Die Opfertheorien von Hubert/Mauss und Smith/Doniger in Anwendung auf das Agnihotra


Hausarbeit (Hauptseminar), 1999

21 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Die Opfer-Theorien von Hubert/Mauss und Smith/Doniger
1. Hubert/Mauss: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice
2. Smith/Doniger: Sacrifice and Substitution

III. Anwendung der Theorien auf das Agnihotra
1. Kurzdarstellung des Rituals
2. (De-)Sakralisation
3. Substitution
4. Krimineller Charakter des Opferns

IV. Schluss: Bewertung des Ergebnisses

Bibliographie

I. Einleitung

Das Opfer ist ein Phänomen fast aller Religionen und somit für die Religionswissenschaft innerhalb einer Theorie und Typologie von zentraler Bedeutung.[1] In der vedischen Religion ist das Opfer ein besonders wichtiges Element; es wird in den Veden ausführlich beschrieben und in den Gesamtzusammenhang religiöser Weltvorstellungen gebracht. An seinem Beispiel ist deshalb eine Vielzahl von Theorien des Opfers entwickelt worden. Diese Arbeit möchte exemplarisch zwei religionswissenschaftliche Opfertheorien vorstellen, um sie auf eine konkrete Opferpraxis zurückzuführen. Als Opfertheorien wurde zum einen mit Hubert/Mauss´ „Essai sur la Nature et la Fonction du Sacrifice“ ein religionswissenschaftlicher Klassiker gewählt, mit Smith/Donigers Artikel „Sacrifice and Substitution“ dagegen eine neue Arbeit, die sich u.a. auf Hubert/Mauss rückbezieht. Beide Arbeiten nehmen vedische Opfer als Grundlage ihrer theoretischen Überlegungen. Mein Anspruch ist es nicht, die postulierte Allgemeingültigkeit der Theorien zu prüfen[2], auch sollen die Arbeiten nicht primär kritisch hinterfragt werden[3]: ihre Anwendbarkeit wenigstens auf vedische Opfer ist durch ihre Orientierung an diesen gegeben. Vielmehr sollen sie helfen, die Vorgänge in einem weiteren vedischen Opfer zu erhellen: den Abschluss der Arbeit soll deshalb eine Besprechung des Agnihotra unter Anwendung der referierten Theorien bilden.

II. Die Opfer-Theorien von Hubert/Mauss und Smith/Doniger

1. Hubert/Mauss: Essai sur la Nature et la Fonction du Sacrifice

Der Aufsatz von Hubert/Mauss erschien zuerst 1898 in Paris in „L´Année sociologique“; 1964 gab Evans-Pritchard eine englische Übersetzung heraus[4]. In seinem Vorwort wertet er die Arbeit als eine der wichtigsten zum Thema[5], die fast eine „Grammatik“ des Opferritus liefere[6].

In ihrer Einführung[7] diskutieren Hubert/Mauss die vorausgegangenen Opfertheorien von Tylor, Robertson Smith und Frazer. Sie stellen sich selbst im Gegensatz zu diesen die Aufgabe, den Austreibungsaspekt des reinen oder unreinen „sacred spirit“[8] als Hauptkomponente des Opfers zu demonstrieren, nicht aber dessen Ursprung und Geschichte zu entwerfen. Als Untersuchungsobjekte dienen vedische und alttestamentarische Texte[9].

Das erste Kapitel[10] gibt eine grundlegende Definition der Termini[11]. Opferer/Opferherr („sacrifier“, sic!) wird bezeichnet, wer vom Opfer profitiert. Dies ist meist eine Einzelperson, die auch als Repräsentant einer Personengruppe auftreten kann, oder aber diese Gruppe selbst. Profitiert der Opferer nur indirekt von dem Opfer (z.B. durch ein Opfer für sein Haus), so ist das, um dessentwillen das Opfer vollzogen wird, Objekt des Opfers („object of sacrifice“). Als Opfergabe/Opfermaterie („victim“) bezeichnen Hubert/Mauss den Mittler („intermediary“) zwischen Opferer bzw. Opferobjekt und der Gottheit, an die sich das Opfer richtet; sie erfährt eine Weihung („consecration“) in deren Verlauf sie (wenigstens teilweise) zerstört wird. Anhand dieser Definition von Opfergabe grenzen die Autoren eine Darbietung ohne Zerstören[12] („offering“), sowie eine als direkt verstandene Kommunikation zwischen Opferer und Gottheit (wie Darbringung eigenen Blutes oder eigener Haare[13] ) vom Opferbegriff ab. Als Opfer („sacrifice“) sehen sie letzlich eine religiöse Handlung, die durch die Weihung einer Opfergabe den Zustand („condition“) des Opferers oder des Opferobjekts modifiziert. Bei persönlichen Opfern („personal sacrifices“) erfährt der Opferer den Effekt des Opfers direkt, bei Objektopfern („objective sacrifices“) indirekt über das reale oder ideelle Opferobjekt. In dieser Definition sehen Hubert/Mauss die von ihnen trotz Vielfalt der Erscheinungsformen angenommene Einheitlichkeit der Opfer („generic unity of sacrifices“) berücksichtigt. Die einheitliche Essenz der Opferrituale zeige sich darin, dass ähnliche Handlungen mit gegensätzlichen Zielen auftreten (z.B. Reinigung - Kommunion); die Autoren erkennen sie in der Sakralisierung („sacralization“), dem Sich-Annähern von sakraler und profaner Welt[14].

Das zweite Kapitel[15] entwirft ein Schema des Opfers am Beispiel des vedischen Tieropfers. Absicht des Opferers ist eine vorübergehende Annäherung an (und Eintritt in) die sakrale Welt: hierfür müssen meist bestimmte zeitliche Voraussetzungen erfüllt sein. Da ein plötzlicher Wechsel vom Profanen zum Sakralen (und umgekehrt) als gefährlich aufgefasst wird, muss der Opferer bestimmte Riten vollziehen, die seinen Sakralitätsstatus entsprechend erhöhen bzw. senken. Innere und äußerliche Reinigung (Fasten, Waschen) sind Hauptkennzeichen dieser rituell festgelegten Eintritts- und Austrittsphasen („entry“, „exit“). Ihnen werden auch die benötigten Geräte, der Ort und die Opfergabe unterzogen, die zudem bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen (besonders wichtig ist Art und Aussehen der Opfergabe). Das Ritual kann (oder muss) von einem oder mehreren Priestern geleitet werden, die als solche schon einen sakralen Status haben und mit ihrem Wissen gefährliche Fehler im Kontakt mit der Götterwelt umgehen. Mit steigendem Sakralitätsstatus übernimmt der Opferer meist bestimmte, seine Annäherung an die Welt des Sakralen unterstreichende Verhaltensweisen und Pflichten (Schweigen o.ä.). Kommunikationsmedium aber ist letztlich die Opfergabe, in welcher (wie auch im Priester) Opferer und Opferadressat gleichermaßen symbolisiert sind. Ihre (teilweise) Zerstörung/Tötung, der meist andere Riten (Libationen, Prozessionen etc.) hinleitend vorausgehen, bedeutet ihren völligen Eintritt in den sakralen Bereich. Tötung hat dabei immer auch einen kriminellen Charakter: die Opfergabe steht an Stelle des Opferers und wird deshalb rituell um Erlaubnis zur Tötung gebeten; im vedischen Tieropfer wenden sich die Anwesenden während des Erdrosselns des Tieres ab. Im Beispielopfer folgt ein rituelles Zerschneiden, Zubereiten und Verbrennen bestimmter Teile des Opfertieres; andere Teile werden von Opferer und Priestern (Götter repräsentierend) gemeinsam verspeist: die adressierte Gottheit wird dabei als die Opfergabe zu sich nehmend gedacht. Das gesamte Geschehen verläuft in einer bestimmten Atmosphäre: die sodann (praktisch den Eintritt umkehrende) Austrittsphase hilft, die Teilnehmer geregelt in die Normalität zu entlassen.

Das dritte Kapitel[16] bespricht die Variationen, die sich aus den zwei Grundfunktionen des Opfers ergeben (Sakralisierung und Desakralisierung). Opferrituale besitzen ein gemeinsames Rohmaterial an Elementen (Reinigung, Huldigung, Anrufung, körperlicher Kontakt, Vernichtung etc.), die diesen Funktionen entsprechend angeordnet werden. Der Sakralitätsstatus des Opferers gibt hierzu Anhaltspunkte: ist er zunächst neutral und soll dauerhaft gehoben werden (Initiation, Weihung allgemein), so ist die Eintrittsphase besonders lang, der Austritt dagegen verkürzt und der Opferer (das Opferobjekt) muss in direktem Kontakt zur Opfermaterie stehen, welche die angestrebten Charakteristika verkörpert und mittels göttlicher Mächte auf ihn überträgt (Opfer zur Sakralisierung - „sacrifice of sacrilization“). Ist ein sakraler Status - rein oder unrein - schon vorhanden und soll aufgehoben werden (Austreibungen und Heilungen, Austritt aus dem Priesterstand), so geht mit der Zerstörung der Opfergabe der sakrale Charakter ganz in die Götterwelt ein, verlässt also den Opferer / das Opferobjekt (Opfer zur Desakralisierung - „sacrifice of desacralization“). Hier betonen Hubert/Mauss wieder die Ambiguität des sanctum: religiöse Reinheit und Unreinheit werden im Opfer auf gleiche Weise behandelt und nicht als Opposition verstanden.

Kapitel vier[17] behandelt Variationen aufgrund spezieller Funktionen des Opfers (persönliche, Objekt-, agrarische Opfer). Persönliche Opfer beginnen und enden beim Opferer, sie verbessern im Sinne des Opferers dessen Sakralitätsstatus, weisen oft eine Wiedergeburtssymbolik auf (neuer Name etc.), sollen der Unsterblichkeit der Seele dienen. Im Objektopfer ist Ein- und Austritt verkürzt; das Geschehen konzentriert sich auf die Übertragung des Heiligen auf das Objekt, auf seine Vernichtung im Opfer oder/und die Wandlung der Opferkraft in reinen Geist. Auch Bitt-Opfer („sacrifice of request“) sind Objektopfer: sie können Vertragscharakter im Sinne eines do ut des haben oder nach erfülltem Versprechen des Opferers eine Art Austreibung darstellen. Agrarische Opfer („agrarian sacrifices“) sind meist Kombinationen aus Sakralisierungs- und Desakralisierungsopfern, bei denen die zunächst heiligen und somit unessbaren Erstlingsfrüchte zum Verzehr entsakralisiert werden müssen, die weitere Fruchtbarkeit der Felder aber durch gleichzeitige Weihung sichergestellt wird. Als Beispiel wird das Athener Bouphonia-Opfer erläutert, in dem Tod und Auferstehung des Erntegeistes eine große Rolle zu spielen scheinen.

Im fünften Kapitel[18] besprechen die Autoren das Gottesopfer („sacrifice of the god“), welches sich durch die besondere Verehrung der Opfergabe und ihre Affinität mit dem Opferempfänger aus den agrarischen Opfern entwickelt habe[19]. Mythische Beschreibung von tödlichen Götterkämpfen und Gottesselbstmorden (besonders in Schöpfungsmythen), sowie die Darbringung von Opfern durch Götter selbst liefern den gedanklichen Hintergrund hierzu; die Repräsentierung der Gottheit im Opfertier (besonders durch die jeweilige heilige Tierart) wurde schon genannt. Seine höchste Ausformung habe das Opfer als solches im Gottesopfer - das den eigennützigen Charakter in der selbstlosen Hingabe der Gottheit verliere - der christlichen Religion erhalten.

[...]


[1] Seiwert, S.268.

[2] Seiwert sieht die verschiedenen theoretischen Ansätze als komplementär und somit den oft erhobenen Anspruch, das „Wesen“ des Opfers zu erfassen, als wenig hilfreich an: Seiwert, S.274.

[3] Auf besonders an Hubert/Mauss geäußerte Kritik (zusammenfassend referiert bei Drexler, S.36-41) wird an den entsprechenden Stellen durch Fußnoten hingewiesen.

[4] Erstausgabe: Hubert, H. und Mauss, M.: Essai sur la Nature et la Fonction du Sacrifice. In: L´Année sociologique. - Paris, 1898, S.29-138. Übertragung ins Englische: siehe Bibliographie unter Hubert/Mauss. Allen Zitaten und Verweisen zu Hubert/Mauss liegt in dieser Arbeit die englische Übersetzung zugrunde.

[5] Dementsprechend wird sie in religionswissenschaftlichen Nachschlagewerken (EoR, ERE, HrwG, RGG) in Artikeln zum Opfer gewürdigt.

[6] Hubert/Mauss, S.viii.

[7] Hubert/Mauss, S.1-8.

[8] Hubert/Mauss, S.6. Auf die Ambiguität des „sacré“ in der Durkheim-Schule und die sich daraus ergebende Übersetzungsproblematik weist Mürmel hin: Mürmel, S.214 u. 220.

[9] Die Tatsache, dass das untersuchte Material ausschließlich hochkulturell geprägten Kulturformen entspringt hat Hubert/Mauss den Vorwurf einer „theologischen ‚Innenperspektive‘, i.e. Selbstinterpretation von Spezialisten!“ eingebracht: Drexler, S.37.

[10] Hubert/Mauss, S.9-18.

[11] Für die Übersetzung in die deutsche Terminologie verwende ich: Seiwert, S.269f. und 275.

[12] Nach Seiwert ist „offering“ im Deutschen ebenfalls unter den Oberbegriff „Opfer“ zu fassen: Seiwert, S.260.

[13] Kritisch anzumerken ist hier die Tatsache, dass Hubert/Mauss es in ihrer Arbeit mit der geforderten Unterscheidung dieser Rituale selbst nicht genau nehmen: ein später angeführtes Beispiel zum Opfer aus der alttestamentarischen Religion besteht vornehmlich in der Verbrennung von eigenem Haar: Hubert/Mauss, S.56.

[14] An der Dichotomisierung von Sakral vs. Profan wurde bemängelt, dass sie möglicherweise von außen an das Phänomen herangetragen ist und einer (Durkheimschen) Vorstellung des „Heiligen“ als Verbotenes entspringt, die nicht allgemein zutrifft: vgl. Drexler, S.37f.

[15] Hubert/Mauss, S.19-49.

[16] Hubert/Mauss, S.50-60.

[17] Hubert/Mauss, S.61-76.

[18] Hubert/Mauss, S.77-94.

[19] Der Widerspruch zwischen dem Verzicht auf evolutionäre Theorien in der Einführung und dieser Herleitung des Gottesopfers (zudem mit extremer Wertung) ist offensichtlich: vgl. Drexler, S.40f.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Opfertheorien von Hubert/Mauss und Smith/Doniger in Anwendung auf das Agnihotra
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Seminar für Indologie)
Veranstaltung
Hauptseminar: Vedische Opfer und Theorien des Opfers
Note
1.3
Autor
Jahr
1999
Seiten
21
Katalognummer
V16463
ISBN (eBook)
9783638213172
ISBN (Buch)
9783638771443
Dateigröße
550 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine grundlegende und eine neuere Opfertheorie werden auf das vedische Agnihotra angewandt. Dabei wird das Agnihotra neu gedeutet, die Theorien werden gleichzeitig auf ihre Aussagekraft hin geprüft.
Schlagworte
Opfertheorien, Hubert/Mauss, Smith/Doniger, Opfer, Indien, Veden, Agnihotra, Religionswissenschaft, Indologie
Arbeit zitieren
Christopher Selbach (Autor:in), 1999, Die Opfertheorien von Hubert/Mauss und Smith/Doniger in Anwendung auf das Agnihotra, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16463

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