unserem sozialen Umfeld werden bestimmte Fotos von derselben Person oder dem gleichen Ereignis vor allem in den Medien gehäuft gezeigt und wiederholt rezipiert. Sie stellen ein Symbol mit einer Bedeutung dar und meist zeigen sie Personen oder geschichtliche Ereignisse, die wir umgangssprachlich als Mythos bezeichnen. Dabei ist dieses Foto eigentlich nur ein historisches Dokument, nicht mehr und nicht weniger. Doch diese speziellen Bilder erhielten einen Sonderstatus im kollektiven Gedächtnis. Warum werden genau diese Bilder ein mythisches Symbol? Um dieses Phänomen zu erklären verdeutliche ich in dieser Arbeit, dass die zeitgenössische Gesellschaft nach wie vor eine mythische ist.Die Massenmedien haben in der Moderne zu einem großen Teil die Funktion der Mythen in der antiken Gesellschaft übernommen.Diese These gilt es theoretisch mit der Mythentheorie Roland Barthes zu belegen und anhand eines Beispiels, einer mythischen Aussage in symbolischer Bildform, dem meistreproduzierten Bild der Welt, Che Guevara, praktisch zu verdeutlichen. Die Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit gesellschaftlicher Werte und die allgemeine Akzeptiertheit kultureller Symbolsysteme möchte ich mit diesem Beispiel hinterfragen. Im praktischen Teil der Arbeit wird mit Hilfe der Symboltheorie Nelson Goodmans ergänzend eine subjektive Bezugnahme auf das Che Guevara Porträt geleistet und seine ikonischen Eigenschaften analysiert. So werde ich den metaphorischen Ausdruck des Bildes interpretieren, der ihm seinen mythischen Sonderstatus verschafft hat.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Begriffsbestimmung des Wortes Mythos
2.1 Etymologie und Wortgeschichte des Wortes Mythos
2.2 Bedeutungsgeschichtliche Entwicklung des Mythos
2.2.1 Der antike Mythos
2.2.2 Wiederentdeckung des Mythos- Von der Renaissance bis zur Moderne
2.2.3 Der zeitgenössische Mythosbegriff im gesellschaftlichen Kontext
3. Roland Barthes - Die Mythen des Alltags
3.1 Definition des Mythos im Sinne Roland Barthes
3.2 Das Mythenmodell nach Roland Barthes
3.3 Formale Bedingungen und Charakteristika des Mythos
4. Die Fotografie des Che Guevara - ein Mythos des Alltags
4.1 Zur Geschichte des Che Guevara Fotos
4.2 Das Bildnis Ches - ein mythisches semiologisches System
4.2.1 Das erste semiologische System
4.2.1.1 Signifikant
4.2.1.2 Signifikat
4.2.2 Der Mythos Che - Das zweite semiologische System
4.2.2.1 Signifikant
4.2.2.2 Signifikat
5. Die Symboltheorie Nelson Goodmans
5.1 Denotation, Bezugnahme und „Repräsentation als“
5.2 Ähnlichkeit und Repräsentation
5.3 Exemplifikation und Ausdruck
5.4 Der metaphorische Ausdruck im analogen System des Bildes
6. Was exemplifiziert Che Guevaras Bild metaphorisch?
6.1 Denotation und „Repräsentation als“
6.2 Exemplifizierte Eigenschaften des Bildes
6.3 Der metaphorische Ausdruck Che Guevaras
7. Schlussbetrachtung
8. Bilderverzeichnis
9. Quellenverzeichnis
10. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Der eigentliche Sinn des Mythos ist nicht der, ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus, wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropologisch - besser: existential interpretiert werden."[1]
„Der Mythos verbirgt nichts und stellt nichts zur Schau. Er deformiert. Der Mythos ist weder eine Lüge noch ein Geständnis. Er ist eine Abwandlung.“[2]
Die Geschichte der Menschheit ist eine rekonstruierte, denn sie ist immer etwas Vergangenes, nie gegenwärtig und darum als ein Faktensystem schwer zu überprüfen. Erst im Nachhinein kann sie durch Quellen in Form von Dokumenten, schriftlichen Zeugnissen, Bildern und Texten rekonstruiert werden. In der zeitgenössischen Gesellschaft existiert durch die Massenmedien eine scheinbare nahezu lückenlose Dokumentation der zeitgeschichtlichen Ereignisse. Dabei wird jedoch oft die Manipulierbarkeit dieser Medien und die subjektive Bezugnahme auf das jeweilige Objekt, Ereignis oder die historische Person übersehen.
Die Wirklichkeit und Realität, die über Bilder, Fernsehen oder die Printmedien vermittelt wird, empfinden die Rezipienten als natürlich und objektiv. Insbesondere Fotografien und dokumentarische Fernsehberichte gelten als Abzüge des Realen. Es scheinen natürlich gebildete Objekte zu sein, gelieferte mediale Wirklichkeit, die kollektiv genutzt und abgespeichert wird. Die Medien aktualisieren das kollektive Gedächtnis beständig.[3]
Doch handelt es sich wirklich um dokumentiertes Zeitgeschehen, um Fakten, die in historischen Dokumenten fixiert wurden? Oder konstruieren wir anhand dieser Symbole nur Mythen, die sich in der wiederholten Rezeption von Generation zu Generation weiter verfestigen, bis wir sie als natürliche Wertesysteme und Wahrheiten auffassen? Fotos oder Fernsehbilder sind die ergiebigsten Materialien für eine mythische Bedeutung. Sie lassen durch die Abbildung der Wirklichkeit, die durch die Technik der Fotografie möglich scheint, Ereignisse natürlich und objektiv wirken.[4] Dies sind sie jedoch nie, denn sie sind schon immer die Bezugnahme und persönliche Ansicht einer individuellen Person; eines Fotografen oder Kameramanns, die diese Bilder erstellt haben.
In unserem sozialen Umfeld werden bestimmte Fotos von derselben Person oder dem gleichen Ereignis gehäuft gezeigt und wiederholt rezipiert. Sie erscheinen auch nach Jahrzehnten immer wieder in den Medien oder in privaten Lebensbereichen. Sie stellen ein Symbol mit einer Bedeutung dar und meist zeigen sie Personen oder geschichtliche Ereignisse, die wir umgangssprachlich als Mythos bezeichnen. Dabei ist dieses Foto eigentlich nur ein historisches Dokument, nicht mehr und nicht weniger. Doch diese speziellen Bilder erhielten einen Sonderstatus im kollektiven Gedächtnis. Dagegen sind andere Bilder, die ebenso eine Repräsentation eines bestimmten Ereignisses sind, längst in Vergessenheit geraten.
Warum werden genau diese Bilder ein mythisches Symbol? Menschen, die eines der bekannten Symbole in ihrer Wohnung als Plakat hängen haben oder auf andere Weise zur Schau stellen, besitzen meist einen persönlichen Bezug zu diesem und benutzen es als Ausdrucksform. Diese Bedeutung können sie in kurzen Sätzen und einigen prägnanten Stichworten auch beschreiben. Doch deren umfangreichen geschichtlichen Hintergrund und die zahlreichen historischen Bezüge kennt fast niemand. Ausgehend von dem Status eines geschichtlichen Dokuments haben sie sich zu einem Symbol und einer kollektiven Ausdrucksform entwickelt, mit denen Menschen persönliche Aussagen und subjektive Gefühle verbinden.
Ich möchte in dieser Arbeit verdeutlichen, dass die zeitgenössische Gesellschaft nach wie vor eine mythische ist. Die Massenmedien haben in der Moderne zu einem großen Teil die Funktion der Mythen in der antiken Gesellschaft übernommen.[5] Der Grundsatz der Mythenkonstruktion und ihre Funktion für das soziale Leben sind seit der Antike gleich geblieben. Diese These gilt es theoretisch zu belegen und anhand eines Beispiels, einer mythischen Aussage in symbolischer Bildform, praktisch zu verdeutlichen. Die Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit gesellschaftlicher Werte und die allgemeine Akzeptiertheit kultureller Symbolsysteme möchte ich in dieser Arbeit mit Hilfe Roland Barthes Mythentheorie hinterfragen, denn die gemeinsame Gesellschaftsideologie wird selten in Frage gestellt.[6] Das kulturelle Konstrukt wird als natürliches und unabänderliches Faktensystem gesehen, dabei ist es nur ein System von Werten, die veränderlich sind. Dieser Punkt wird in der Gesellschaft meist nicht beachtet und erkannt.
Zu dieser Analyse ist es im ersten Schritt von Nöten den Begriff des Mythos näher zu beleuchten. Dazu werde ich zunächst die Etymologie des Wortes darstellen, um dann in der Folge einige Beispiele der Definitionsversuche anzuführen. Danach betrachte ich die begriffsgeschichtliche Entwicklung mit den wichtigsten Diskursen, die mir für den Mythenbegriff und seine Entwicklung bedeutsam scheinen.
Ich werde mich für meine weitere Arbeit auf die zeitgenössische Definition Roland Barthes, die er in seinem Werk „Mythen des Alltags“ einführt, beziehen und den Mythos als Aussage und Mitteilungssystem betrachten; als spezielle Kommunikationsform in der Gesellschaft.
Barthes untersucht die unterschiedlichsten Zeichen unserer Welt aus den Medien und dem alltäglichen Leben und führt sie auf eine homogene, semiologische Betrachtungsweise zurück. Ausgangspunkt sind dabei Zeichen, die über ihren primären Sinn hinaus mit einer neuen, vereinfachten Bedeutung konnotiert werden. Diese semiologischen Systeme definiert er als Mythen. So möchte er zu verstehen geben, dass soziale und kulturell geschaffene Konstrukte Natürlichkeit simulieren, aber faktisch nicht aus der Natur der Dinge hervorgehen. Nach einer Darstellung des Mythenmodells mit seinen konstruierenden Elementen auf beiden semiologischen Ebenen, werde ich seine Theorie praktisch anwenden. Dazu verwende ich exemplarisch als Beispiel ein pikturales Symbol, dessen Ebenenelemente ich einzeln beschreiben werde. Seit den sechziger Jahren ist dieses Foto ein sehr populäres Symbol, dessen Ausdruckskraft, wie die wiederholte Nutzung und Rezeption in der Gesellschaft zeigt, ungebrochen scheint. Das meist-reproduzierte Foto der Welt, das Porträt Ernesto Che Guevaras. Es ist ein geschichtliches Fotodokument, das mit mythischer Bedeutung angefüllt wurde und in der Gesellschaft als kollektives Symbol verwendet wird.
Anschließend werde ich mit Hilfe der Symboltheorie Nelson Goodmans, einer allgemeinen Theorie der Symbolsysteme, ergänzend eine subjektive Bezugnahme auf das Che Guevara Porträt leisten und seine ikonischen Eigenschaften analysieren. Durch das Zurückführen auf eine einzige logische Relation, die Referenz, ist die Symboltheorie auf alle ästhetischen Objekte und Weisen des Darstellen und Zeigens anwendbar. So werde ich den metaphorischen Ausdruck des Bildes interpretieren, der dem Bild, meiner Meinung nach, seinen Sonderstatus als Form für mythische Begriffe verschafft hat. Die speziellen Eigenschaften, die den Ausdruck des Che Fotos bilden, werde ich in Abgrenzung zu gegensätzlichen Bildbeispielen herausstellen. Da ich mich auf ein pikturales Objekt in meiner praktischen Untersuchung beziehe, konzentriere ich mich auf die Besonderheit eines Bildes als Kommunikationsbotschaft. Somit stelle ich die speziellen syntaktischen und semantischen Eigenschaften von Bildern als Symbolsysteme ins Zentrum.
Ich werde anhand des plakativen Che Guevara Beispiels verdeutlichen, dass die moderne Gesellschaft, genau wie die antike, eine mythische ist. Die Geschichte ist ein System, das auf Fakten und historischen Zeugnissen basiert, das jedoch auch der Manipulierbarkeit, dem jeweiligen Kontext und der falschen Rezeption ausgesetzt sein kann. Der Mythos baut auf diesem wackeligen Konstrukt sein kulturell konstruiertes System auf. Er ist somit ein System, das bei genauerer Analyse mit wissenschaftlicher Distanz in seiner Bedeutung zusammenbrechen muss.
2. Zur Begriffsbestimmung des Wortes Mythos
Für diese Untersuchung ist es zunächst einmal nötig, den Begriff Mythos zu definieren. Es erscheint auf den ersten Blick einfach, da in Medien, wissenschaftlichen Arbeiten und dem alltäglichen Sprachgebrauch mit diesem Begriff selbstverständlich umgegangen wird und er uns nicht missverständlich oder undeutlich erscheint. Für dieses Gefühl ist ausschlaggebend, dass es sich in der Verwendung um einen traditionellen, alten und somit in seiner Bedeutung gesicherten Begriff handelt.[7]
Versucht man ihn aber eindeutig zu klassifizieren und allgemeingültig zu definieren, scheint dies eine schwierige bis unmögliche Aufgabe zu sein. Befragt man Leute, denen das Wort aus ihrer Alltagssprache geläufig ist, nach der Definition des Wortes Mythos, erhält man ungefähr so viele unterschiedliche Antworten wie es Theorien und Definitionen des Begriffs gibt. So wird deutlich, dass das Wort bei den Kommunikationsteilnehmern sehr verschiedene semantische Bezugnahmen und Assoziationen auslöst.
2.1 Etymologie und Wortgeschichte des Wortes Mythos
Das Wort Mythos besitzt griechische Wurzeln (mask, von altgr. μῦθος)[8] und bedeutet übersetzt Wort, Aussage, Rede, Erzählung oder Idee.[9]
Im Lateinischen wurde es durch das Lehnwort fabula wiedergegeben, das im Deutschen durch die Begriffe Gerede, Gerücht, Erzählung, Fabel oder Mythos definiert wird.[10] Abgeleitet aus dem Lateinischen wird der Begriff des Mythos in die deutsche Sprache übernommen.
Erst im 18. Jahrhundert wird der Mythos sprachlich wiederentdeckt. Die terminologiegeschichtliche Identität ist unterbrochen, der gelehrten Welt bleibt der Zusammenhang des Mythos mit dem Begriff Fabel jedoch bewusst. Folglich wurde der Mythos in der deutschen Sprache zunächst als Synonym für Fabel verstanden. Martin Luther übersetzt das griechische Wort Mythos im Neuen Testament mit „lügmere“ oder „Fabel“. Er betonte so die Irrealität des Mythos. Auf diese Weise übertrug sich die Bedeutung als Fabel in die deutsche Sprache,[11] die unter vielen anderen bis heute noch existent ist.
Im 16. Jahrhundert wird der Mythos in der Bedeutung „erdichtete Märe, Mythos, lat. Fabula“ von einem Schweizer Theologen in ein deutsches Wörterbuch aufgenommen. Auch im Zedlerschen Lexikon aus dem
18. Jahrhundert werden Mythos und Fabel synonym verwendet.[12]
Bis ins 18. Jahrhundert hinein bezeichnet der Mythos einzig und allein eine Erzählung mit poetischem Wert ohne jeden Wahrheitsanspruch. Der Mythos wird in erster Linie auf Göttersagen bezogen.[13] Seine Rolle als Grundbegriff und philosophischen Denkansatz erhält der Mythos erst in der Moderne.[14]
Somit haben sich zwei Vorstellungen des Mythos in der bedeutungs-geschichtlichen Entwicklung herauskristallisiert. Sie umschreiben die Bedeutung des Begriffs Mythos mit seinen vielfältigen Eigenschaften nur sehr grob.
So finden sich in Lexika meist Variationen dieser zwei Definitionen:
1.) überlieferte Geschichte, Sage
2.) zur Legende gewordene Begebenheit, verehrte Persönlichkeit[15]
1.) Die Erzählung von Göttern, Heroen und Ereignissen aus vorgeschichtlicher Zeit und die sich darin aussprechende Weltdeutung.
2.) Das Resultat einer sich zu allen Zeiten, auch in der Moderne („neue Mythen“) vollziehende Mythisierung im Sinne einer Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen.[16]
Das ist zum einen ein Verständnis des Mythos als Erzählung von Göttern und Heroen, das sich aus den Überlieferungen der Griechen der antiken Zeit ableitet. Und zum anderen existiert eine moderne Definition des Mythos in unserer Zeit: als Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder allgemein beschrieben, Mythen als Ideen von Individuen.[17]
Die klassifizierende Einteilung und die eindeutige Abgrenzung zwischen den beiden Vorstellungen ist in meiner Untersuchung des Che Guevara Porträts, unter Berücksichtigung der Mythentheorie des Semiologen Roland Barthes, nicht haltbar. Denn Barthes durchbricht die traditionelle Begriffsextension des Mythos, indem er ihn als Kommunikationssystem betrachtet.[18] Eine ausführliche Erklärung seiner Definition findet sich in Kapitel 3.1.
Umgangssprachlich scheint diese dichotome Klassifizierung des Mythos zunächst zu funktionieren, bei detaillierter Betrachtung und Einbeziehung der begriffsgeschichtlichen Entwicklung allerdings nicht. Denn der Mythos bildet einen vielfältigen Komplex von Taten und Ereignissen, der Sinn des Wortes ist mit diesen beiden Bedeutungen unzureichend und nicht bestimmt genug ausgedrückt.[19]
Der antike Mythos ist von dem zeitgenössischen Mythos nicht eindeutig abzugrenzen. Denn zahlreiche Merkmale, die in der Antike den Mythos definierten, finden sich auch in unserer zeitgenössischen Mythenvorstellung. Eine allgemein verbindliche Definition dessen, was ein Mythos ist, gibt es nicht. Dagegen existieren viele verschiedene Mythosbegriffe, die verschiedenen Diskursen angehören und sich teilweise überschneiden, sich widersprechen oder gegenseitig ergänzen.[20] Die andauernden und vielfältigen Auseinandersetzungen mit dem Mythos und seine sprachhistorische Nutzung über einen sehr langen Zeitraum, führten in der begriffsgeschichtlichen Entwicklung zu einer nicht eindeutig klassifizierbaren Bedeutung des Begriffs Mythos.
2.2 Bedeutungsgeschichtliche Entwicklung des Mythos
Der Begriff Mythos und die Versuche einer Annäherung an diesen haben eine lange Entwicklung in der Geschichte. Seit der Antike war der Mythos ein fester Bestandteil philosophischer Theorien.
Die Diskussionen zu diesem Thema wurden in der Folge überwiegend von Theologen, Philologen, Philosophen, Soziologen und Kunsthistorikern[21] geführt, die sich ausführlich mit diesem Thema aus nahezu jedem Blickwinkel beschäftigten. Und so versuchten, eine Vorstellung des ungegenständlichen Begriffs zu entwickeln. Der Versuch, eine allgemeingültige Definition zu erstellen, ist jedoch gescheitert.
„Keine der verschiedenen Theorien des Mythos kann bis heute Anspruch auf eine allgemeingültige Anerkennung erheben.“[22]
Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hat es zahlreiche Theorien und Definitionsversuche des Mythos gegeben und mit ihnen verbundene differierende Vorstellungen, so dass es unmöglich ist sie alle in dieser Arbeit aufzuführen, denn sie wären ein autonomer Forschungsgegenstand.[23]
Da ich mich im folgenden Kapitel für meinen Untersuchungsgegenstand auf die Mythentheorie Roland Barthes und seine Definition des Mythos beziehe, sind die verschiedenen unzähligen Definitionsversuche und Diskussionen seit der Antike nur in wenigen Aspekten entscheidend für meine Arbeit. Die Geschichte des Mythos ist fast so alt wie die Alphabetschrift[24] und dementsprechend umfangreich.
Ich werde eine kleine Übersicht der begriffsgeschichtlichen Entwicklung und der damit verbundenen philosophischen Ansätze geben, die mir für den zeitgenössischen Mythos im Sinne Roland Barthes und für die gesellschaftlichen Prozesse der Mythenrezeption wichtig erscheinen. Seit der Antike bis heute ist die Faszination des Mythos auf die Menschen und die Beschäftigung mit diesem Thema gleich geblieben. Diese These werde ich durch eine chronologische Beschreibung der Geschichte des Mythos und seiner Bedeutung in den anschließenden Unterkapiteln des Kapitels 2.2 verdeutlichen.
2.2.1 Der antike Mythos
In der heutigen Zeit haben wir eine ziemlich genaue Vorstellung und Definition des antiken Mythos. Er ist eine mündliche Göttergeschichte, eine Sage oder Fabel mit erzieherischem und handlungsorientiertem Hintergrund.[25]
Doch bereits in der Antike gab es keine einheitliche Sicht des Mythos, er besaß eine ähnliche Vielfalt der Bezüge wie in der Moderne. Dies lässt sich exemplarisch an den verschiedene Definitionen der antiken Philosophen Aristoteles und Platon verdeutlichen.
Platon definierte einen Mythos als das Werk eines Dichters, das zwar auch Arten von Wahrheiten enthält, sah ihn aber in erster Linie als unwahre Erzählung,[26] die lügenhaft und kindlich ist.[27] Er wandte sich aufgrund dessen gegen die Verblendung der athenischen Bürger durch die Dichter und forderte radikale Reinigung und ein Verbot der Dichtung im Idealstaat.[28]
Platon begründete so die Vorstellung der Dichotomie des Logos und Mythos.
Mythos und Logos sind für Platon koexistierende Diskurse, wobei der Mythos auf dem Weg der Mimesis, dem Prinzip der Nachahmung, tradiertes Wissen von einer Generation zur nächsten überträgt. Der Logos steht hingegen für argumentativ überprüfbares Wissen.[29]
Aristoteles folgte dieser platonischen Abwertung der Mythen in der Kunst nicht.[30] Er betrachtete den Mythos als wichtigsten Teil einer Tragödie, als Stilmittel und Erzählweise einer Geschichte.
Diese beruht auf der Nachahmung von Handlungen, das heißt dem Bedürfnis über das Gehen des Menschen, der Handlung an sich, zu sprechen und nicht über den Gang eines Menschen. Der Mythos war für ihn das zentrale der sechs Elemente des Aufbaus und entscheidend für eine gelungene Tragödie.
„Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse (ta pragmata) und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel ist aber das Wichtigste von Allem.“[31]
Auf diese Definition nimmt der moderne literaturwissenschaftliche Mythenbegriff Bezug, der den Mythos als narrative Struktur oder Erzählmuster sieht.[32]
Mythen beinhalten Wahrheiten.[33] Diese basieren nicht auf wissenschaftlichen Beweisen, sondern nur auf dem Erleben und der Gedankenwelt der Menschen, in der Antike gleichermaßen wie heute. Der menschliche Geist besitzt die Fähigkeit, Vorstellungen zu entwickeln und Erfahrungen zu machen, die nicht rational erklärbar sind. Wir besitzen Phantasie, eine Gabe, die uns befähigt, etwas zu denken, was faktisch nicht präsent ist.[34] Ansonsten wäre die Erschaffung von Kunst nicht möglich.
Diese erlebten Wahrheiten sind existent, dennoch nicht stofflich und sachlich fassbar. Mythen verleihen einer Realität, die Menschen intuitiv spüren, Form und Gestalt.[35] Diese ist abhängig von den verschiedenen subjektiven Bezugnahmen und kann stark variieren.
In der vorchristlichen Zeit sehnten sich die Menschen, genau wie in der heutigen Zeit, nach Orientierung für Handlungsweisen und einer Erklärung für die Geschehnisse in der Welt. So schufen sich Menschen als sinnsuchende Lebewesen schon immer Mythen und erfanden Geschichten und Symbole, die unser Leben in einen größeren Zusammenhang stellen und uns das Gefühl vermitteln, dass das Leben einen höheren Sinn und Wert hat.[36] In der christlichen Zeit leistete dies zum Teil die Religion. Die Verwendung des Mythos ist jedoch zu keiner Zeit verschwunden, sie hat sich im Laufe der Zeit nur gewandelt.[37]
In der Antike waren Mythen mündlich überlieferte Geschichten, in denen Götter, Helden und Menschen die Hauptrolle spielten. Der uns heutige geläufige Begriff des antiken Mythos gründet wesentlich auf Platons Vorstellung des Mythos und Logos und wurde anhand antiker schriftlicher Aufzeichnung der früher allein mündlich tradierten Götter- und Heroengeschichten bestimmt.[38]
Homer und Hesiod sind die ersten und zugleich nachhaltigsten Urheber mythischer Grundmuster. Mit Homer begann die Schriftlichkeit der literarischen Tradition.[39] Die schriftlich vorliegenden Werke sind somit Nacherzählungen der im antiken Volk vorhandenen mündlichen Mythen. So treten sie uns schon immer in ihrer reduziert- literarisierten Gestalt[40] entgegen. Die Themen der Mythen sind die Erschaffung oder Zerstörung der Welt. Die Götter leben neben den Menschen, nähern sich ihnen an, auf diese Weise können die Rezipienten sich leicht mit ihnen identifizieren.[41] In der Moderne sind die Religion und die Wissenschaft an ihre Stelle getreten, die antiken Mythen gehören diesen beiden Bereichen nicht an.
Die Menschen der Antike besaßen diese modernen Institutionen nicht, so konnten sie die antiken Mythen nicht als solche klassifizieren. Der zeitliche Abstand zu den Geschichten fehlte ihnen und so konnten sie nicht zwischen dem wahren Kern und der dichterischen Freiheit differenzieren.
Unser christlicher Gott ist metaphorisch betrachtet ein einzelnes höheres Wesen, diese Vorstellung ist in christlichen und westlichen Gesellschaften akzeptiert und traditioniert.[42] Der polytheistische Mythos in seiner Verehrung verschiedener Götter nebeneinander[43] ist uns heute fremd und erscheint vorzeitlich.[44] Wir ordnen sie dementsprechend in die Kategorie Sage, Fabel ein.
Der Religionswissenschaftler Hartmut Zinser definiert in seinem Aufsatz „Theorien des Mythos“ die griechischen Mythen als „literarisches Genre“.[45]
Somit scheint im umgangsprachlichen Gebrauch der antike Mythos klar definiert und klassifiziert zu sein. Diese Annahme ist jedoch trügerisch. Denn genau wie in der antiken Gesellschaft existieren Mythen auch in der modernen Gesellschaft weiterhin, in jeder Gesellschaft existieren sie.[46] Wir sind im Alltag von ihnen umgeben und leben mit ihnen.
Der Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski sieht den Mythos als den Ausdruck eines gelebten Eindrucks. Er betrachtet Mythen als Teil der funktionalen, pragmatischen und performativen Dimension einer Kultur; als Teil von Handlungen, die spezielle Aufgaben in bestimmten Gemeinschaften erfüllen, in der Antike ebenso wie heute.
„Myth is not merely a story told but a reality lived”[47]
Der Mythos ist, aus diesem Schluss folgernd, an die jeweilige Lebenszeit der Individuen gebunden und hat immer einen geschichtlichen und sozialen Hintergrund. Die Handlungen der antiken Mythen spiegeln die Themen und Bedeutungen wieder, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung eine Rolle in der Gesellschaft spielten.
Sicherlich gibt es neben den antiken noch zahlreiche Mythen anderer Kulturen. In unserer westlichen Welt ist die Vorstellung des Begriffs Mythos jedoch weitestgehend an die antike Mythologie gebunden.[48]
Und die westliche Welt und ihren Mythenrezeption ist auch beim zeitgenössischen Mythos des Bildnisses Che Guevaras die entscheidende., denn die Bedeutung eines Zeichens kann in dem individuell erlebten Lebenskontext beurteilt werden. Somit haben andere Mythen in meiner Untersuchung eine untergeordnete Bedeutung und ich werde sie in diese Untersuchung nicht mit einbeziehen.
2.2.2 Wiederentdeckung des Mythos- Von der Renaissance bis zur Moderne
In der Renaissance wurde der Mythos wieder fester Gegenstand der Gesellschaft und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Der Begriff Renaissance (frz. „Wiedergeburt“),[49] im 19.Jahrhundert ausgehend von dem italienischen Begriff Rinascimento (Wiedergeburt)[50] geprägt, bezeichnete das kulturelle Aufleben der griechischen und römischen Antike im Europa des 14. bis 17. Jahrhunderts.[51]
Mythologische Motive der Antike wurden in der Kunst und Literatur der Renaissance des 16. Jahrhunderts zu zentralen Gegenständen und in Umzügen und Theateraufführungen zu öffentlichen Schauspielen.[52] So wurden sie einem breiten Publikum wieder bewusst gemacht.
Da der Mythos ein unverzichtbarer Teil der antiken Welt war und die Kirche durch die fortschreitende Bildung der Menschen in der Renaissance stark an Macht und Einfluss verlor,[53] wurden die antiken Mythen, insbesondere im Bereich der Künste, zur Erklärung der Welt wieder aufgegriffen und den biblischen Stoffen gegenübergestellt.
Die Gesellschaft suchte eine Alternative zu biblischen Erklärungen der Welt und fand sie in den antiken Dramen und Epen. Mythen leisteten Orientierungshilfen und Leitlinien, die kirchliche Stoffe auch boten.
Im 18. Jahrhundert brach das Zeitalter der Aufklärung und der Wissenschaft an, damit einher ging auch ein neues Verständnis der Selbstbestimmung und eine Betonung der rationalen Denkstrukturen. Seit diesem Zeitpunkt entwickelte die Gesellschaft eine wissenschaftliche Ansicht, Beweise galten als faktische Belege.[54] Die Philosophen der Aufklärung läuteten den Beginn der Moderne ein. In Deutschland war der wichtigste Vertreter dieser Bewegung Immanuel Kant mit seinem kritischen Idealismus.[55]
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. (...) Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“[56]
Die Wissenschaft basierte auf Rationalität, Vernunft und Beweisen, der Mythos schien dagegen ein Überrest aus dunklen Tagen. Bestimmt von Ungewissheit und Aberglaube und erschaffen durch Phantasie und Erfindungsgeist.[57] Ihm wurde somit jede Gültigkeit und Wahrheit in der realen Welt abgesprochen. Resultierend aus der Auffassung der Aufklärung wird in den zeitgenössischen Lexika der Mythos in den Bereich der Ästhetik verwiesen und als kollektives Wissen für Künstler, Gelehrte und Gebildete definiert.[58]
Die Spannungen in der Gesellschaft wuchsen, denn das Bürgertum akzeptierte nicht mehr die gottgegebene Vorherrschaft der Adligen, sondern stellte unter dem Einfluss der Aufklärung einen eigenen Selbstbestimmungsanspruch. In Folge dieser Entwicklungen wurde der rationale Logos in der Bedeutung der Vernunft dem irrationalen Mythos als Kontrapost entgegengestellt.[59]
Der Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched übersetzte den Begriff Mythos 1730 mit dem Begriff „Fabel“. Diese Definition wird dem Mythos gleichgesetzt und in der Zeit der Aufklärung zu einem poetischen Begriff stilisiert.[60] Das Erfinden qualitativer Fabeln ist für Gottsched das entscheidende Kriterium für gute Dichter. Der Dichter sollte dabei aber gleichzeitig ein Erzieher der Leserschaft im Sinne der Aufklärung sein.[61]
Auch er verweist den Mythos als poetischen Begriff in den Bereich der Kunst und grenzt ihn von der Wissenschaft ab. Der Mythos ist der wissenschaftlichen Welt und der Aufklärung entrückt, es gibt keine rationalen Belege in seiner Erzählform.[62] Auch heute findet man in zahlreichen Lexika immer noch den Ausdruck Fabel als Erklärung und Definition des Begriffs Mythos. Dies ist aber eine zu einseitige Sichtweise und macht nur einen Teil seiner Bedeutung aus. Es war ein Versuch der Aufklärung durch die dichotome Klassifizierung Klarheit in die Begrifflichkeit des Mythos zu bringen.
Trotz der, in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, durchgängigen Anerkennung eines unbestimmten, aber dennoch vorhandenen Wahrheitsgehalts des Mythos,[63] sprach die Aufklärung ihm diesen ab.
Die Philosophen der Aufklärung standen dem Mythos kritisch gegenüber, der Logos war der Gegenstand ihrer Untersuchungen. Der Mythos schien ein Begriff aus vorzeitlichen Kulturen zu sein, der rein der Phantasie und der mangelnden Aufklärung der Menschen zu verdanken sei.[64]
„Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.“[65]
Doch Menschen schufen sich weiterhin durch alle Zeiten Mythen,[66] sie existieren in allen Völkern und Kulturen.[67] Die Aberkennung eines Wahrheitsanspruchs des Mythos und einer damit verbundenen Einteilung in die Dichotomie Mythos und Logos konnte sich nie gänzlich durchsetzen, denn in der Epoche der Romantik, Ende 18. Jahrhundert bis Mitte 19. Jahrhundert, verschob sich das Bild des Mythos erneut.
Die philosophischen Grundlagen von Johann Gottlieb Fichte und Joseph Schelling in der Romantik bildeten eine Gegenposition zur Rationalität der Aufklärung, „um die traumhaft und ungebundene schöpferische Kräfte des Menschen zu befreien.“[68]
Diese Auseinandersetzung entfachte eine neue Diskussion um den Begriff, da die bis dahin als wahr hingenommene Dichotomie des Logos und Mythos nicht mehr akzeptiert wurde. Der Gegensatz von Aufklärung und Romantik wurde um die Diskussion des Mythos zum ideologischen Prüfstein.[69]
Christian Gottlob Heyne legte den Grundstein für den modernen Mythosbegriff. Er postulierte, Mythen seien Versuche der Menschen der Frühzeit, die überwältigende Natur zu begreifen. Naturkräfte wurden in den Mythen personifiziert, das sinnlich Erlebte und eine unvollkommene Sprache brachten unbewusste Allegorien zustande und so wurden die „abstracta als concreta“[70] dargestellt. Diese Deutung wurde in verschiedenen Theorien und Definitionen weiter ausgeführt.
In der Kontroverse zwischen Friedrich Creuzer und Gottfried Hermann, einer philosophischen Spekulation zwischen der Romantik und der wissenschaftlichen- rationalistischen Philologie, definierte Creuzer den Mythos als „sekundär ausgesprochenes Symbol“,[71] dies enthält alte Begebenheiten als Überlieferung.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der ursprünglich von Karl Wilhelm Friedrich Solger entwickelte Gedanke, Mythen seien primitive Stammesgeschichten mit Hilfe der Sprachwissenschaftler Gebrüder Grimm und deren Schülern weitestgehend durchgesetzt.[72] Mythen erschienen somit als idealisierte Heldenerzählungen untergegangener Geschlechter.[73] Dies entspricht unserer heutigen Definition des antiken Mythos, die sich in den Lexika finden lässt. Mit Schelling und „Der Philosophie der Mythologie“[74] erreicht das Thema des Mythos einen späten Höhepunkt in der Romantik.[75]
Er bestimmt programmatisch die Mythologie als „Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie.“[76]
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Begriff erneut. Aus einem Programmwort der Romantik bei der Suche nach der Urweisheit wurde ein Gegenstand nüchterner Forschung.[77] Man hielt erneut, wie zur Zeit der Aufklärung, im Angesicht von Evolution und Fortschritt, den Mythos für eine Form des vorwissenschaftlichen Weltbildes, das durch die moderne Rationalität überwunden sei.[78]
Ende des 19. Jahrhunderts schien in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Trennung von Logos und Mythos endgültig vollzogen zu sein. Thomas H. Huxley gehörte zu denjenigen Vertretern, die einen Kreuzzug für den Logos und gegen den Mythos führten. Er vermutete in seinen radikalen Ansichten, die Menschen hätten sich zwischen Mythologie und rationaler Wissenschaft zu entscheiden. Einen Kompromiss gebe es nicht. Nur die Vernunft sei wahrhaftig, die Mythen dagegen unwahr.[79]
Die zunehmende Rationalisierung war jedoch nie gänzlich in der Lage die mythischen Strukturen in der Gesellschaft zu ersetzten. Mythische Vorstellungen und Gedanken sind existent und nicht eindeutig von der Welt der Wissenschaft zu selektieren, indem man sie als Kunstwerk darstellt.
„Der Mensch ist eben dadurch in Irrtum gefallen, dass er das Natürliche in sich vom Übernatürlichen schied.“[80]
Zahlreiche Diskussionen und Diskurse setzten im 20. Jahrhundert an der Theorie Dichotomie von Logos und Mythos an. Es gab sowohl Ansätze, die weiterhin die Dichotomie des Logos und Mythos vertraten und innerhalb dieser Gegenüberstellung den Mythos zu analysieren und definieren versuchten; als auch Gegentheorien, die schon in der Aufklärung und der Wissenschaft selbst mythische Strukturen entdeckten und die Dichotomie auf diese Weise zerstören wollten.
„Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann.“[81]
Der Anthropologe und Ethnologe Claude Levi-Strauß, an den Ferdinand de Saussure anknüpfte, entwarf eine strukturalistische Wissenschaft der Mythen. Sie bestehen nach dieser Theorie aus einer Zusammensetzung von Einheiten, deren Regel unbestimmt ist. Die Mytheme bilden die kleinste Einheit.[82] In der deutschen Geschichte gab es eine Pause in dem wissenschaftlichen Diskurs des Mythos, die in der Tabuisierung dieses Themas in der Zeit des Nationalsozialismus begründet liegt.[83] Ab 1971 setzte eine erneute inflationäre Beschäftigung mit dem Mythos ein, welche die Vielfältigkeit unseres heutigen Verständnisses des Wortes formte. Zu den wichtigsten Debatten über den Mythos in den achtziger Jahren des
20. Jahrhunderts gehören die Arbeiten Blumbergs, Hübners und Bohrers.[84] Das Interesse an dem Mythos hat eine lange Tradition, dies zeigen die zahlreichen Debatten und Theorien, die rund um den Mythos seit der Antike existieren. Eine eindeutige und allgemeingültige Definition finden zu wollen, wäre das aussichtslose Vorhaben, eine zweieinhalbtausend Jahre alte Deutungs- und Begriffsgeschichte zum Abschluss bringen zu wollen.[85]
Wenn man die verschiedenen Mythentheorien betrachtet und vergleicht, stellt man fest, dass sie sich nicht auf einen einheitlichen Gegenstand oder Begriff beziehen.[86] Nur einzelne Aspekte des Mythos werden jeweils herangezogen, aber ein Gesamtbild oder eine einheitliche Begriffsvorstellung kann nicht entwickelt werden.
2.2.3 Der zeitgenössische Mythosbegriff im gesellschaftlichen Kontext
Wie der begriffsgeschichtliche Überblick verdeutlicht, hat sich das Verständnis des Wortes Mythos im Laufe der Geschichte immer wieder enorm verändert. Der Begriff Mythos besitzt eine sehr große Bedeutungsextension; das unter ihm Verstandene hängt von vielen Faktoren ab: von dem subjektiven Bedeutungsverständnis, dem Kontext, dem Mythosobjekt und der persönlichen Bezugnahme des Rezipienten zu diesem.[87]
In der modernen Gesellschaft überwiegt durch die Präsenz wissenschaftlicher Erkenntnisse und dem anhaltenden technischen Fortschritt die Meinung, dass mythische Züge durch Rationalität ersetzt sind.[88] Diese Auffassung ist jedoch ein Irrtum, jede Gesellschaft, auch die zeitgenössische, besitzt Mythen. Sie liefern genau wie in der Antike Handlungskonzepte und die Möglichkeit einer Bezugnahme des Erlebten auf einen höheren Sinnkontext.
„Aber dass es sie in jeder Gesellschaft gibt, ist Hinweis darauf, dass sie unverzichtbar sind: sie liefern Sprachregeln und Handlungskonzepte in unübersichtlichen Problemlagen, wo mangels zureichender Information nicht rational entschieden werden kann, wo aber gehandelt werden muss.“[89]
Zu den zeitgenössischen Mythen fehlt uns die zeitliche Distanz, die wir zu den antiken Mythen schon haben. Sie können wir, da wir nicht in ihrem Kontext leben, klassifizieren. Deshalb bemerken wir nicht bewusst, dass wir, ebenso wie die antike Gesellschaft, nach wie vor eine mythische Kultur sind.
Roland Barthes betont in diesem Zusammenhang, dass gerade die moderne Gesellschaft ständig neue Mythen produziert, um das gesellschaftliche Konstrukt zu legitimieren.[90] Er bezeichnet sie als Alltagsmythen.[91]
„Der Prozess der zunehmenden Rationalisierung (...) mündet nicht in eine gänzlich auf Vernunft und Ratio basierenden Ordnung.“[92]
In der Moderne haben wissenschaftliche Erklärungen die alten Mythen der Antike weitestgehend ersetzt. Auf der anderen Seite besteht jedoch auch die Möglichkeit der Naturalisierung dieser modernen Erklärungsweisen und des jeweils aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstandes, indem sie zu Mythen stilisiert werden.[93] Diese Natürlichkeit geht einher mit dem Glauben, dass die mythisch besetzten Objekte, weil auf faktischen Belegen beruhend, weder kritisiert noch verändert werden können.[94] Mit diesem mythischen Trick wird etwas, das immer auch hätte anders sein können, verbunden mit dieser einzigen möglichen Bedeutung. Mythisch ist heute alles, was eine falsche Evidenz präsentiert. Etwas wird als selbstverständlich ausgegeben, so wird die Erinnerung an den historischen Prozess und die Konstruktion des Objekts in diesem, unterschlagen.[95] Die modernen Mythen unterscheiden sich demzufolge in ihrer Substanz von den antiken, das mythische Prinzip und die Konstruktionsart bleiben hingegen gleich. Diesen Punkt werde ich detailliert in Kapitel 3.3 ausführen.
Die simulierte Rationalität und Natürlichkeit der Moderne erklärt unsere heutige Auffassung des Mythos. Die moderne Verwendung in der Umgangssprache ist die Vorstellung des Mythos als Begriff, der vermeintliches Wissen ausdrückt. Das Wort wird häufig in Zusammenhängen benutzt, die ausdrücken, dass etwas nicht wahr ist oder nicht bewiesen werden kann.
Ein Politiker zum Beispiel, dem etwas zur Last gelegt wird, würde den Vorwurf als Mythos bezeichnen, um zu sagen, dass diese Anschuldigung keine sachliche und reale Grundlage hat.[96]
„Einerseits verweist man den Mythos in das Reich der Fabeln, des Märchens, auf jeden Fall des Nicht- Überprüfbaren. Er entstamme eher der Tiefe des Gefühls, des Unbewussten, der Phantasie, ja, er sei mit Begriffen überhaupt nicht fassbar.“[97]
Wird der Begriff auf eine Person, eine Sache oder Ereignis bezogen, dann wird dieses Objekt im gesellschaftlichen Kontext glorifiziert oder ideologisiert.
Die geradezu inflationäre Verwendung[98] der Bezeichnung Mythos in der zeitgenössischen Literatur und in den verschiedensten Bereichen der öffentlichen Kommunikation ist auffällig. So erschien am 8.6.2009 in den Aachener Nachrichten ein Artikel mit der Überschrift „Mythos Tageschau soll bleiben“.[99]
1994 soll in einer Berliner Ausstellung zur Kulturgeschichte der Banane das Publikum mit dieser über die „Mythologie des gelben Dings“[100] aufgeklärt werden.
Als zum 30. Todestag des kubanischen Revolutionärs Ernesto Che Guevara 1996 eine wahre Bücherflut zu dieser historischen Persönlichkeit erscheinen soll, findet man in der Süddeutschen Zeitung diese Überschrift: „Ein Mythos kehrt zurück“.[101]
Die Medien haben ein altes Wort mit einer geheimnisvollen Aura wiederentdeckt, und da sie heute als dominierendes Informations- und Unterhaltungsmittel die Gesellschaft prägen, hat das Wort wieder vermehrt in den alltäglichen Sprachgebrauch Einzug gehalten. Nahezu alles ist heute als Mythos etikettierbar.[102] Der Terminus ist mit auffällig vielen Dingen und Objekten in eine Beziehung zu setzen. Zu Lebensmitteln, zu verstorbenen Persönlichkeiten, zu Fernsehformaten, den antiken Mythosgöttern oder gegenständlichen Objekten. Auch gesellschaftliche Werte, wie Glück und Liebe werden mystifiziert.[103] Diese ungegenständlichen Begriffe scheinen als Inhalt in der Mythosgestalt eine stoffliche Form zu erhalten. Diese Beobachtung zeigt, dass es notwendig ist, die zeitgenössische Verwendung eines so bedeutungsschweren, oder hinsichtlich seiner scheinbar universalen Anwendbarkeit, womöglich bedeutungsleeren alten Begriff kritisch zu beleuchten.[104]
Die Themen der antiken Mythen waren vielfältig, sie handelten von der Welt im Allgemeinen und Gottheiten im Spezifischen.[105] Dies ist auch heute nicht anders, nur die Transportmedien für den Mythos haben sich verändert. Diesen Punkt betont auch der Kulturhistoriker Hans Meurer.
„Trotz Wissenschaft und Technik leben die Mythen fort, zwar in anderer Form, aber trotz allem sehr lebendig. Filme sind zu den wichtigsten Mythenproduzenten unserer Zeit geworden, aber auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen haben Mythen Eingang gefunden.“[106]
Bilder, Texte oder Musik sind entscheidende Mythenträger in der heutigen Zeit. Sie stellen ein System dar.[107] Bevorzugt Medien mit symbolischem und bildhaftem Charakter dienen der Mythenübermittlung.
„Im 20. Jahrhundert hat das Fernsehen in westlichen Gesellschaften die Position eingenommen, die in der Antike der Mythos innehatte, beide erklären Welt in einem additiven Angebostsystem aus symbolhaften Geschichten.“[108]
Die Präsenz des Zeichens ist dabei eine notwendige Bedingung für beständiges Memorieren.[109] Wenn ein bildhaftes Mythossymbol, wie das des Che Guevara, ständig gegenwärtig ist, wird das Zeichen in unserem kollektiven Gedächtnis verankert und wir können immer wieder einen Bezug zu ihm herstellen.[110] Durch das wiederholte Dasein wird der mythische Begriff in dieser Zeichenform zu einer Natur, denn wir akzeptieren ihn als gelebte und erlebte Realität.
Die zeitgenössischen Mythen, die sich in unserer Gesellschaft finden lassen, haben meist keinen religiösen Hintergrund, zumindest nicht im buchstäblichen Sinne. Denn Götter, im überpersönlichen Bezugnahmesinn, schaffen wir uns mit Hilfe des Mythos immer noch. Die Themen der heutigen Mythen sind nicht mehr erdachte Göttergestalten und ihre Erlebnisse, sondern historische Persönlichkeiten, Dinge, Werte oder Ereignisse, die als Symbole und Ikonen der Massen dienen.[111] So existiert eine kulturelle und symbolische Gegenwelt zum Alltag des Rezipienten, die als Natur erlebt wird.
Diesen Denkansatz und die alltäglichen Mythen untersucht Roland Barthes in seinem Buch „Mythen des Alltags“. Er vertritt in seinem Werk eine eigene Vorstellung des Mythos im gesellschaftlichen Kontext und entwickelt ein Modell, das den semiologischen Aufbau des Mythossystems verdeutlicht.
3. Roland Barthes - Die Mythen des Alltags
Roland Barthes war ein französischer Literaturkritiker, Sprachwissenschaftler und Philosoph des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 12. November 1915 in Cherbourg/Frankreich geboren und verstarb 1980 in Paris. Seine Mythentheorie ist methodisch einzuordnen in den Bereich der Semiologie.[112]
Die Semiologie ist eine Wissenschaft, die „das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht“.[113] Sie analysiert, wie diese Zeichensysteme in einer Kultur Sinn und Bedeutung produzieren.[114]
Barthes definierte die Semiologie folgendermaßen:
„Was bedeutet mir also die Semiologie? Sie ist ein Abenteuer, das heißt etwas, was mir zustößt (was mir vom Signifikanten widerfährt)“[115]
Seine semiologischen Bezüge gewinnt er aus dem, was ihn unmittelbar umgibt, seinen alltäglichen Medien und dem aktuellen Lebensraum. Diese liefern Zeichenformen, die wir wahrnehmen.
Er stellte sich die Frage, wie sich die Natur des Zeichens verstehen lässt. Das Ergebnis seiner Forschungen war eine umfassende Zeichentheorie, die nicht von der Linguistik abhängig ist, sondern Objekte jeder Art (Natur, Technik oder Kunst), einbezieht.[116]
Hauptsächlich werde ich mich in meiner Untersuchung auf sein Werk „Die Mythen des Alltags“ beziehen. Barthes wendet sich dort Phänomenen zu, die nicht dem Bereich der hohen Kunst angehören. Die Grenze zwischen Hoch- und Massenkultur durchbrach er so und sprach mit dieser Methode eine große Leserschaft an.[117]
Er betrachtete unsere Lebenskultur kritisch, die Zeichen der Gesellschaft begriff er als Redeweisen und Artikulationsformen, in denen sich Ideologie verbirgt. Diese galt es als Metasprache zu entschlüsseln.[118] Er versucht das Wirken moderner Redeweisen mit mythischem Charakter anhand einiger exemplarischer Objekte der Alltags- und Massenkultur zu entlarven.[119]
Diese mythischen Aussagen umgeben uns jeden Tag. Wir erkennen sie nicht als solche, da sie Natürlichkeit vorgaukeln, ihre Entstehung aber eigentlich nur ein kulturelles Produkt ist. Über diese mythischen Sprachsysteme organisieren wir das gesellschaftliche Konstrukt und legitimieren es. Seiner Ansicht nach sind tradierte gesellschaftliche Riten und Zeremonien, zum Beispiel Hochzeiten,[120] auch als Mythen zu bezeichnen.
Er geht von einzelnen, detaillierten Beispielen aus, um herauszufinden, wie es der modernen Gesellschaft gelingt, Kultur in universelle Natur zu transformieren.[121] Barthes bezeichnet diese kulturell entstandenen Konstrukte als Alltagsmythen.
Zwischen den Jahren 1954 und 1956 veröffentlichte er monatlich kleine Essays als Artikelfolge in der Zeitschrift „Les Lettres Nouvelles“.[122] Er beschäftigte sich in diesen mit den Mythen des französischen Alltagslebens. Dabei war das Material sehr vierschiedenartig und die Themen willkürlich.
Untersuchungsgegenstände wurden Objekte, die ihm im alltäglichen Leben zufällig begegneten, zum Beispiel Zeitungsartikel, Filme oder Gebrauchs- gegenstände.
„(...) handelte sich offensichtlich um das, was für mich aktuell war.“[123]
Diese Essays veröffentlichte er als Buchform im Jahr 1957. Im ersten Teil aus ausgewählten Aufsätzen dieser Artikelserie bestehend, ergänzte er diesen mit einem zweiten Teil, dem theoretischen Aufsatz „Der Mythos heute“. Dieser zweite Teil systematisiert die Essays und definiert den zeitgenössischen Mythos methodisch.[124] Darin entwirft er ein semiotisches Modell, das zu klären sucht, wie moderne Mythen funktionieren.[125]
Nach Ottmar Ette ist dieses Werk „ein Meilenstein innerhalb dieser Denkrichtung, gerade in ihrer Anwendung auf die Gesellschaft“.[126]
Das Wesentliche in Roland Barthes Denkansatz ist, dass er den Mythos beständig am Konkreten erweist, anhand der Dinge des alltäglichen Lebens, nicht zuerst am Abstrakten. Alles kann für Barthes mythischer Untersuchungsgegenstand sein. Er wendet sich heterogenen Gegenständen und Themen zu, dem neuen Citroen, dem Gesicht der Garbo, Einsteins Gehirn oder Beefsteak und Pommes.[127] Jeder Gegenstand der Welt kann von einer „geschlossenen, stummen Existenz, zu einem besprochenen, für die Aneignung durch die Gesellschaft offenen Zustand übergehen.“[128]
Auch Hübner bemerkte die vielfältigen Erscheinungsformen der Mythen.
„Sind nicht gerade die Mythen durch ihre beinahe unübersehbare Mannigfaltigkeit gekennzeichnet?“[129]
In seiner Vorbemerkung erläutert Roland Barthes den Anlass einer solchen Reflexion. Natur und Geschichte wird in seinen Augen in den Medien und der Kunst ständig verwechselt. Ein Symbolsystem suggeriert dem Rezipienten dort Natürlichkeit, als habe die Natur selbst es so gebildet. Dabei ist es nur ein Objekt, dass durch geschichtliche und kulturelle Prozesse entstanden ist.
„Ich litt also darunter, sehen zu müssen, wie „Natur“ und „Geschichte“ ständig miteinander verwechselt werden und ich wollte (...), den ideologischen Missbrauch aufspüren, der sich meiner Meinung nach darin verbirgt.“[130]
Für Barthes existiert die tägliche Illusion, die bourgeoise-kleinbürgerliche Kultur, die ein gesellschaftliches Konstrukt ist, sei natürlich. Die simulierte Natürlichkeit ist im Mythos kulturell organisiert und in der Ideologie manipuliert.[131] Das Prinzip des Mythos ist dabei, Geschichte in Natur zu verwandeln.[132] Diesen ideologischen Missbrauch und die Fähigkeit der Gesellschaft, Kultur in universelle Natur zu transformieren, galt es sowohl theoretisch als auch praktisch aufzudecken.
„Der Anspruch der Mythen des Alltags ist es, detailliert jene Strategien und Techniken zu untersuchen, durch die die (klein-) bürgerliche Kultur in vermeintlich-universelle Natur transformiert wird.“[133]
Zu dieser Analyse entwickelte er zunächst eine eigene Definition des Terminus Mythos, auf die ich mich in meiner Untersuchung beziehe.
3.1 Definition des Mythos im Sinne Roland Barthes
Nach Barthes` Definition ist der Mythos eine Aussage,[134] eine spezifische Art und Weise des Bedeutens. Der Mythos wird somit nicht durch den Inhalt oder den Gegenstand seiner Aussage definiert, sondern durch die Aussageform. Er hat die gesellschaftliche Funktion eines Sprachsystems und eines Kommunikationsmittels.[135]
„Der Mythos ist eine von der Geschichte gewählte Aussage, aus der Natur der Dinge möchte er nicht hervorzugehen. Diese Aussage ist eine Botschaft.“[136]
Er ist ein spezielles Zeichensystem, das auf einem primären Zeichensystem aufbaut und ist folglich ein Symbolsystem zweiter Ordnung.
Barthes gibt zu, dass er den Mythos zunächst in seinem traditionellen Sinne
verstanden hatte,[137] jedoch erschien ihm diese Definition unzureichend und dem Extensionsumfang dieses Begriffs nicht gerecht werdend. Er sieht ihn eher als Sprachsystem, mit dem Menschen kommunizieren.
„Der Mythos ist eine Sprache.“[138]
Nicht jede beliebige Aussage ist ein Mythos, er ist eine Botschaft, die erst unter bestimmten Bedingungen zum Mythos wird.[139]
Demzufolge entfällt die substantielle Unterscheidung zwischen den mythischen Objekten, denn unter konkreten Kontexten kann jeder Inhalt mythisches Potential haben und eine Form für menschliche Vorstellungen werden. Der Mythos kann also folglich nicht durch seine Materie definiert werden, denn jede beliebige Materie kann mit Bedeutung ausgestattet werden.[140] Sie ist nicht auf die mündliche Form beschränkt, sie kann ebenso aus Schrift oder Darstellungen bestehen.[141]
3.2 Das Mythenmodell nach Roland Barthes
Roland Barthes Mythentheorie stützt sich auf die strukturalistischen Grundannahmen Ferdinand de Saussures[142] und dessen allgemeiner Wissenschaft der Semiologie.[143] Da Saussures Sprachtheorie und seine Terminologie Grundlage für Barthes semiologische Mythentheorie ist, werde ich in diesem Kapitel zunächst eine kurze Übersicht geben.
[...]
[1] Bulfmann 1941: 22
[2] Barthes 1964: 112
[3] Vgl. Bleicher 1999: 314
[4] Vgl. Bleicher 1999: 14
[5] Vgl. Bleicher 1999: 15
[6] Vgl. Barthes 1964:128
[7] Vgl. Völker-Rasor 1998: 13
[8] Vgl. Benseler 1900: 553
[9] Vgl. Brockhaus - die Enzyklopädie 1998: 142
[10] Vgl. Menge 2005: 212
[11] Vgl. Müller 2002: 313
[12] Vgl. ebd.
[13] Vgl. Müller 2002: 309
[14] Vgl. ebd.
[15] Hell 2003: 133-134
[16] Conradi 2009: 279
[17] Vgl. Völker-Rasor 1998: 13
[18] Vgl. Müller 2002: 344
[19] Vgl. Volkmann-Schluck 1969: 11
[20] Vgl. Csobádi 1989: 52
[21] Vgl. Völker-Rasor 1998: 16
[22] Zinser 1992: 147
[23] Vgl. Horstmann 1984: 300
[24] Vgl. Stetter 2005: 100
[25] Vgl. Röttgers 1998: 225
[26] Vgl. Platon 2006: 377a
[27] Vgl. Horstmann 1984: 282
[28] Vgl. ebd.
[29] Vgl. Müller 2002: 311
[30] Vgl. ebd.: 312
[31] Aristoteles 1994: 20
[32] Vgl. Müller 2002: 312
[33] Vgl. Volkmann-Schluck 1969: 14
[34] Vgl. Armstrong 2005: 8
[35] Vgl. ebd.
[36] Vgl. ebd.
[37] Vgl. Bleicher 1999: 15-18
[38] Vgl. Kohl 1992: 8
[39] Vgl. Blumenberg 1979: 167
[40] Vgl. Kohl 1992: 9
[41] Vgl. Cürsgen 2002: 182
[42] Vgl. Feuerbach 1986: 24
[43] Vgl. Volkmann-Schluck 1969: 11
[44] Vgl. Dahlheim 1997: 115
[45] Zinser 1992: 157
[46] Vgl. Stetter 2005: 100
[47] Malinowski 1979: 82
[48] Vgl. Merten 2004: 23
[49] Vgl. Bleher 2002: 244
[50] Vgl. Colomba 2005: 328
[51] Vgl. Kappelmayr 2001: 397
[52] Vgl. Müller 2002: 314
[53] Vgl. Beutel 2009: 86
[54] Vgl. Armstrong 2005: :12
[55] Vgl. Conradi 2009: 201
[56] Kant 1784: 481
[57] Vgl. Hübner 1985: 15
[58] Vgl. Horstmann 1984: 287
[59] Vgl. Conradi 2009: 245
[60] Vgl. Müller 2002: 320
[61] Vgl. Gottsched 1973: 31-61
[62] Vgl. Hübner 1985: 15
[63] Vgl. ebd.
[64] Vgl. Conradi 2009: 202
[65] Adorno; Horkheimer 1981: 19
[66] Vgl. Armstrong 2005: 7
[67] Vgl. Lange 2009: 321
[68] Prang 1968: 78
[69] Vgl. Gockel 1981: 16
[70] Horstmann 1984: 287
[71] Vgl. Horstmann 1984: 290
[72] Vgl. ebd.: 292
[73] Vgl. Koopmann 1979: 324
[74] Vgl. Schelling 1837/1842
[75] Vgl. Horstmann 1984: 292
[76] Schelling 1800: 629
[77] Vgl. Horstmann 1984: 295
[78] Vgl. Koopmann 1979: 325
[79] Vgl. Armstrong 2005: 119
[80] Schelling 1797; zitiert nach Bubner 1979: 318
[81] Adorno; Horkheimer 1981: 28
[82] Horstmann 1984: 303
[83] Vgl. Völker-Rasor 1998: 7-11
[84] Vgl. Müller 2002: 341-342
[85] Vgl. Völker-Rasor 1998: 14
[86] Vgl. Zinser 1992: 147
[87] Vgl. Völker-Rasor: S. 14
[88] Vgl. Kolesch 1997: 38
[89] Stetter 2005: 100
[90] Vgl. Barthes 1964: 126- 129
[91] Vgl. ebd
[92] Vgl. Kolesch 1997: 38
[93] Vgl. ebd.: 39
[94] Vgl. ebd.: 34
[95] Vgl. ebd.: 39
[96] Vgl. Armstrong 2005: 12
[97] Hübner 1985: 15
[98] Vgl. Völker-Rasor 1998: 9
[99] dpa 2009: 22
[100] Völker-Rasor 1998: 9
[101] ebd.
[102] Vgl. ebd.
[103] Vgl. Mary 2004
[104] Vgl. Völker- Rasor 1998:10
[105] Vgl. Conradi 2009:279
[106] Meurer 2001: 7
[107] Vgl. Adorno; Horkheimer 1981: 141
[108] Bleicher 1999: 15
[109] Vgl. Stetter 2005: 136
[110] Vgl. Bleicher 1999: 300
[111] Vgl. Bleicher 1999: 301- 302
[112] Vgl. Kolesch 1997: 10
[113] Saussure 2001: 19
[114] Vgl. Kolesch 1997: 9
[115] Barthes 1988: 8
[116] Vgl. Neumann 1979: 298- 300
[117] Vgl. Kolesch 1997: 36
[118] Vgl. ebd.
[119] Vgl. Kolesch 1997: 32
[120] Vgl. Barthes 1964: 127
[121] Vgl. Kolesch 1997: 39
[122] Vgl. Barthes 1964: 7
[123] Barthes 1964: 7
[124] Vgl.ebd.: S.8
[125] Vgl. Kolesch 1997: 35
[126] Ette 1998: 108
[127] Vgl. Kolesch: 1997: 35
[128] Barthes 1964: 86
[129] Hübner 1985: 16
[130] Barthes 1964: 7
[131] Vgl. Neumann 1979: 301
[132] Vgl. Barthes 1964: 113
[133] Kolesch 1997: 35
[134] Vgl. Barthes 1964: 85
[135] Vgl. Barthes 1990: 36
[136] Barthes 1964: 85
[137] Vgl.ebd.: 7
[138] ebd.
[139] Vgl.ebd.: 85
[140] Vgl. ebd.: 87
[141] Vgl. ebd.: 85
[142] Vgl. Kolesch 1997: 13-15
[143] Vgl. Barthes 1985: 7
- Arbeit zitieren
- Magister Mirja Fürst (Autor:in), 2009, Zeitgenössische Mythen und ihre gesellschaftliche Konstruktion, Rezeption und Funktion - Das Bildnis Che Guevaras, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163104
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