Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kants Konzeption der Menschenwürde
2.1. Die Menschheit-als-Selbstzweck-Formel
2.2. Zweck an sich und Autonomie
2.3. Menschheit
2.4. Das Reich der Zwecke
2.5. Die Würde des Menschen
3. Schopenhauers Kritik an der Kantischen Idee der Menschenwürde
3.1. Semantische Kritik am Begriff der Menschenwürde
3.2. Inhaltliche Kritik am Begriff der Menschenwürde
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
“Würde des Menschen
Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“[1]
(Friedrich Schiller)
Der Begriff der Menschenwürde ist ein in der Ethik vieldiskutierter und ebenso vielschichtiger Begriff. Vor allem in der deutschsprachigen Forschung nimmt er sowohl in den traditionellen als auch in neueren Debatten der angewandten Ethik einen wichtigen Platz ein.[2] Diesen Stellenwert beweist auch sein Platz an der Spitze der rechtlichen Normenpyramide in Artikel 1 des Grundgesetzes. Wie jedoch die vorangestellten Worte Schillers zeigen, bietet die Diskussion um die Menschenwürde stets Anlass für unterschiedlichste inhaltliche Bestimmungen dieses Begriffs. Während ihm auf der einen Seite ein hoher Status in der Ethik beigemessen wird, lehnt man ihn andernorts gänzlich ab. Eine wesentliche Bestimmung und Konturierung des Begriffes hat Immanuel Kant in seiner Moralphilosophie vorgenommen. Seine Überlegungen zum Begriff der menschlichen Würde und zu dessen Status haben die Diskussion zum Thema seit der Aufklärung wesentlich geprägt und mitgestaltet. Auch das grundgesetzliche Verständnis der Menschenwürde trägt in weiten Teilen die Züge der kantischen Auffassung. Ein prominenter und gleichsam drastischer Kritiker jener Auffassung findet sich in Arthur Schopenhauer. Dieser lehnt die Würdekonzeption Kants aus unterschiedlichen Gründen ab und entwickelt im Gegenzug eine Position, welche den Begriff des Mitleids in den Mittelpunkt der Moral rückt.
Im Folgenden möchte ich zunächst Grundzüge der Würdekonzeption Kants darlegen und im Rahmen seiner praktischen Philosophie systematisch verorten. Anschließend daran soll die Kritik Schopenhauers an diesen Überlegungen vorgestellt und kritisch überprüft werden. In einem letzten Schritt werde ich dann im Fazit diskutieren, welche Konsequenzen sich für Kants Überlegungen aus der Kritik Schopenhauers ergeben. Hierbei soll der Schwerpunkt auf der Frage liegen, ob aus der kritischen Einschätzung Schopenhauers eine umfassende Ablehnung der kantischen Überlegungen folgt oder ob jene als Ausgangspunkt für eine Neugestaltung des Ansatzes fruchtbar gemacht werden kann.
2. Kants Konzeption der Menschenwürde
Kant entwickelt in seiner Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) von 1785 eine Konzeption der Menschenwürde, die bis heute das Verständnis des Begriffes nachhaltig geprägt hat. Im Folgenden möchte ich in erster Linie darlegen, welche Merkmale für Kant wesentlich für diesen Begriff sind und welche Konsequenzen sich hieraus für seine Ethik ergeben. Da er seine Vorstellung von menschlicher Würde aus anderen zentralen Konzepten seiner Ethik, wie dem kategorischen Imperativ oder der Autonomie des Menschen herleitet, sowie im Zusammenspiel mit diesen entwickelt, gilt es, auch diese zu erläutern und somit den größeren Rahmen, in dem der Begriff steht, zu verdeutlichen. Erst die systematische Verortung des Begriffes in der praktischen Philosophie Kants macht es möglich, die Tragweite und Bedeutung, die er der Menschenwürde zumisst, angemessen zu würdigen.
In Kants Interpretation der Würde ist diese ein „innerer Wert“[3], der „über allen Preis erhaben“[4] ist und für den es kein Äquivalent gibt. Mithin besitzt die Würde Vorrang vor allen anderen Werten. Demnach ist sie für ihn also ein absoluter Wert in dem Sinne, dass es keinen anderen gibt, der mit diesem übereinstimmt oder gegen ihn austauschbar wäre.[5]
2.1. Die Menschheit-als-Selbstzweck-Formel
Hier ist zunächst fraglich, aus welchen Überlegungen Kant den Absolutheitsanspruch dieses Werts ableitet. Das Prinzip, welche das kantische Verständnis von Menschenwürde grundsätzlich ausdrückt und auch die obigen Merkmale verständlich machen kann, ist die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs, die so genannte Menschheit-als-Selbstzweck-Formel (MSF).[6] Diese lautet in der bekanntesten Variante:
„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“[7]
Im Hintergrund der oben zitierten Passage steht die Annahme, dass „die vernünftige Natur … als Zweck an sich selbst“[8] existiert. Kant postuliert diese Annahme, um eine Grundlage für den kategorischen Imperativ zu schaffen. Seine Begründung liegt darin, dass der Selbstzweck des Menschen denknotwendig ist, um als absoluter Wert die Vorstellung eines kategorischen Imperativs zu ermöglichen.[9] Jene Notwendigkeit ergibt sich für Kant wiederum daraus, dass eine Vielzahl rein relativer Werte eine Beliebigkeit schaffen würde, die es unmöglich machte für die Vernunft ein oberstes praktisches Prinzip zu formulieren. Folglich ist die Betrachtung des Menschen als Zweck an sich selbst genau der absolute Wert, welcher es möglich macht, den kategorischen Imperativ als allgemeines praktisches Gesetz zu denken.[10] Ein Zweck an sich ist demzufolge ein Zweck, der von allen Menschen notwendigerweise in ihren Handlungen befolgt werden muss und somit die Geltung eines kategorischen Imperativs und der durch diesen vorgeschriebenen notwendigen Handlungen erst ermöglicht.[11]
2.2. Zweck an sich und Autonomie
Fraglich ist nun aber, wie Kant den Begriff des Selbstzwecks inhaltlich bestimmt und dies begründet. Als Grund, den Menschen als Selbstzweck zu verstehen, sieht Kant die Autonomie an. Für ihn macht erst die Autonomie, verstanden als Fähigkeit, moralische Gesetze zu postulieren und ihnen zu folgen, den Menschen zum Zweck an sich.[12] Die Autonomie des Menschen fußt insofern in der Freiheit des Menschen, als dieser dem selbst gewählten und sich auferlegten Gesetz folgt, welches aus der ihm als Vernunftwesen gegebenen Vernunft resultiert.[13] Demzufolge ist diese Selbstgesetzgebung auch der ursprüngliche Grund für die Betrachtung des Menschen als Zweck an sich. In dieser Begründung mittels der Autonomie liegt auch die inhaltliche Bestimmung des Menschen als Selbstzweck. Er ist insofern Zweck an sich, als er ein vernünftiges Wesen ist, welches moralische Gesetze selbsttätig aufstellt und befolgt.[14]
2.3. Menschheit
Ein weiterer interpretationsbedürftiger Begriff, welcher in der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel vorkommt, ist derjenige der Menschheit. In einer vordergründigen Betrachtung wäre es nahe liegend „Menschheit“ im Sinne von Menschengeschlecht (genus humanum), also als Gesamtheit aller menschlichen Wesen, zu deuten. Eine weitere mögliche Interpretation bestünde darin, den Begriff als Beschreibung einer Gattungszugehörigkeit, also als „Mensch-Sein“ zu verstehen. Beiden dieser Deutungen spricht jedoch die kantische Formulierung der „Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person jedes anderen“[15] sowie weitere Verwendungen des Begriffes an anderen Orten entgegen.[16] Nach Horn bezeichnet der Begriff Menschheit in der Philosophie Kants die noumenale Seite des Menschen, während „Mensch“ für die phänomenale Seite reserviert ist. Auf der einen Seite spricht Kant somit über den Menschen als moralisches Wesen, auf der anderen Seite über den physisch gegebenen Menschen. Demzufolge ist nach seiner Menschheit-als-Selbstzweck-Formel der phänomenale Mensch eben auf Grund seiner noumenalen Seite aus sich selbst heraus wertvoll.[17] Diese Interpretation erscheint vor allem auf Grund der komplizierten Formulierung der Menschheit-als-Selbstzweck-Formel plausibel. Hätte Kant lediglich auf eine der obigen Deutungen des Begriffes, wie „Menschengeschlecht“ oder die Gattungszugehörigkeit, verweisen wollen, hätte er hierfür eine einfachere sprachliche Konstruktion wählen können.
[...]
[1] Schiller, S. 248.
[2] Stoecker, S. 7.
[3] GMS, 435, 4.
[4] GMS, 434, 33.
[5] Hill, S. 159.
[6] Horn, S. 245.
[7] GMS, 429,10.
[8] GMS, 429,2.
[9] Horn, S. 245.
[10] GMS, 428,34.
[11] Schönecker, S. 141.
[12] Schönecker, S. 143.
[13] Schüttauf, S. 31
[14] Schönecker, S. 145.
[15] GMS, 429,10.
[16] Joerden, S. 181f.
[17] Horn, S. 247.