Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Flucht auf der Rattenlinie
2.1 Akteure der Rattenlinie
2.1.1 Mythos Odessa
2.1.2 Flüchtlingsland Argentinien
2.1.3 Internationales Rotes Kreuz
2.1.4 Katholische Kirche und Vatikan
2.1.4.1 Kroatischer Franziskaner-Priester Krunoslav Draganovic
2.1.4.2 Österreichischer Bischof Alois Hudal
2.1.4.3 Papst Pius XII und Giovanni Montini
2.2 Moralisch-ethische Bewertung dieser Fluchthilfe
3 Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist durch den Nationalsozialismus, wie auch den Zweiten Weltkrieg, in außerordentlicher Weise geprägt worden. Die Erforschung dieser Massenverbrechen und Völkermorde lief recht verhalten an, da „das Kapitel NS-Vergangenheit […] Mitte der 1950er Jahre vermeintlich abgeschlossen“[1] war. In den letzten Jahrzehnten etablierte sie sich zunehmend, sodass heute eine kaum überschaubare, vielfältige Zahl an Publikationen zu dieser Thematik vorliegt. Einen zentralen Raum hierbei nimmt die NS-Täterforschung ein, doch die Zahl an Veröffentlichungen zu der Flucht von Kriegsverbrechern und SS-Angehörigen ist im Vergleich mit der Gesamtpublikationszahl zu diesem Gegenstand verschwindend gering. Dies hängt auch damit zusammen, dass verschiedene amerikanische Geheimdienst-Archive der Nachkriegszeit erst seit den 80er Jahren zugänglich sind.[2] Offen, aufschlussreich und direkt charakterisieren nur wenige Autoren das Faktum der Fluchthilfe für Naziverbrecher, wie zum Beispiel Rena und Thomas Giefer, aber auch Gerald Steinacher.
Die alliierten Siegermächte verhafteten kurz nach der Kapitulation im Mai 1945 Spitzenleute des Nazi-Regimes, wie Heinrich Himmler, Joachim von Ribbentrop und auch Robert Ley, die sich zuvor den alliierten Fahndern durch Tarnung zu entziehen versucht hatten. Sie hielten somit an ihrem Vorhaben fest, die Nazi-Kriegsverbrecher in ihrer Gesamtheit zur Rechenschaft ziehen zu wollen, wie sie es 1943 bereits in der „Moskauer Erklärung“ angekündigt hatten.[3] Für die weiteren nationalsozialistischen Kriegsverbrecher war spätestens zu diesem Zeitpunkt klar, dass sie früher oder später zur Rechenschaft gezogen werden würden, wenn sie sich nicht ins Ausland absetzen. Bestärkt wurden sie nochmals dadurch, dass Ende 1944 die BBC die kontinuierliche Aktualisierung einer Liste vornahm, die die Namen mutmaßlicher Kriegsverbrecher trug, denen nach Kriegsende ein Strafverfahren drohen würde.[4]
Die Zahl der Flüchtigen nach dem Zweiten Weltkrieg war ungeheuer groß und es herrschte im an Deutschland angrenzenden Ausland eine Ausnahmesituation, in der es galt Millionen von Flüchtigen und Vertriebenen einen Neuanfang zu ermöglichen, die heimatlos und zudem ohne Geld und Papiere waren. Da die Alliierten für Deutschland ein generelles Auswanderungsverbot verhängt hatten, dies jedoch nicht im angrenzenden Ausland galt, setzte sich die deutsche Bevölkerung von Nord nach Süd in Bewegung.
Aufgrund dieser Überbelastung der Behörden und der Polizei, stellte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bereits ab Herbst 1944 Reisepapiere für Flüchtige aus. Die NS-Täter konnten durch diese allgemeine Verwirrung zunächst aufatmen, da hierdurch ihre Ortung gänzlich unmöglich wurde, zumal ihre Gräueltaten zu diesem Zeitpunkt oftmals noch gar nicht aktenkundig waren. Sie nutzten die Situation aus, dass vielfach Reisedokumente ohne Identitätsnachweise ausgestellt wurden und konnten hiermit im Ausland untertauchen.
Die wahre Zahl der flüchtigen NS-Verbrecher lässt sich nicht mehr rekonstruieren und variiert je nach Täterdefinition und Fluchtlandauswahl. Es kann jedoch von einer Gesamtzahl im vierstelligen Bereich ausgegangen werden. Allein in das Flüchtlingsland Argentinien wanderten „300 bis 800 höhere NS-Funktionäre, darunter etwa 50 schwer belastete Kriegsverbrecher und Massenmörder“[5] aus (nach Holger Meding). Unter diesen befanden sich auch viele mit schweren Vorwürfen belastete Massenmörder. Exemplarisch können an dieser Stelle nur einige bekannte flüchtige Nationalsozialisten aufgelistet werden: Josef Mengele, Klaus Barbie, Adolf Eichmann, Gerhard Bohne, Erich Priebke, Berthold Heilig, Ante Pavelic, Walter Rauff, Eduard Roschmann oder auch Franz Stangl.
Der Begriff Rattenlinie bezeichnet allgemein im Spionagejargon einen präparierten Weg, über welchen Flüchtlinge oder auch Agenten verdeckt in ein Land hinein oder aus einem Land herausgeschleust werden. Die Fluchtrouten der Nazis, die ebenso Rattenlinien oder auch Klosterrouten genannt wurden, verliefen vordergründig über Italien nach Nord- und Südamerika, v.a. nach Argentinien, aber auch in den Nahen Osten, wie Syrien und Ägypten. Entlang dieser Routen existierten gleichnamige Unterschlupfmöglichkeiten, die so genannten „Rattenhäuser“. Die Rattenlinie wurde auch als Klosterroute oder Vatikanlinie bezeichnet, da sich unter der Bezeichnung „Rattenhäuser“ nicht nur öffentliche Gasthäuser und Unterkünfte bei Privatleuten subsumieren, sondern eben auch Unterschlupfmöglichkeiten in Klöstern.
Die geleistete Fluchthilfe entwickelte sich von einer zunächst improvisierten Hilfe Einzelner zu einem umfassenden, länderübergreifenden Fluchthilfegefüge. Die transnationalen Hilfestellungen zur Flucht waren weit gefächert und unterschiedlich motiviert. Argentinien zum Beispiel bemühte sich deutsche Fachkräfte für Militär und Technik anzuwerben und nutzte nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Staatspräsidenten Juan Perón auch diesen illegalen Weg für sich aus, um Argentinien zum führenden Industrieland zu machen.[6]
Inhalt dieser Arbeit soll nicht nur die Skizzierung der Fluchthilfe sein, sondern auch eine Betrachtung moralisch-ethischer Aspekte. Es muss die Frage untersucht werden, ob das Verhalten der katholischen Kirche in dieser konkreten Situation angemessen war, d.h. ob sie gemäß ihres Auftrages als Institution Kirche agiert hat oder ob sie den ethischen Ansprüchen, die an sie gestellt werden, nicht gerecht werden konnte. Bereits die Forschungspositionen, die sich ein Urteil über das Verhalten der katholischen Kirche im Nationalsozialismus allgemein gebildet haben, divergieren sehr stark: Sie reichen von weitgehender
Anpassung bis zu einem durchaus durchgehaltenen Widerstandscharakter der Kirche.[7] Dementsprechend wird eine ethische Konklusion in diesem spezifischen Fall vermutlich auch ambivalent ausfallen und sowohl die Verhaltensweise des Vatikans scharf kritisieren als auch mögliche Gründe zu seiner Entschuldigung anführen.
2 Flucht auf der Rattenlinie
Die Flucht auf der Rattenlinie war gut organisiert und tausendfach erprobt. Bei dieser komplexen Fluchtbewegung kristallisierten sich nach und nach Strecken und Anlaufstationen heraus, die die Flucht erleichterten und sich schnell bei den Fluchtwilligen herumsprachen. Die Fluchtroute führte zunächst über den Brennerpass nach Rom und von dort in die Hafenstadt Genua, von wo es möglich war mit dem Schiff nach Übersee zu gelangen. Insbesondere die Alpenüberquerung stellte eine Schwierigkeit dar, da sie zum einen nun wetterabhängig möglich war und hohe Anforderungen an den körperlichen Gesundheitszustand der Flüchtlinge stellte, aber zum anderen die Grenze zwischen Österreich und Italien streng kontrolliert wurde. Die Auswanderer konnten jedoch auf eine jahrhundertealte Einrichtung zurückgreifen, die es ihnen möglich machte, die gut bewachte Grenze zu passieren: das Schmugglerwesen. Besonders in den wirtschaftlich schlechten Nachkriegsjahren blühte das Schmugglerwesen auf und wurde durch Menschen als Schmugglerware über die so genannte „grüne Grenze“ zu einem lukrativen Nebenerwerbsgeschäft für die Einheimischen. Erfahrene Bergführer kannten die Örtlichkeiten, es wurden private Kontakte zu Zöllnern und Finanzwachen ausgenutzt, sodass die Auswanderungswilligen unbemerkt über die Grenze geschmuggelt werden konnten. Falls der Versuch der Grenzüberquerung fehlschlug, konnte man es an den folgenden Tagen immer wieder probieren, bis der Übertritt unbemerkt gelang. Die Zahl dieser illegalen Grenzüberquerungen kann nicht ermittelt werden, jedoch kann auf diese durch die Zahl der abgefangenen Grenzüberschreitungsversuche geschlossen werden. Vermutlich liegt sie deutlich höher als diese. 1947 verzeichneten die italienischen Behörden die höchste Zahl von versuchten Grenzüberschreitungen an der Brennergrenze mit 8.315 festgenommenen Personen. Bald kristallisierten sich bestimmte Gebirgspässe und Städte heraus, die als Durchgangs- oder Sammelpunkt gut geeignet waren. Hierzu zählen Innsbruck, der Alpenkurort Nauders in Tirol, die Brenner- und Reschenlinie, wie auch verschiedene Routen über das Hochgebirge.[8] „Zynischerweise kreuzten sich auf den Fluchtrouten über die Alpen häufig die Wege der gesuchten Nazi-Verbrecher mit denen ihrer Opfer, die nach Palästina auswandern wollten.“[9] Simon Wiesenthal berichtet sogar, dass sie zeitweilig in denselben Gasthäusern auf unterschiedlichen Etagen unterkamen und nicht voneinander wussten.[10] Die Gastwirte bzw. verschiedene andere Anlaufstellen oder Mittelsmänner wussten oftmals wenig über die Identität der Flüchtlinge. Heute sind noch unzählige Gasthäuser namentlich bekannt, die den Auswanderungswilligen Unterschlupf boten und auch prominente NS-Verbrecher, wie Franz Stangl, den Lagerkommandanten der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, beherbergten.
Zum Nazi-Schlupfloch Nummer eins entwickelte sich Südtirol, da sein rechtlicher Status jahrelang unklar blieb, da es territorial und staatsrechtlich keinem Land zugehörig war.[11]
2.1 Akteure der Rattenlinie
2.1.1 Mythos Odessa
An dieser Stelle soll kurz auf den Begriff Odessa eingegangen werden, der bei der Literaturrecherche zu dieser Arbeit immer wieder aufkam:
ODESSA ist die Abkürzung für „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“ und hinter diesem Decknamen soll sich eine verschwörerische Geheimorganisation der SS Untergrundbewegung, die sich zum Ziel gemacht hatte Kriegsverbrecher unbemerkt aus Deutschland nach Südamerika zu transportieren, verbergen. Sie entstand im Jahr 1947 und umfasste bereits nach kürzester Zeit ein weltweites, straff organisiertes Fluchtnetz unter Mitarbeit von alliierten Geheimdiensten, dem Vatikan, argentinischen Geheimorganisationen, Perón und der Schweizer Regierung. Odessa erarbeitete Pläne für zwei Hauptfluchtwege: Von Bremen nach Rom und von Bremen nach Genua. Das Netz war dicht geknüpft und funktionierte gut, da alle vierzig Kilometer eine Anlaufstelle an der deutsch-österreichischen Grenze eingerichtet war und die Stationen gut getarnt waren, sodass sie unauffällig blieben.[12]
[...]
[1] Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck 2008 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 26), S. 8.
[2] Vgl. Giefer, Rena u. Thomas: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis – Eine Dokumentation. 2., durchges. Aufl. Frankfurt a.M. 1992, S. 8.
[3] Vgl. Fiedler, Teja (2005): Nazis auf der Flucht. URL: http://www.stern.de/politik/geschichte/teil-5-das-verschwinden-der-nazis-nazis-auf-der-flucht-538051.html (letzter Zugriff: 04.03.2010).
[4] Vgl. Goñi, Uki: Odessa – Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Aus dem Englischen von Theo Bruns und Stefanie Graefe übersetzt. Berlin/Hamburg 2006, S. 79f.
[5] Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck 2008 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 26), S. 8.
[6] Vgl. Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck 2008 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 26), S. 242.
[7] Vgl. Steinhoff, Marc: Widerstand gegen das Dritte Reich im Raum der katholischen Kirche. Frankfurt a.M. 1997 (Elementa Theologiae: Arbeiten zur Theologie und Religionspädagogik, Bd. 9), S. 158.
[8] Vgl. Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck 2008 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 26), S. 30-33.
[9] A.a.O., S. 34.
[10] Wiesenthal, Simon: Doch die Mörder leben. München/Zürich 1967, S. 109.
[11] Steinacher, Gerald: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen. Innsbruck 2008 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 26), S. 47.
[12] Vgl. Wiesenthal, Simon: Doch die Mörder leben. München/Zürich 1967, S. 104-109.