Identity Management Theory - Eine Untersuchung "Kulturelle Identität von Belarussen im Ausland"


Diplomarbeit, 2009

79 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhalt

TEIL I: THEORETISCHER TEIL
0 Einleitung
1 Zentrale Begriffe
1.1 Interkulturelle Kommunikation, Kultur, Interkulturalität
1.2 Kommunikation und Interaktion
1.3 Identität in der Interkulturellen Kommunikation
2 Die Bausteine der Identity Management Theory (IMT)
2.1 Konversationale Implikaturen, Kooperationsprinzip und Konversationsmaximen von Grice
2.2 Das Gesichtskonzept von Goffman
2.3 Höflichkeitsmodell von Brown und Levinson
2.3.1 Theoretische Einbettung Gricescher Theorie
2.3.2 Theoretische Einbettung Goffmanscher Theorie
2.3.3 Strategien zur Wahrung des Gesichts (Gesichtsarbeit)
2.3.4 Mögliche Kritikpunkte in Bezug auf Interkulturalität
3 Identity Management Theory (IMT)
3.1 Identität und Gesicht
3.2 Theoretische Annahmen der IMT

TEIL II: PRAKTISCHER TEIL
4 Methodologische Grundlagen
4.1 Problemstellung
4.2 Untersuchungsmethode
4.3 Imahoris Studie „Facework Strategies for Intercultural Identity Management” (2002)
5 Untersuchung “Kulturelle Identität von Belarussen im Ausland”
5.1 Hypothese
5.2 Auswahl der Teilnehmer
5.3 Gestaltung des Fragebogens
5.4 Ergebnisanalyse
6 Schlusswort
6.1 Zusammenfassung
6.2 Persönliche Einschätzung

Literaturverzeichnis

Anhang 1: Fragebogen

Anhang 2: Erfassungstabellen

TEIL I: THEORETISCHER TEIL

0 Einleitung

Da ich seit mehr als fünf Jahren nicht in meinem Heimatland lebe, sehe ich mich oft mit Situationen konfrontiert, die mich zu Fragen anregen wie „Bin ich nach so vielen Jahren noch die Belarussin, die ich immer war, oder hat sich etwas in mir verändert?“; „Empfinde ich mich mehr belarussisch als zuvor oder verwischt sich mein „Belarussisch-Sein“ mit der Zeit?; „Bin ich vielleicht etwas ganz anderes - Deutsche oder Europäerin oder ein „Weltmensch?“; „Könnte ich jetzt einfach so in mein Heimatland zurückziehen?“; „Würde ich mich dort zu Hause fühlen?“ Die Fragestellung könnte man insofern als etwas erschwert ansehen, als die Republik Belarus ein ziemlich junger Staat ist und vielleicht nicht alle dort Lebenden sich damit überhaupt identifizieren können. Wie Geertz sagt: „[D]er Zusammenbruch der Sowjetunion“ hat „eine Kette undurchsichtiger Teilungen und verwirrender Instabilitäten nach sich gezogen“ (Geertz 1996:17). Neben Fällen des aggressiven Nationalismus in den neu gebildeten Staaten lassen sich auch Fälle beobachten, in denen es wirklich undurchsichtig und verwirrend ist, wohin man nun gehört: Die alte Welt und die alte Ordnung existieren nicht mehr, was existiert denn nun? Wohin gehöre ich überhaupt?

Für mich als junge Belarussin stellte sich nie das Problem, die „neue Welt“ zu finden, mit der ich mich identifizieren kann: Sobald ich in die Schule ging, hieß es, wir leben im souveränen Staat - in der Republik Belarus. So habe ich das auch verinnerlicht und immer empfunden obwohl das sowjetische Erbe in Erzählungen Älterer in der Literatur, im Bewusstsein dieser Gruppe von meinen Landsleuten weiter bestehen blieb. Mein „Mich-Empfinden“ als Belarussin war mir auch wichtig was - so meine Beobachtung - bei Weitem nicht über alle jungen Menschen gesagt werden konnte. Dann zog ich für mein Studium nach Deutschland und fragte mich nach mir und meiner Identität, ebenso wie nach der von anderen jungen Belarussen im Ausland, denen es ihrer Zeit - so schien es zumindest - gleichgültig war, ob sie sich als Belarussen oder als jemand anderer bezeichneten. Wie sind wir, sie und ich, nun geworden?

So hätte ich über diese Fragen weiter abstrakt Gedanken entwickelt, wenn ich nicht die Interkulturelle Kommunikation als wissenschaftliche Disziplin für mich entdeckt hätte. Mir wurde klar, dass sie mir solides theoretisches Werkzeug in die Hände legt, mit dem das mich interessierende Thema behandelt werden könnte. So kam die Idee, meine Fragen konkret zu formulieren und zu versuchen mit Hilfe der Methoden der Interkulturellen Kommunikation darauf Antworten zu finden.

So entstand die vorliegende Arbeit, die nach folgendem Schema aufgebaut ist: Der erste - der theoretische - Teil stellt zentrale Begriffe der Interkulturellen Kommunikation sowie identitätsbezogene Theorien aus der Soziologie und der Interkulturellen Kommunikation vor (Kapitel 1). Diesen folgt die Beschreibung der Theorien aus der Kommunikationswissenschaft und der Mikrosoziologie nämlich der Griceschen Theorie der so genannten konversationalen Implikaturen und seinen Konversationsmaximen, des von Goffman entworfene Konzepts „Gesicht“ (face) 1 und des Höflichkeitsmodells von Brown und Levinson (Kapitel 2). Diese Theorien sind die Vorläufer und die Bausteine der Identity Management Theory (IMT) von Cupach und Imahori (Kapitel 3), die die theoretische Grundlage für den zweiten - den praktischen - Teil der Arbeit darstellt. In diesem Teil werden die Methodologie und die Hypothese der eigenen Untersuchung präsentiert sowie speziell die Studie Imahoris aus dem Jahr 2002, in Anlehnung an welche die eigene Untersuchung konzipiert wurde (Kapitel 4). Weiterhin folgen die Beschreibung des Ablaufs der Untersuchung und die Ergebnisanalyse (Kapitel 5). Im Schlusswort werden die Grundgedanken zusammengefasst und die Ergebnisse der Untersuchung sowie deren persönliche Einschätzung dargestellt.

Man kann kaum behaupten, dass die von mir durchgeführte und hier dargelegte Untersuchung eine Bedeutung für breitere Wissenschaftskreise hat. Dies erklärt sich durch ihren kleineren qualitativen Umfang und - weil sehr lokal angesiedelt - ihren speziellen Charakter. Man kann aber sehr wohl sagen, dass sie die IMT auf ihre praktische Brauchbarkeit überprüft. Da die Interkulturelle Kommunikation eine praxisorientierte Disziplin ist, ist es für eine Theorie in diesem Bereich besonders wichtig, gut anwendbar zu sein. Außerdem sollte generell für jede wissenschaftliche Theorie gelten: “There is nothing as practical as a good theory” (Lewin 1951:169). Außerdem war die Untersuchung meinem eigenen Interesse an der Thematik gerecht. Hoffentlich hat sie auch die Befragten, die sich daran beteiligten, zum Nachdenken über ihre Identität und ihr Verhalten in interkulturellen Situationen angeregt. Dies wäre eine ausreichende Belohnung für mein Bemühen.

Mein Dank gilt all denjenigen, die einen Beitrag zur Entstehung dieser Arbeit geleistet haben, insbesondere Herrn Tadasu Todd Imahori.

1 Zentrale Begriffe

1.1 Interkulturelle Kommunikation, Kultur, Interkulturalität

Die vorliegende Arbeit liegt im Bereich der Interkulturellen Kommunikation. Die Disziplin ist relativ jung und ihre Eigenständigkeit wird in wissenschaftlichen Kreisen immer noch in Frage gestellt (vergleiche Moosmüller 2007). Sie wird einerseits als Teildisziplin der Ethnologie oder der Anthropologie oder sogar der Fremdsprachendidaktik oder der Pragmatischen Linguistik angesehen, andererseits wird sie mit dem Kulturvergleich verwechselt (vergleiche Moosmüller 2007; Loenhoff 2003). Es können zahlreiche Kriterien aufgestellt werden nach denen über das „Potenzial“ einer sich etablierenden Disziplin entschieden werden kann (vergleiche Straub 2007:217-218). Da diese Kriterien sich jedoch als flexibel erwiesen und - in Bezug auf die Interkulturelle Kommunikation - „einige Kriterien bereits erfüllt sind, andere leicht erfüllbar scheinen“ (Straub 2007:218-219), kann mit Recht von einer Disziplin die Rede sein. Sehr wichtig ist dabei meines Erachtens dass die Interkulturelle Kommunikation sich mit einem Bereich befasst, den keine andere wissenschaftliche Disziplin als Untersuchungsgegenstand hat. Sie beschäftigt sich nämlich mit dem Umgang mit kulturellen Differenzen, wobei der Schwerpunkt auf der Handlungswirksamkeit und der persönlichen Weiterentwicklung liegt (vergleiche Moosmüller 2007). Es werden also nicht, wie in vielen beschreibenden Disziplinen, die Darstellungswerte sondern die Steuerungswerte einer Kultur thematisiert; kulturelles Wissen und Können wird nicht „als Ergebnis einer Vergegenständlichungs- und Vergewisserungspraxis durch die Angehörigen von Sprach- und Kulturgemeinschaften“ sondern „als handlungssteuernde handlungsleitende und praktisch-orientierende Dimension“ behandelt (Loenhoff 2003:107).

Da nun das Wort „Kultur“ gefallen ist, soll spätestens jetzt die Frage nach der Definition dieses zentralen Begriffs der Interkulturellen Kommunikation gestellt werden. Der Begriff ist bekanntlich sehr diffus und wurde mehrfach definiert. Hier soll kein Versuch unternommen werden, eine Übersicht über die zahlreichen Definitionen zu erstellen oder eine zu generi]eren. Vielmehr sollen verallgemeinernd die aus meiner Sicht bedeutendsten Merkmale des Phänomens genannt werden.

Der am weitesten gefasste Begriff der Kultur umfasst alles spezifisch Menschliche, von Menschen Geschaffene, sei es materieller oder geistiger Natur. Wenn es sich um verschiedene Kultur en handelt, sollte meines Erachtens bedacht werden, wozu Kulturen ursprünglich dienten und immer noch dienen:

Cultures exist to serve the vital, practical requirements of human life - to structure a society so as to perpetuate the species, to pass on the hard-learned knowledge and experience of generations past and centuries past to the young and inexperienced in order to spare the next generation the costly and dangerous process of learning everything all over again from scratch through trial and error - including fatal errors. Cultures exist so that people can know how to get food and put a roof over their heads, how to cure the sick, how to cope with the death of loved ones, and how to get along with the living. Cultures are not bumper stickers. They are living, changing ways of doing all the things that have to be done in life. (Sowell 2004:403-404)

Ob durch die Besonderheiten der genetischen Veranlagung oder der Umwelt bedingt (vergleiche Sowell 2004:401), erarbeiteten verschiedene Menschengemeinschaften nur ihnen eigene Lebensarten, anders gesagt, Kulturen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Jedes neue Mitglied der Gemeinschaft wird in diese vorgegebene, vorkonstituierte Kultur hineingeboren und ihm wird das Wissen über die Kultur vermittelt. Dieses Wissen wird von manchen Autoren als erlerntes System von Symbolen oder Bedeutungen verstanden (vergleiche unter anderen Parsons in Abels 2007:34-39; Schütz 1972; Triandis 2006:23; Ting-Toomey 2005:71-72; Collier & Thomas 1988) die Wahrnehmen Denken Fühlen und Handeln bestimmen. Als definierende Merkmale einer Kultur werden unter anderen geteilte Werte, Normen, Traditionen Glaubenssätze Verhaltensweisen Prinzipien des Denkens genannt (vergleiche unter anderen Collier & Thomas 1988).

Die Vorstellung von der Kultur als eines erlernten Bedeutungssystems leuchtet ein, scheint jedoch etwas mechanisch zu sein, weil sie dem einzelnen Individuum die Freiheit der Selbstentwicklung und -bestimmung in gewissem Maße abspricht. In diesem Sinne scheint mir das Verständnis der Kultur aus der soziokonstruktivistischen Sicht plastischer zu sein:

[…] I have expanded conceptualizations of culture from a historically transmitted system of symbols meanings and norms to being enactments[sic]of group identity(ies) observable in patterns contextualized social interaction [sic] (Collier 2005:236, Hervorhebung von mir).

Somit wird Kultur als Verkörperung der Gruppenidentitäten im Kommunikationsprozess betrachtet, was von der Autorin selbst als weiterer Schritt im Verständnis von Kultur angesehen wird. Diese Betrachtungsweise stellt eine enge Verbindung zwischen den Begriffen „Kultur“ und „Identität“ her. Im Folgenden wird noch versucht, den Letzteren zu beleuchten. Vorab sei aber kurz auf den Begriff „Interkulturalität“ eingegangen, das heißt auf die Frage, wann es sich über die kulturelle Differenz sprechen lässt beziehungsweise wann eine Kommunikationssituation überhaupt zu einer interkulturellen wird.

Lange Zeit wurden soziale Faktoren wie kulturelle Zugehörigkeit, Fremdheit und andere als objektiv und gesellschaftlich gegeben betrachtet (vergleiche Günthner 1999:251). Diese Objektivität erwies sich jedoch unter anderem aus solchen Gründen wie Heterogenität einzelner Kulturen und Unbestimmtheit kultureller Grenzen als fraglich. In der Sozialforschung verlagerte sich der Blickwinkel in die Richtung interaktiver und konstruktiver Ansätze: Kulturelle Andersheit ist demnach „keine Eigenschaft beziehungsweise kein objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen zueinander, sondern Resultat einer interaktiven Erzeugung und Zuschreibung“ (Günthner 1999:251; vergleiche unter anderen Schütz 1972; Hahn 1994). Dies bedeutet, dass ein anderer Mensch, ein „Fremder2 “ nicht per se anders ist, sondern zu einem Anderen stilisiert wir, sobald ihm seine Andersheit zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung diese Konstruktion der Andersartigkeit ermöglicht gleichzeitig dem Zuschreibenden die Selbstidentifikation: „Wenn man sagt, was man ist, muss man dies in Abgrenzung von dem tun was man nicht ist“ (Hahn 1994:142). Diese Idee kann leicht an die identitätsbasierte Vorstellung der Interkulturalität von Collier & Thomas angeknüpft werden: Sie beschreiben die interkulturelle Kommunikation als „ contact between persons who identify themselves as distinct from one another in cultural terms “ (Collier & Thomas 1988:100, Hervorhebung im Original). Und weiter: „When one person perceives the encounter as intercultural, then the encounter can be defined as such.

When both persons consider the encounter to be intercultural, then the encounter is ‚more intercultural’” (Collier & Thomas 1988:101).

Dieser hier wieder aufgetauchte Zusammenhang zwischen der Interkulturalität (beziehungsweise Kultur) und der Identität ist entscheidend für die Frage, die hier im Weiteren näher behandelt wird, nämlich die Frage der kulturellen Identität (siehe Kapitel 1.3 und weitere).

1.2 Kommunikation und Interaktion

Da sich verschiedene Wissenschaftsbereiche mit dem Begriff „Kommunikation“ beschäftigen, besteht dafür ebenso keine einzige, allgemein anerkannte Definition. Hier steht die Kommunikation im soziologischen Sinne im Mittelpunkt der Betrachtung, enger formuliert die zwischenmenschliche beziehungsweise interpersonale Kommunikation. Es wird hier unter dem soziologischen Blickwinkel geschaut, weil viele Denker aus der Soziologie sich mit der Gesellschaft und dem sozialen Handeln beschäftigten und weiterhin beschäftigen; und Kommunikation stellt nichts anders als soziales Handeln dar.

Simmel formulierte in „Das Problem der Soziologie“ (1894), dass die Gesellschaft dann vorhanden ist, wenn mehrere Individuen in Wechselwirkung treten (vergleiche Simmel 1968). Weber bezeichnete in „Soziologische Grundbegriffe“ (1920) die „soziale Beziehung“ als „aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“ (Weber 2002:676, Hervorhebung im Original). Ob damit in modernen Begriffen Kommunikation oder Interaktion gemeint ist, lässt sich schwer sagen. Maletzke bemerkt, dass die beiden Begriffe eng miteinander verknüpft sind, auf verschiedene Weise in Verhältnis zueinander gebracht und oft nicht mehr unterschieden werden (vergleiche Maletzke 1998:36-44). In der Soziologie kommt häufiger das Wort „Interaktion“ vor. Ich neige dazu Habermas folgend Kommunikation (beziehungsweise kommunikatives Handeln) und Interaktion synonym zu verwenden3: Unter kommunikativem Handeln versteht er „Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen“ (Habermas 1981:128).

Wie und warum Interaktion stattfindet erklären Soziologen auf zweierlei Weise (vergleiche Abels 2004). Das normative Paradigma stammt aus der Tradition Durkheims, für den soziale Institutionen im weitesten Sinn vorgeben, wie man sich gegenüber Anderen zu verhalten hat. Daran knüpft Parsons an, indem er seine Theorie der sozialen Rollen entwickelt, die - von den Institutionen hervorgebracht - Vorgaben für das Verhalten der Individuen darstellen. Die Interaktion gelingt, weil die Individuen die Normen und Werte des existierenden kulturellen Systems internalisiert haben und nach ihnen handeln.

Dem normativen steht das interpretative Paradigma gegenüber. Dessen Autoren stellen das Individuum in den Vordergrund: Die Individuen folgen nicht blind den vorgegebenen sozialen Rollen sondern interpretieren die Situationen und die Handlungen wechselseitig. Mead in seiner anthropologischen Theorie der Kommunikation sagt, dass Interaktion zwischen Menschen über Symbole abläuft, die von den Menschen dank ihrer Fähigkeit zu denken (und zu sprechen) interpretiert werden. Um das Risiko einer falschen Interpretation zu minimieren, bedienen sie sich so genannter signifikanter Symbole, die für alle Individuen dieser Gesellschaft die gleiche Bedeutung tragen. Bei der Interaktion ist der ständige Prozess der Rollenübernahme ausschlaggebend: Um die Reaktion des Anderen antizipieren und interpretieren zu können muss man sich in seine Lage versetzen; um eigene Handlungen einschätzen zu können, muss man sich ebenso mit den Augen des Anderen sehen; der Andere muss das Gleiche tun, um die kommunikative Verständigung in Perspektiven und Rollen zu erreichen.

Blumer in seiner Theorie des symbolischen Interaktionismus gibt dem Individuum noch mehr Freiheit, indem er sagt, es gebe keine signifikanten Symbole, das heißt die Dinge hätten keine Bedeutungen an sich, sie werden von den Handelnden gemeinsam in einem Interpretationsprozess ausgehandelt und definiert; dabei zeigen die Handelnden ständig einander an, wie sie die Situation verstehen und wie sie der Andere verstehen soll4.

Ob man sich nun in dieser geistigen Auseinandersetzung auf die eine oder auf die andere Seite stellt, oder eine dualistische Position einnimmt (das heißt sowohl die sozialen Strukturen bestimmen unser Handeln als auch unser Handeln beeinflusst die sozialen Strukturen), findet das folgende Zitat von Günthner Anwendung:

Zur Erforschung der sozialen Konstruktion kultureller Fremdheit erweist sich als notwendig zwischenmenschliche Interaktionen zum Untersuchungsgegenstand zu erheben, denn sie verkörpern die zentralen Mittel, durch die soziale Normen, kulturelle Relevanzstrukturen und soziale Identitäten übermittelt, erneuert und modifiziert werden. (Günthner 1999:251)

Zur Frage der Kommunikation beziehungsweise Interaktion wäre noch anzumerken, dass sie nicht unbedingt immer reibungslos und erfolgreich abläuft. Es geht hier um eine gewisse erlernte Kommunikations kompetenz, die man im Laufe seines Lebens in der Gesellschaft erlangt. Unter „Kompetenz“ ist hier Folgendes zu verstehen:

Competence is manifested in effective and/or appropriate behaviour. Effectiveness derives from control and is defined as successful goal achievement or task accomplishment. [...] Appropriateness reflects tact or politeness and is defined as the avoidance of violating social or interpersonal norms, rules, or expectations (Spitzberg & Cupach 1989:7, Hervorhebung im Original).

Diese Terminologie benutzt auch Collier für ihre interpretative Sicht auf die identitätsbasierte interkulturelle Kommunikation, worüber im nächsten Kapitel gleich die Rede sein wird (vergleiche Collier & Thomas 1988; Collier 2005).

1.3 Identität in der Interkulturellen Kommunikation

Die Gründe warum im vorhergehenden Kapitel auf die Interaktionstheorien ausführlicher eingegangen wurde sind erstens die praktische Anwendbarkeit des interpretativen Paradigmas und zweitens die Verbindung, die die Interaktionstheorien mit den Identitätstheorien herstellen. Im Folgenden sei dies näher beleuchtet.

Allem vorab sei betont, dass die Natur des menschlichen Bedürfnisses nach einer Identität für mich trotz des Versuchs, mich mit der Thematik auseinanderzusetzen, nicht ganz klar geworden ist. Dieses Bedürfnis wird in der Literatur des Öfteren als „natürlich“ bezeichnet und mit anderen (Grund-)Bedürfnissen des Menschen in Zusammenhang gebracht: zum Beispiel mit dem „Bedürfnis des Menschen nach Abhängigkeit“ (Hofstede 1993:53) mit dem „basic human need for a sense of belonging, for participating in the prides and fears that are shared with an in-group“ (Cleverland 2006:406), mit „(1) our need for a sense of predictability (or trust), (2) our sense for a need of group inclusion, (3) our need to avoid diffuse anxiety, and (4) our need to sustain our self-conceptions” (Gudykunst 2005:295). Da Grundbedürfnisse in der Regel als selbstverständlich wahrgenommen werden, möchte ich sie nicht weiter in Frage stellen oder darauf näher eingehen; ich möchte hier nur festhalten, dass das Verlangen nach einer Identität dem Menschen innewohnt und auf seine Selbstwahrnehmung und sein Verhalten konstituierend wirkt.

Dem Begriff „Identität“ wird von dem Soziologen Abels die folgende in der Soziologie allgemein gebräuchliche Definition gegeben:

Identität ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen Anspr üchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben (Abels 2004:322 Hervorhebung im Original).

Hauser weist darauf hin, dass der Identitätsbegriff, der heute in den Sozial- und Kulturwissenschaften verwendet wird, von dem Freudschen psychosexuellen Begriff stammt. Dieser wurde dann von Erikson im Rahmen seiner Sozialisationstheorie weiterentwickelt (vergleiche Hauser 2004:4; Abels 2004:367). In der Soziologie entstand die Diskussion - ähnlich wie mit dem Begriff „Interaktion“ - um die Frage, inwieweit die Identität von dem sozialen System und inwieweit vom Individuum selbst bestimmt wird (zum Beispiel bei Simmel und Parsons (vergleiche Abels 2004:347- 422)). Das von Parsons entworfene Konzept der Rollen - der vom Individuum verinnerlichten Normen und Werte des kulturellen Systems beziehungsweise die Erwartungen Anderer und des Individuums an sich selbst - findet in dieser Diskussion bis heute breite Anwendung. Entscheidend sind dabei auf der einen Seite vielfältige institutionalisierte Rollen, und auf der anderen Seite die einzigartige Konstellation dieser Rollen bei einem Individuum und in jeder sozialen Situation und die Freiheit des Individuums, über die zu übernehmenden Rollen zu entscheiden.

Ob institutionalisiert oder situationsabhängig interpretiert, galt die Rolle nun als Teil der Persönlichkeit, weil jeder Mensch in der Gesellschaft viele Rollen in sich vereint (vergleiche Abels 2004:322-391). Dieser Gedanke aus der Soziologie wurde später von interkulturellen Forschern zur Idee multipler Identitäten weiterentwickelt (siehe unten).

In Bezug auf die Identität ist die Idee Meads von der Rollenübernahme interessant:

Indem wir uns in die Rolle des anderen hineinversetzen und uns vorstellen, wie er auf uns reagieren wird, betrachten wir uns auch selbst, wie wir reagieren. Wir werden auf uns selbst aufmerksam, ja mehr noch: wir sehen uns mit den Augen des anderen , und erst auf diesem Umweg über den anderen werden wir uns unserer selbst bewusst (Abels 2004:359).

Diese Sichtweise hat Blumer für seinen symbolischen Interaktionismus übernommen und die interpretative Komponente erweitert. Er sagt, dass der Mensch mit sich selbst in einer sozialen Interaktion steht. Er begegnet einem ständigen Fluss von Situationen; in jeder muss er handeln, und in jeder Situation muss er die Umstände seines Handelns - von seinen Bedürfnissen bis zu antizipierten Ergebnissen des gemeinsamen Handelns - interpretieren und definieren. Er zeigt sich Objekte an und gibt ihnen eine Bedeutung. Nach dieser Bedeutung organisiert er sein Handeln. So schafft er sich seine eigene Welt, indem er interpretierend über sie verfügt (Abels 2004:231).

Mit anderen Worten kann das Individuum seine Identität erst im Laufe der Interaktion definieren und diese seinem Interaktionspartner mitteilen. Der interkulturelle Forscher Hecht und eine Kollegen gehen in ihrer Communication Theory of Identity (CTI) noch weiter, indem sie sagen, Kommunikation definiere Identität nicht, Kommunikation sei Identität:

While research focusing on roles acknowledges identity as relational, that is, constituted in social interaction, it does not necessarily conceptualize how role or identity is communicated. The theory (Identitätstheorie vom Mead, Blumer, Goffman, Anmerkung von mir) sees the self as communicated but not as communication. [...] CTI breaks with this approach, seeing social behaviour, itself, as an aspect of self - the enacted identity (Hecht 2005:260, Hervorhebung von mir).

Wie sich dieser Standpunkt bewährt, wird sich in der Zukunft zeigen; interpretative Theorien, wie Mead und Blumer sie formulierten, scheinen mir im Rahmen dieser Arbeit aussagekräftig genug.

In den modernen interkulturellen Identitätstheorien wird der soziologische Begriff der Rolle oft dem Begriff „Identität“ gleichgestellt (vergleiche unter anderen Ting-Toomey 2005; Collier 2005; Hecht 2005). Da das Individuum Mitglied verschiedener sozialen Gruppen ist und sich an verschiedenen Situationen beteiligt kann er auch unterschiedliche Rollen vertreten, was in der interkulturellen Kommunikation dann „Identität en “ heißt. Wie der Modernismus auf der Suche nach der ultimativen Wahrheit den Blick in den Menschen forderte, so stellte der Postmodernismus diese Wahrheit in Frage, indem er die allgemein gültige Autorität stürzte und Multiplizität zuließ:

The stability afforded by modernism is diminished as our society changes due to technology, immigration, and advancing transportation systems affording an increased potential to engage diverse and multiple relationships outside of our immediate social and cultural circles (Hecht 2005:259).

Die Identität eines Individuums ist also komplex, multipel, vielfältig, und die kulturelle Identität ist dabei eine der möglichen, die die Identität eines Individuums ausmachen: “Ethnic identity is a primary source of identification for many individuals” (Collier & Thomas 1988:115); aber “[a]lthough race ethnicity and culture obviously play important roles in shaping the self they are not the only sole basis for our identitfications with others” (Hecht 2005:269). Identitäten „can include cultural or ethnic […] identity, gender identity, sexual orientation identity, social class identity, to name a few“ (Ting-Toomey 2005:212). Collier & Thomas nennen diese und andere zahlreiche Identitäten kulturelle Identitäten, weil sie Kultur als System von Symbolen und Bedeutungen ansehen und „ethnicity, gender, profession, or any other symbol system that is bounded and salient to individuals“ bereits als Kultur bezeichnen (Collier & Thomas 1988:103). Wie man diese „Facetten“ der Identität auch nennt5, ist man sich darüber einig dass in verschiedenen Situationen verschiedene „Facetten“ beziehungsweise verschiedene (kulturelle) Identitäten zum Tragen kommen.

Die Dynamik dieser plastischen, sich verändernden Einheit Namens Identität wird im Rahmen der Theorie von Collier & Thomas greifbar. Die interkulturellen Wissenschaftler entwickelten drei Dimensionen der Identität, mit deren Hilfe sich der aktuelle „Zustand“ der jeweiligen Identität eines Individuums beschreiben lässt. Diese drei Dimensionen sind - frei übersetzt - Wirkungsbereich (scope), Salienz (salience) und Intensität (intensity). Wirkungsbereich ist „tantamount to the size of the group of people who share the same identity“ (Imahori & Cupach 2005:197). Salienz “refers to the relative psychological importance an individual feels with respect to the various aspects of identity in a specific interaction” (Imahori & Cupach 2005:197). Intensität “refers to how openly and explicitly an individual expresses an aspect of identity in a given interaction” (Imahori & Cupach 2005:197).

Während der Wirkungsbereich eine ziemlich konstante Größe ist, sind die Salienz und die Intensität sehr situationsabhängig. Diese beiden Größen sind ausschlaggebend dafür, ob eine Kommunikationssituation als interkulturell, intrakulturell oder interpersonal einzustufen ist. Interkulturell ist die Interaktion, wenn die kulturellen Identitäten der Interaktanten von ihnen selbst als salient und unterschiedlich wahrgenommen werden. Werden die kulturellen Identitäten als salient aber gleich empfunden, ist die Interaktion intrakulturell. Wird die kulturelle Identität als weniger salient als die relationale Identität empfunden (siehe Kapitel 3.2), so ist die Interaktion interpersonal (vergleiche Imahori & Cupach 2005:197-198).

Während dieser Interaktionen präsentiert das Individuen seine Identitäten, wie es sie sieht oder sehen möchte („avowed identities“), und schreibt den Anderen Identitäten zu; die Anderen ihrerseits schreiben ihm Identitäten zu, wie sie diese sehen6 („ascribed identities“) (Collier & Thomas 1988) (oder „I“ oder „das impulsive Ich“

beziehungsweise „me“ oder „das soziale Ich“ in Meads Begriffen (Abels 2005:363)). Eine kompetente interkulturelle Kommunikation ist laut Collier & Thomas demnach „contact in which one’s ascriptions of cultural identities appropriately and effectively match those that are avowed” (Collier & Thomas 1988:101). Ebenso sagen sie: “Intercultural communication is a process of comparisons, judgments, ascriptions, and negotiations of both persons’ identities” (Collier & Thomas 1988:112). Diese Prozesse werden bei Ting-Toomey und Imahori & Cupach unter dem Begriff “Identitätsmanagement” oder auch „Gesichtsarbeit“ (facework) zusammengefasst und ausführlicher untersucht (vergleiche unter anderen Ting-Toomey 2005: 71-92, 211-233; Imahori & Cupach 2005). Speziell der Identiy Management Theory (IMT) von Imahori & Cupach gilt mein Augenmerk auf den nachfolgenden Seiten, weil sie in den Rahmen des interpretativen Paradigmas fällt und für die praktische Anwendung sehr brauchbar ist. Eben deshalb gründet darauf meine Untersuchung zur Frage der kulturellen Identität von Belarussen im Ausland.

2 Die Bausteine der Identity Management Theory (IMT)

In Kapiteln 2 und 3 möchte ich Schritt für Schritt die IMT vorstellen. Dafür scheint mir unabdingbar, aufzuzeigen, aus welchen Bestandteilen sie gebaut wurde, das heißt auf welchen Theorien anderer Autoren sie gründet (Kapitel 2). Dies wird das tiefere Verständnis der IMT ermöglichen und damit auch der Mittel, die ich für die hier angesetzte Untersuchung verwenden möchte. Kapitel 3 stellt unmittelbar die theoretischen Annahmen der IMT vor, wie sie in der neuesten Version der IMT 2005 im Gudykunsts Sammelband Theorizing About Intercultural Communication präsentiert wurden (Imahori & Cupach 2005:195-210)7.

Die Autoren der IMT sind Professor für Kommunikationswissenschaft an der Seinan Gakuin University in Fukuoka (Japan) Tadasu Todd Imahori, der vorwiegend im Bereich der interkulturellen Kommunikation arbeitet und Professor für Kommunikationswissenschaft an der Illinois State University William R. Cupach, dessen Forschungsschwerpunkt interpersonale Kommunikation ist. Beide Autoren haben sich zusammengefunden, um im Überschneidungsbereich ihrer Tätigkeitfelder am Phänomen der interkulturellen Kommunikationskompetenz zu arbeiten. Auf die Frage, ob interkulturelle Kommunikationskompetenz ein kulturunabhängiges oder ein kulturspezifisches Phänomen ist, antworten sie mit ihrem kultur-synergetischen Ansatz: Laut Cupach & Imahori ist die Fähigkeit des Menschen, sich effektiv und angemessen zu verhalten universal; in verschiedenen Kulturen herrscht aber ein jeweils anderes Verständnis dessen, was effektiv und angemessen ist; ja sogar jeder Mensch hat eine persönliche Vorstellung davon. Innerhalb einer interkulturellen Beziehung und im Laufe deren Entwicklung wird über verschiedene Handlungsweisen verhandelt und - so die Annahme der IMT - die Kommunikationspartner arbeiten mit der Zeit ein gemeinsames beziehungsweise „synergetisches“ Verständnis vom effektiven und angemessenen Verhalten heraus: „Competence requires both appropriate and effective behavior that is mutually satisfying to the participants in a relationship“ (Imahori & Cupach 2005:196). Dies betrifft aber das Phänomen, das die Autoren “relationale Identität” nennen; im Folgenden wird jedoch von der interkulturellen Kommunikationskompetenz die Rede sein, die in spontanen interkulturellen Episoden von den Interaktanten ans Tageslicht gebracht wird.

Beide Autoren haben als Grundlage für ihre Theorie das Höflichkeitsmodell von Penelope Brown und Stephan C. Levinson genommen. Dieses Modell wurde von Brown & Levinson zum ersten Mal 1978 in ihrem Artikel „Universals in language usage: Politeness phenomena“ vorgestellt. 1987 wurde eine revidierte Version des Modells als selbstständiges Werk unter dem Titel Politeness: some universals in language usage veröffentlicht. Dieses komplexe Gedankenkonstrukt ruht auf Theorien zweier bis heute noch viel rezipierter Autoren, nämlich auf Ideen des Soziologen Erving Goffman zu Selbstpräsentation und Interaktionsprozessen samt seinen Konzepten von Gesicht und Gesichtsarbeit und auf der Theorie der konversationalen Implikaturen und des Kommunikationsprinzips des Sprachphilosophen Herbert Paul Grice.

An dieser Stelle wäre es gerecht zu fragen: Warum beschäftigt sich eine Theorie aus dem Bereich interkultureller Kommunikation mit dem soziologischen Phänomen „Höflichkeit“? Ganz konkret warum hat die Identity Management Theory das Höflichkeitsmodell als ihre Grundlage?

Zum Teil werden diese Fragen im Vorwort zu Politeness: some universals in language usage von Gumperz beantwortet. Wie er darin bemerkt, ist Höflichkeit “basic to the production of social order, and a precondition of human cooperation” (Brown & Levinson 1987:xiii). Brown & Levinson beschreiben die Wichtigkeit ihres Untersuchungsgegenstandes für diverse Wissensbereiche wie folgt: “[…] we believe the issues addressed [here] […] have a perennial importance, for they raise questions about the foundations of human social life and interaction“ (Brown & Levinson 1987:1). Und dann: “Issues bearing upon politeness have emerged as being of central interest in sociolinguistics pragmatics applied linguistics social psychology conversation analysis and anthropology […]” (Brown & Levinson 1987:2).

Somit wäre die Bedeutung des Höflichkeitsphänomens für die genannten Disziplinen, die unter anderem in den Bereichen Soziologie und Kommunikationswissenschaft angesiedelt sind, begründet. Den interkulturellen Studien trägt das Höflichkeitsmodell insofern Rechnung, als es vergleicht, wie seine Strategien in drei miteinander nicht verwandten Sprachen - und damit unvermeidlich in den jeweiligen Kulturräumen8 - Anwendung finden: in Englisch Tzeltal (der Sprache eines Maya-Volks im Ort Tenejapa im mexikanischen Bundestaat Chiapas) und Tamil (der Sprache des Volks der Tamilen im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu). Das Ergebnis dieses von Brown & Levinson unternommenen Vergleichs ist die Erkenntnis, dass in diesen (und anderen) verschiedenen Sprachen bestimmte Parallelen in Bezug auf das Gesicht und die damit verbundenen Strategien feststellbar sind. Darüber hinaus zeichneten die Autoren im Rahmen ihrer Theorie neue Perspektiven für interkulturelle Forschung auf, die Cupach & Imahori auch wahrgenommen haben als sie die zentralen Konzepte des Höflichkeitsmodells wie die des Gesichts und der Gesichtsarbeit für ihre IMT übernahmen.

Im folgenden Abschnitt werde ich nach und nach die Bausteine der IMT präsentieren, indem ich zuerst die Ideen von Grice und Goffman skizziere (Kapitel 2.1 und 2.2), um von diesen dann zum Höflichkeitsmodell von Brown & Levinson überzugehen (Kapitel 2.3), auf das sich die IMT von Cupach & Imahori stützt (Kapitel 3).

2.1 Konversationale Implikaturen Kooperationsprinzip und Konversationsmaximen von Grice

Mit seiner Theorie der konversationalen Implikaturen entwickelte der Sprachphilosoph Paul Grice ein Regelwerk für eine effiziente Kommunikation und leistete damit einen großen Beitrag zur linguistischen Pragmatik.

Grice setzt voraus dass Gespräche normalerweise nicht aus einer Abfolge unzusammenhängender Bemerkungen bestehen, sondern das Ergebnis kooperativer Bemühungen der Interaktionsteilnehmer sind denn sonst wären Gespräche nicht rational. Die Teilnehmer erkennen bis zu einem gewissen Grad einen gemeinsamen Zweck oder eine gemeinsame Richtung des Gesprächs an, der/die zu Beginn des Gesprächs festgelegt wurde oder sich während des Gesprächs herausbildet, und den/die sie befolgen. Der allgemeine Zweck der Kommunikation besteht für Grice in „maximal effektivem Informationsaustausch“9. Auf dieser Annahme der grundsätzlichen Rationalität der Kommunikation zwischen den Menschen10 basiert sein Kooperationsprinzip, das er wie folgt formuliert: „Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs an dem du teilnimmst gerade verlangt wird“ (Grice 1993:248). In Anlehnung an Kant entfaltet Grice vier Kategorien der Maximen, die im Einklang mit dem Kooperationsprinzip stehen (Grice 1993:249-250).

Maxime der Quantität beinhaltet folgende Untermaximen:

1. Mache deinen Beitrag so informativ wie […] nötig.
2. Mache deinen Beitrag nicht informativer als nötig.

Maxime der Qualität lautet: „Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist“ und beinhaltet folgende Untermaximen:

1. Sage nichts, was du für falsch hältst.
2. Sage nichts, wofür dir angemessene Gründe fehlen. Maxime der Relevanz lautet: „Sei relevant“.

Die Maxime der Modalität lautet: „Sei klar“ und beinhaltet folgende Untermaximen (wobei laut Grice noch weitere möglich wären):

1. Vermeide Dunkelheit des Ausdrucks.
2. Vermeide Mehrdeutigkeit.
3. Sei kurz […].
4. Der Reihe nach!

Obwohl imperativisch formuliert sind die Maximen nicht im Kantschen Sinne moralisch-bindender Verhaltensanweisungen zu verstehen. Sie beschreiben vielmehr einen Mechanismus, der beim rationalen Verhalten im Kommunikationsprozess zur Anwendung gelangt. Die Verbindung zwischen dem Kooperationsprinzip und den Maximen besteht nun darin, dass, wenn der Sprecher bei einem Gespräch eine Aussage macht, die im Zusammenhang mit der vorherigen Aussage anscheinend keinen Sinn ergibt, der Hörer nach einem implizierten Sinn der Aussage suchen wird, was einen gewissen Perspektivenwechsel beim Kommunikationsprozess voraussetzt. Das in diesem Fall Implizierte - oder die konversationale Implikatur - ist unter den Prämissen zu verstehen, dass der Sprecher und der Hörer über das gemeinsame Hintergrundwissen über die konkrete Situation (das heißt über den sprachlichen und sonstigen Kontext), über die Welt und über einander verfügen, und dass beide annehmen, dass alles bisher Gesagte relevant war. Die konversationale Implikatur - im Gegensatz zur konventionalen Implikatur, die intuitiv erfasst wird - wird durch folgende Überlegung erschlossen: Wenn das vom Sprecher Gesagte eklatant von den Erwartungen des Hörers abweicht, die sich auf das wechselseitige Hintergrundwissen und das bisher Gesagte beziehen (das heißt wenn der Sprecher eine Konversationsmaxime verletzt, gegen diese verstößt oder außer Kraft setzt), wird der Hörer meinen - da er dem Sprecher die Einhaltung des Kooperationsprinzips und der Maximen unterstellt und das gemeinsame Hintergrundwissen voraussetzt -, dass der Sprecher etwas anderes implizierte, was im gegebenen Kontext einen Sinn ergibt; so wird er die Aussage des Sprechers um die im gegebenen Kontext fehlende Komponente ergänzen - er wird implikatieren. Auf diese

Weise wird das gegenseitige Verständnis der Interaktanten gewährleistet, auch wenn das Gesagte von der semantischen Bedeutung der Aussagen abweicht11.

2.2 Das Gesichtskonzept von Goffman

„Das Image [ face ]eines Menschen ist etwas Heiliges [...].“ (Goffman 1986:25, Anmerkung von mir)

Die Arbeiten des wichtigen, bis heute noch viel gelesenen soziologischen Theoretikers Erving Goffman konzentrieren sich auf das Gebiet der Mikrosoziologie einer „Soziologie der Gelegenheiten“ (1986:8). Das zentrale Thema des Sammelbands seiner bedeutenden Aufsätze Interaktionsrituale ist die soziale Organisation der Gegenstand dieser Organisation sind das Zusammenkommen von Personen und die zeitlich begrenzten Interaktionen, die daraus entspringen können. Direkte Interaktion in alltäglichen Zusammenhängen definiert Goffman als jene Ereignisse die im Verlauf und auf Grund des Zusammenseins von Leuten geschehen. Die Grundelemente des Verhaltens sind Blicke, Gesten, Haltungen und sprachliche Äußerungen, die Leute ständig in die Situation einbringen, unabhängig davon, ob diese Situation erwünscht ist oder nicht (Goffman 1986:7).

Goffmans großes Verdienst besteht darin, dass er nicht das Individuum und seine Psychologie sondern die syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen in den Mittelpunkt rückt. Dabei bringt er die Idee des Perspektivenwechsels ins Spiel, wodurch er den Interaktionen eine normativ stabilisierte Struktur abspricht und Beweglichkeit zuspricht. Die Idee des Wechsels zwischen der Sprecher- und Hörerperspektive spielt, wie oben im Kapitel 2.1 erwähnt, auch bei Grice (wie auch bei Mead und Blumer) eine zentrale Rolle. Bei Goffman begründet diese Idee einen stark konstruktivistischen Ansatz beim Verständnis von Gesicht. Der Begriff „Gesicht“ wird als ein im Terminus „sozial anerkannter Eigenschaften“ umschriebenes Selbstbild definiert. Der Agierende hat nicht objektiv ein Gesicht, sondern er meint, er habe eins: Das Gesicht ist „der positive soziale Wert“, „den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion“ (Goffman 1986:10). So ist man bemüht, sein Gesicht den anderen Interaktanten zu vermitteln - und damit die sozialen Eigenschaften, die man zu besitzen meint: „[D]as, was ein Mensch schützt und verteidigt und worin er seine Gefühle investiert, ist eine Idee von sich selbst“ (Goffman Es sein noch erwähnt, dass Goffman in seinen Ausführungen die Universalität der menschlichen Natur betont die die Gemeinsamkeiten in der sozialen Ordnung verschiedener Gesellschaften begründet. In jeder Gesellschaft wird dem Individuum beigebracht, wahrnehmungsfähig zu sein, ein Selbst, das durch das Gesicht ausgedrückt wird, und auf das Selbst bezogene Gefühle zu besitzen. Gleichzeitig bezeichnet der Autor den Menschen als eine Art von Konstruktion, die nicht nach inneren psychischen Neigungen sondern nach moralischen Regeln aufgebaut ist die ihm von außen auferlegt worden sind. Diese Regeln bestimmen die Selbsteinschätzung und die Bewertung anderer sowie die Techniken, die in der Begegnung angewandt werden. Die Regeln und die Art und Weise, wie sie in der jeweiligen Gesellschaft geordnet und kombiniert sind sind das was Gesellschaften voneinander unterscheidet. Diese Dichotomie gibt einen nahrhaften Boden für interkulturelle Untersuchungen, nämlich für Untersuchungen direkter Interaktionen zwischen Vertretern verschiedener Gesellschaften beziehungsweise Kulturkreise, was Brown & Levinson und später Imahori & Cupach weitgehend nutzen.

2.3 Höflichkeitsmodell von Brown und Levinson

Wie jede wissenschaftliche Theorie, gründet das theoretische Modell von Brown & Levinson auf einigen Annahmen. Da das Modell eine Zusammenführung und Weiterentwicklung der Theorien von Grice und Goffman versucht, gilt als grundlegend die Annahme, dass die theoretischen Systeme dieser beiden Autoren grundsätzlich gültig und wirksam sind und somit eine solide Basis darstellen, auf der weitergebaut werden kann.

2.3.1 Theoretische Einbettung Gricescher Theorie

Seit dem Artikel „Logik und Konversation“, in dem Grice seine konversationalen Implikaturen, das Kooperationsprinzip samt den vier Konversationsmaximen beschrieb, wurden von verschiedenen Autoren Versuche unternommen, diese zu revidieren - die Zahl der Maximen zu reduzieren (zum Beispiel Horn, Sperber und Wilson, vergleiche Brown & Levinson 1987:3-4) oder diese zu erweitern (zum Beispiel Leech, vergleiche Brown & Levinson 1987:3-4). Brown & Levinson bleiben jedoch bei den ursprünglichen vier Maximen und neun Untermaximen und beziehen darauf das Höflichkeitsphänomen, obwohl die Fragen der Höflichkeit in der Originaltheorie von Grice keine Rolle spielen. Dabei setzten sie bedingungslos die Prämissen der Rationalität und Effizienz in der zwischenmenschlichen Kommunikation voraus13. Sie konstruieren eine Modellperson (MP), die fließend eine natürliche Sprache beherrscht und mit zwei sozialen Eigenschaften ausgestattet ist - mit Rationalität und Gesicht. Unter Rationalität wird, wie bei Grice, das Handlungsprinzip verstanden, das ein Handeln beschreibt, das daran orientiert ist, ein bestimmtes Ziel mit den wirksamsten Mitteln und unter rationaler Abwägung möglicher Folgen und Nebenwirkungen zu verwirklichen (das Zweck-Mittel-Prinzip)14. Genau so wie Grice gehen die Autoren von der Kooperationsbereitschaft des Interaktanten aus. Wie ist nun die vorausgesetzte Rationalität der Interaktanten mit dem höflichen Verhalten vereinbar? Denn nun könnte man meinen, Höflichkeit sei nicht rational.

Nach Brown & Levinson ist höfliches Verhalten in der Gesellschaft unabdingbar, denn „politeness has to be communicated, and the absence of communicated politeness may, ceteris paribus, be taken as absence of the polite attitude“ (Brown & Levinson 1987:5, Hervorhebung im Original). In Anlehnung an Maynard-Smith15 und Goffman (1971)16 erklären sie diese Aussage wie folgt: Jeder sozialen Gruppe wohnt gewisse Aggression inne, die einerseits zum Zweck des Wettbewerbs mit anderen Gruppen aufrechterhalten, andererseits angesichts des Zusammenlebens mit anderen Gruppen gezügelt werden soll. In diesem Sinne besitzt Höflichkeit, die über Tischmanieren und Knigge-Bücher hinausgeht insoweit eine soziologische Signifikanz als sie gleichzeitig das Aggressionspotenzial voraussetzt und es gleichzeitig entschärft. Dadurch wird die Kommunikation zwischen potenziell aggressiven Gruppen ermöglicht. Laut Goffman ist dabei entscheidend, wie Signale freundlicher Haltung einer Gruppe von der anderen Gruppe gedeutet werden: Das Nicht-Vermitteln einer freundlichen Haltung zeugt von einer feindlichen Haltung (vergleiche Brown & Levinson 1987:1). Höflichkeit kann in diesem Kontext als Kanal zur Vermittlung freundlicher Signale verstanden werden.

Nun könnte man meinen, höfliches Verhalten stelle eine Abweichung vom Prinzip des rationalen Handelns dar, weil Höflichkeit immer zusätzliche Bemühungen bedeutete und daher nicht rational sei. Im Sinne von Brown & Levinson bedeutet Höflichkeit weder eine Abweichung vom Rationalitäts- und Effizienzprinzip, noch hat sie den Status einer Maxime (wie Grice selbst es für möglich hält, vergleiche 1993:250) oder eines Prinzips („Politeness Principle“ von Leech vergleiche Brown & Levinson 1987:4). Wenn sie nämlich einen Prinzip-ähnlichen Charakter hätte so wäre es praktisch unmöglich oder zumindest sehr schwer unhöflich zu sein: Auf eine unhöfliche Aussage müsste der Hörer, der sich auf das Kooperationsprinzip bezieht, dem Sprecher eine Kooperationsintention unterstellen und in dieser Aussage eine Implikatur suchen, die das unhöfliche Verhalten des Sprechers erklären würde (zum Beispiel „Der Sprecher ist in Eile“). Wenn Höflichkeit nicht rational wäre, so würde sie in der Kommunikation nicht als Mittel zur Verwirklichung bestimmter Ziele angewandt. Da nun die Kernannahme der Griceschen Theorie „no deviation from rational efficiency without a reason“ ist (Brown & Levinson 1987:5), stellt Höflichkeit nach Brown & Levinson keine Abweichung vom rationalen Verhalten und den Konversationsmaximen dar, sondern ist eben die Ursache für solche Abweichungen. Gleichzeitig sprechen die Autoren der Höflichkeit einen speziellen Status unter anderen Ursachen für Abweichungen zu und berufen sich dabei auf die „Omnirelevanz“ beziehungsweise Allgemeingültigkeit der Höflichkeit. Auf diese Weise erklären Brown & Levinson nichts Anderes, als dass konversationale Implikaturen neben anderen Informationen auch Informationen der Höflichkeit beinhalten können; sie sind so zu sagen Höflichkeitsimplikaturen:

In our model, then, it is the mutual awareness of ‘face’ sensitivity, and the kinds of means-ends reasoning that this includes, that together with the CP (Cooperation Principle, Anmerkung von mir) allows the inference of implicatures of politeness (Brown & Levinson 1987:6, Hervorhebung von mir).

2.3.2 Theoretische Einbettung Goffmanscher Theorie

Das Goffmansche Gesichtskonzept wird von einigen Autoren wegen ungenügender Einbettung in ein geschlossenes theoretisches Modell bemängelt (vergleiche Schulze 1985:77). Brown & Levinson entlehnen das Gesichtskonzept und integrieren es in ihr sehr sorgfältig ausgearbeitetes Höflichkeitsmodell. Sie haben aber auch das Konzept modifiziert, indem sie es als Grundbedürfnis oder Wunsch („want“) betrachten, das beziehungsweise der erfüllt werden muss. In diesem Sinne ist das Gesicht dem Individuum inhärent, kommt in Kommunikationssituationen zum Vorschein, indem es bestimmte Handlungen seitens des Einzelnen wie auch anderer Teilnehmer verlangt. Indem Brown & Levinson das Gesicht zum natürlichen Bedürfnis erklären, schlagen sie eine Lösung für das von Goffman formulierte Problem vor, nämlich die Beweggründe für das Einhalten sozialer Regeln durch die Individuen17:

Normalerweise ist die Aufrechterhaltung des Images [sic] eine Bedingung für Interaktion, nicht ihr Ziel. […] Will man untersuchen, wie ein Image zu wahren ist, so muss man die Verkehrsregeln sozialer Interaktion untersuchen. Dabei erfährt man etwas über die Regeln, nach denen sich jemand in der Interaktion bewegt, aber man lernt nichts über die Richtung und den Grund seines Verhaltens. Man erfährt nicht einmal, warum er bereit ist, diesen Regeln zu folgen […] (Goffman 1986:17).

Wie schon oben erwähnt, ist die von Brown & Levinson konzipierte Modellperson mit zwei Eigenschaften ausgestattet - mit Rationalität und Gesicht. Die Weiterentwicklung sind hier zwei Aspekte von Gesicht - das negative und das positive Gesicht, die jedes „kompetente erwachsene Mitglied“ der Gesellschaft besitzt. Das negative Gesicht bezieht sich auf das Bedürfnis des Menschen, eigenen Handlungsspielraum zu haben, ungestört zu sein und zu handeln, das heißt auf „the basic claim to territories, personal preserves, rights to non-distraction - i. e. to freedom of action and freedom from imposition“ (1987:61). Das positive Gesicht entspricht dem Bedürfnis des Menschen, grundsätzlich anerkannt, geschätzt und bewundert zu werden, dem Bedürfnis, dass die Anderen zumindest einige seiner Wünsche und Präferenzen teilen. Das ist „the positive consistent self-image or ‘personality’ (crucially including the desire that this self-image be appreciated and approved of) claimed by interactants“ (Brown & Levinson 1987:61).

Die Bezeichnungen können etwas verwirrend scheinen stammen letztlich (über Goffman) von Emile Durkheim der zwischen positiven und negativen Ritualen unterschied. Die negativen Rituale sind diejenigen, welche das Göttliche mit einem Schutzraum belegen. Die positiven Rituale suchen die Beziehung zum Göttlichen (vergleiche Goffman 1986:81). In Anlehnung an Durkheim unterscheidet Goffman unter Grundkomponenten des Verhaltens zwischen Ehrerbietung („deference“) und Benehmen („demeanor“). Ehrerbietung ist demnach die Komponente zeremonieller Handlungen „durch die symbolisch die Wertschätzung des Empfängers dem Empfänger regelmäßig übermittelt wird oder die Wertschätzung dessen, wofür dieser Empfänger als Symbol oder Repräsentant gilt“ (Goffman 1986:64). Unter dem „Benehmen“ wird die Verhaltenskomponente verstanden, die „dazu dient, dem Gegenüber zum Ausdruck zu bringen, daß man ein Mensch mit bestimmten erwünschten oder unerwünschten Eigenschaften ist“ (1986:86). Die beiden Komponenten entsprechen aber nicht oder nicht genau dem Verständnis von negativem und positivem Gesicht nach Brown & Levinson.

Laut Auffassung beider Autoren gelten die zwei Gesichtskomponenten für alle existierenden Gesellschaften: „This is the bare bones of a notion of face which (we argue) is universal, but which in any particular society we would expect to be the subject of much cultural elaboration“ (Brown & Levinson 1987:13).

Die Trennung der Gesichtsbedürfnisse führt zu einem Spannungsverhältnis, in dem einerseits die Gefahr der wechselseitigen Territoriumsverletzung besteht und andererseits die Herstellung von Solidarität erwünscht ist. Außerdem werden in der Alltagskommunikation mindestens drei Aspekte berücksichtigt:

a) der informationelle Inhalt einer Aussage;
b) die Schnelligkeit und Effizienz der Informationsmitteilung;
c) die Gesichtswahrung des Gegenübers.

Wie die Analyse der Autoren zeigt, können Ziele der Individuen teilweise nur über eine Verletzung von Gesichtsansprüchen erreicht werden. Handlungen, die zwingend eine Verletzung des negativen oder positiven Gesichts des Sprechers oder des Hörers verursachen werden gesichtsbedrohende Handlungen (face-threatening acts) bezeichnet. Beispiele für mögliche gesichtsbedrohende Handlungen sind:

- Bedrohungen des negativen Gesichts des Hörers durch den Sprecher: Druck auf den Hörer, eine Handlung zu tun oder zu unterlassen (Befehle, Ratschläge, Erinnerungen, Drohungen); Ankündigung einer zukünftigen Handlung durch den Sprecher (Angebote Versprechungen); Ausdruck von Wünschen oder Meinungen vom Sprecher bezüglich des Hörers (Komplimente, Ausdruck des Neids oder der Bewunderung, Ausdruck von Emotionen wie Hass, Zorn, Lust);
- Bedrohungen des positiven Gesichts des Hörers: Negative Einschätzungen des positiven Gesichts des Hörers (Kritik Verachtung Lächerlichmachen, Anklagen, Beschimpfungen); Gleichgültigkeit gegenüber des positiven Gesichts des Hörers (Ausdruck von unkontrollierter Emotion, Erwähnung von Tabus, schlechte Nachrichten über den Hörer oder evtl. gute Nachrichten über den Sprecher, Erwähnen von kontroversen Themen, Nicht-Kooperation wie zum Beispiel Unterbrechen, Abgelenktsein);
- Bedrohungen des negativen Gesichts des Sprechers durch den Sprecher oder den Hörer: Ausdruck des Danks Annahme des Danks Entschuldigungen des Hörers, Entschuldigungen, Annahme von Angeboten, Reaktionen auf einen faux pas von A, Versprechen und Angebote, die gegen den Willen des Sprechers gegeben werden;
- Bedrohungen des positiven Gesichts des Sprechers durch den Sprecher: Entschuldigungen, Annahme von Komplimenten Missgeschicke, Zusammenbruch der emotionalen Kontrolle Eingeständnisse von Schuld oder Verantwortung (vergleiche Brown & Levinson 1987:65-68).
Die Gewichtung der Bedrohung durch eine gesichtsbedrohende Handlung kann anhand von drei sozialen Faktoren erfolgen: sozialer Distanz zwischen Sprecher und Hörer („social distance“), relativer Macht des Hörers über den Sprecher („power“), und der Schwere der gefährdenden Handlung („ranking of impositions“). Diese Faktoren werden nicht als objektive Merkmale betrachtet, sondern werden von den Interaktanten geschätzt. Je nach der Kultur und Situation stehen diese unterschiedlich zueinander und werden unterschiedlich gewichtet. Diese geschätzten Faktoren bestimmen das „Niveau“ des höflichen Verhaltens (und damit die Wahl der gesichtswahrenden Strategien), das der Sprecher dem Hörer entgegenbringt.

[...]


1 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff face mit dem deutschen „Gesicht“ übersetzt, weil es in Anlehnung an die Ausdrücke „das Gesicht wahren/verlieren“ dem Konzept face ziemlich nahe kommt, obwohl ihm in manchen Fällen doch nicht ganz passgenau entspricht (zum Beispiel Bitte um eine Zigarette ist eine face -Drohung, aber keine Gesichtsdrohung (vergleiche „gesichtsbedrohende Handlung“ in Kapitel 2.3.2; Schulze 1985)). Die Übersetzungsvariante „Image“ als „Vorstellung, Bild, das Einzelner od. eine Gruppe von einer anderen Einzelperson, Gruppe od. Sache hat; [idealisiertes] Bild von jmdm., etw. in der öffentlichen Meinung“ (Duden 2003:820) setzt im Deutschen eine starke evaluative Konnotation voraus (man denke zum Beispiel an Werbung und Propaganda). Genauso wird mit den im Weiteren auftauchenden Begriffen face-threatening act und facework vorgegangen die mit „Gesichtsbedrohende Handlung“ beziehungsweise „Gesichtsarbeit“ übersetzt werden (zur Begriffsklärung siehe Kapitel 2.2 und 2.3). In der deutschsprachigen Fachliteratur sind sowohl deutsche Entsprechungen als auch englische Originalbezeichnungen anzutreffen (vergleiche unter anderen Lüger 2001 beziehungsweise Schulze 1985).

2 Frauen führen die in dieser Arbeit aufgeführten Funktionsbezeichnungen in weiblicher Form.

3 Mead versteht auch „Interaktion als Kommunikationsprozess“ (Abels 2004:312).

4 Die Fragen der Wirklichkeitswahrnehmung und -deutung und der prinzipiellen Möglichkeit des Verstehens eines Anderen sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden, denn damit wären grundlegende ontologische und kognitionswissenschaftliche Probleme aufgeworfen die von dem formulierten Thema weit weg führen würden. Imahori & Cupach verweisen hierfür auf Stephen, T. (1986), Wood J. T. (1982), Duck, S. (1991), Baxter L. A. (1987), Montgomery B. M. (1992), vergleiche Imahori & Cupach 2005. Zur Frage des (Nicht-)Verstehens siehe unter anderen Hahn 1994.

5 Und ich würde hier die Identität eines Individuums als aus mehreren (Teil-)Identitäten bestehend betrachten, wobei die kulturelle Identität diejenige ist, die Collier & Thomas als „ethnic identity“ betrachten, also „identification as percieved acceptance into a group with shared heritage and culture“ (Collier & Thomas 1988:115).

6 Sehr bildhaft sind diese Prozesse bei Goffman (1986; 2004) geschildert; siehe dazu auch Kapitel 2.2.

7 Es sei von vornherein angemerkt, dass meine Untersuchung auf Imahoris Studie aus dem Jahr 2002 basiert; in dieser Studie überprüfte der Autor die Annahmen, die in der 1993 veröffentlichten Version der IMT gestellt wurden (dazu siehe Teil II, Kapitel 4.3).

8

Der Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur wird oft in der modernen

translationswissenschaftlichen Literatur hervorgehoben. Standpunkte werde vertreten, dass Sprache „das konventionelle Kommunikations- und Denkmittel einer Kultur“ ist (Reiß & Vermeer 1991:26), dass man beim Erlernen einer Sprache „eine ganze Welt mit ihr und um sie“ lernt (Vermeer 1996:164).

9 Wobei er selbst einräumt, dass diese Kennzeichnung zu eng ist und anderen allgemeinen Zwecken wie der Beeinflussung oder Steuerung des Handelns nicht Rechnung trägt. Genauso lässt er zu, dass auch andere Konversationsmaximen (siehe unten) wie etwa „Sei höflich“ möglich sind, sie würden aber vornehmlich anderen Zwecken als dem des Informationsaustauschs (zum Beispiel denen ästhetischer oder moralischer Natur) dienen (1993:250).

10 Wobei es zu bemerken gilt, dass Grice sprachliche Kommunikation als einen Spezialfall „zweckhaften, ja rationalen Verhaltens“ sah (1993:251); somit ist seine Theorie auch für nichtsprachliche Interaktionen anwendbar.

11 Vergleiche hier die Rollenübernahme bei der Aushandlung von Symbolbedeutungen und der Definition eigener Identität bei Mead und Blumer (siehe Kapitel 1.2 und 1.3).

13 Dadurch übernehmen Brown & Levinson von Grice vielleicht idealisierende Annahmen (Rationalität, Kooperationsprinzip). Diese Vorgehensweise lässt sich meines Erachtens durch die Komplexität des Untersuchungsgegenstands sowie durch die erwünschte Universalität des Modells rechtfertigen.

14 Vergleiche mit der Zweckrationalität von Weber (vergleiche Weber 2002).

15 Maynard-Smith, J.: Origins of social behaviour, Lecture delivered at Darwin College, Cambridge. In Fabian, A., ed. Origins, in press.

16 Goffman, E. 1971. Relations in public: microstudies oft he public order. New York.

17 Vergleiche hier die Problematik der Grundbedürfnisse des Menschen (zum Beispiel nach einer Identität, wie bereits in Kapitel 1.3 erwähnt).

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Identity Management Theory - Eine Untersuchung "Kulturelle Identität von Belarussen im Ausland"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Germanisitk - Interkulturelle Kommunikation)
Note
1.3
Autor
Jahr
2009
Seiten
79
Katalognummer
V165215
ISBN (eBook)
9783640811434
ISBN (Buch)
9783640811335
Dateigröße
705 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interkulturelle Kommunikation, intercultural communication, Belarus, Weißrussland, Weißrussen, Identity Management Theory, Selbstbewusstsein, face, Brown, Levinson, Belarussen, Gesichtsarbeit, Lakoff;, Grice, Goffman, nationale Identität, Interkulturalität, Konversationsmaxime, Cupach, Imahori, Interaktion, Kommunikation, face work, Collier, Alexander Thomas, Kulturstandards, Kultur, Konversation, Individuum, Hofstede, Gudykunst, Persönlichkeit, Soziologie, Psychologie, soziale Rolle, politeness, Höflichkeit, Maxime, Gesicht
Arbeit zitieren
Kurachkina Katsiaryna (Autor:in), 2009, Identity Management Theory - Eine Untersuchung "Kulturelle Identität von Belarussen im Ausland", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165215

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