Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1.0 Einleitung
2.0 Theorie und Konzepte
2.1 Das Konzept der Europäischen Integration
2.2 Einfluss der Europäischen Integration auf Identitätsstrukturen
3. Forschungsdesign
4. Empirie
4.1 Fallauswahl
4.2 Die Variablen
4.2.1 Politische Freiheit
4.2.2 Wirtschaftliche Freiheit
4.2.3 Soziale Freiheit
4.2.4 Europäische Integration
4.2.5 Nationale Identität
4.3 Die Analyse
5. Fazit
Tabellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
1.0 Einleitung
Im Diskurs um die Frage nach der Vereinbarkeit von nationaler und europäischer Identität hat Laura Cram mit ihrer These, dass „European integration facilitates the flourishing of diverse national identities rather than convergence around a single European identity“ (Cram 2009a, 110) frischen Wind gebracht. Ziel dieser Arbeit ist es, diese These mittels einer qualitativ vergleichenden Analyse1 empirisch zu überprüfen (vgl. Ragin 1987; Schneider/Wagemann 2007). In einem ersten Schritt definiere ich hierfür das Konzept der Europäischen Integration. Anschließend stelle ich den aktuellen Stand der Forschung zu der Frage dar, inwiefern der Prozess der Europäischen Integration vorhandene Identitätsstrukturen beeinflusst und wie diese aufgebaut sind. In einem nächsten Schritt führe ich die entsprechenden unabhängigen Variablen2 und die abhängige Variable3 ein. Die darauf folgende Analyse und das abschließende Fazit reflektieren kritisch die Brauchbarkeit der Methode für die verwendete Fragestellung und geben einen Ausblick auf zukünftige notwendige Forschungsarbeiten.
2.0 Theorie und Konzepte
Im folgenden Abschnitt stelle ich den aktuellen Forschungsstand in Bezug auf das Konzept der Europäischen Integration als auch in Bezug auf den Einfluss des Prozesses der Europäischen Integration auf die in der Bevölkerung des jeweiligen Staates vorhandenen Identitäten dar.
2.1 Das Konzept der Europäischen Integration
Integration (lat. Integration = Einbeziehung) bezeichnet den Vorgang oder das Ergebnis der Entstehung einer Einheit aus mehreren Elementen, beziehungsweise die Fähigkeit dieser Einheit den Zusammenhalt seiner einzelnen Elemente zu gewährleisten (vgl. Nohlen 2005, 388; Schmidt 2010, 364 - 365). Dieser Zusammenhalt wird innerhalb internationaler, integrierter Organisationen dadurch gewährleistet, dass die Mitgliedsstaaten Entscheidungskompetenzen in einigen Policy-Bereichen zu einem gemeinsamen politischen Körper transferieren, dessen Entscheidungen für alle Mitglieder bindend sind (vgl. Dedman 2010, 7). Darüber hinaus verfügen derartige internationale Organisationen über die Fähigkeit, Sanktionen zu verhängen. Die zentralen Vorteile dieser Organisationsform im Allgemeinen und der Europäischen Union4 im Speziellen liegen in drei wesentlichen Punkten begründet: Erstens wohnt den vertraglichen Vereinbarungen eine für internationale Verträge bemerkenswerte „Unumkehrbarkeit“ bei͘ Dieser Garantiemechanismus dient als Grundlage für weitere Kooperationen. Zweitens ist diese Organisationsform von einem besonderen Grad an Exklusivität gekennzeichnet. So legt beispielsweise der Vertrag zur Europäischen Union eindeutig im Artikel 49 fest, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Staat der EU beitreten kann (vgl. Amtsblatt der Europäischen Union 2010). Demnach muss die einstimmige Zustimmung zum Beitritt eines Kandidaten durch alle Mitgliedsstaaten der EU erfolgen. Ein dritter Vorteil liegt im hohen Grad an Konformität begründet (vgl. Dedman 2010, 7 - 14).
An dieser Stelle sei auf die Definition von Haas verwiesen, die die weiter oben angesprochenen zentralen Merkmale des Prozesses der Europäischen Integration zusammenfasst und um einige weitere interessante Aspekte erweitert: Haas definiert Europäische Integration als „a process whereby political actors in several distinct national settings are persuaded to shift their loyalties, expectations and political activities toward a new centre, whose institutions possess or demand jurisdiction over pre-existing national states. The end result of a process of political integration is a new political community, superimposed over the pre-existing ones͘” (Haas 1968, 16). Diese Definition muss allerdings noch um einige Aspekte erweitert werden, damit sie den Prozess in seiner Gesamtheit abbilden kann. Um dies zu erreichen treffe ich folgende Annahmen:
1. Europäische Integration ist ein fortwährender Prozess.
2. Dieser Prozess findet ungleichmäßig statt: Manche Phasen sind von einem schnellen Voranschreiten geprägt, andere Phasen von wenigen bis gar keinen Fortschritten.
3. Der Prozess ist umkehrbar.
4. Der Prozess ist in seiner engeren Auswirkung auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beschränkt.
5. Der Prozess umfasst eine politische, wirtschaftliche, juristische, soziale und kulturelle Dimension.
6. Die Auswirkungen des Prozesses sind nicht für alle EU-Mitglieder gleich und müssen somit in einer adäquaten Analyse separat erfasst werden.
Europäische Integration definiere ich somit als den ungleichmäßigen Prozess der Schaffung und Weiterentwicklung von Zuständigkeiten im politischen, wirtschaftlichen, juristischen, kulturellen wie auch sozialen Bereich auf Ebene der Europäischen Union.
2.2 Einfluss der Europäischen Integration auf Identitätsstrukturen
In der Politikwissenschaft gibt es lebhafte Auseinandersetzungen über den Einfluss der Europäischen Integration auf die Identitätsstrukturen (vgl. Cram 2009a, 2009b; Risse 2003; Diez Medrano/Gutiérrez 2001; Laitin 2001; Citrin/Sides 2004; Ichijo/Spohn 2005). Nichtsdestotrotz ist es mittlerweile Konsens, dass ein Individuum über mehrere Identitäten verfügen kann (vgl. Risse 2003, 488; Medrano/Gutiérrez 2001, 757). Wie diese verschiedenen Identitäten sich allerdings zueinander verhalten ist Grund für lebhafte Auseinandersetzungen. Obgleich sich immer mehr die Auffassung durchzusetzen scheint, dass das nationale Zugehörigkeitsgefühl in Konkurrenz zu einem Zugehörigkeitsgefühl gegenüber der Europäischen Union steht, gibt es zahlreiche Wissenschaftler, die andere Ansätze verfolgen, von denen im Folgenden einige exemplarisch vorgestellt werden (vgl. Cram 2009a, 110). Ineinander verschachtelte Identitäten Der Ansatz von ineinander verschachtelten Identitäten impliziert eine Hierarchie von multiplen Identitäten: Meine Identität als Bürger einer Stadt ist „verschachtelt“ in meine Identität als Bürger einer Region, welche wiederum „verschachtelt“ ist in meine Identität als Bürger eines Staates (vgl. Medrano/Gutiérrez 2001, 757 - 758). Dieser Ansatz ermöglicht nicht nur das Vorhandensein multipler Identitäten, sondern ordnet diese auch entsprechend ihrer Bedeutung für das jeweilige Individuum hierarchisch.
Das Marmorkuchen-Modell
Auch das Marmorkuchen-Modell geht davon aus, dass ein Bürger durchaus über multiple Identitäten verfügen kann. Im Gegensatz zum Modell verschachtelter Identitäten impliziert dieser Ansatz jedoch, dass die verschiedenen Identitäten nicht eindeutig voneinander zu trennen sind, sie gehen viel mehr ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig (vgl. Risse 2003, 491).
Das Modell geschichteter Identitäten
In seiner Analyse nationaler Identitäten untersucht Laitin drei verschiedene Ebenen:
Die erste bezeichnet er als Europäischen Proto-Staat, die zweite sind die entsprechenden Nationalstaaten der EU und die letzte Ebene sind lokale Quasi-Staaten. Er konzentriert sich während seiner Analyse auf die linguistische Dimension, die gleichzeitig auch die einzige kulturelle Dimension seiner Analyse bleibt. Ein zentrales Argument seiner Analyse ist, dass nicht wie die weit verbreitete Meinung in der bisherigen Forschungsliteratur suggeriert, das Fehlen einer gemeinsamen sprachlichen Basis das Voranschreiten hin zu einem Europäischen Staat verhindert, sondern das Voranschreiten viel mehr von einer erfolgreichen Sprachenkonstellation abhängig sei. Diese Konstellation setzt sich zusammen aus der Lingua franca für Europa, den jeweiligen Amtssprachen der Staaten und der jeweiligen regionalen Sprache. Diese drei Ebenen (supranationale, nationale und regionale Ebene) sind kennzeichnend für sein Modell der geschichteten Identitäten (vgl. Laitin 2001, 84 - 109).
Modell der banalen, kontextuell abhängigen und ungewissen Identität Cram argumentiert, dass eine voranschreitende Europäische Integration nationale Identitäten stärken könne. Durch die Funktion der EU als Vermittler verschiedenartiger kollektiver Identitäten fördere die Europäische Integration indirekt die „enhabitation“ (Cram 2009a, 110) der EU und ermögliche so die] Entstehung eines Zugehörigkeitsgefühls, welches sie „banal Europeanism“ (Cram 2009a, 110) nennt. Den Prozess der Identitätsbildung kennzeichnet sie als banal, kontextuell abhängig und als ungewiss, zufällig („contingent“) (vgl. Cram 2009a, 110). Der Prozess ist banal, weil „identification is not always passionate or heroic but mundane, even banal“ (Cram 2009b, 104)͘ So könne beispielsweise das Mitführen von EU-weit gültigen Reisepässen Bürger bereits an ihre Involvierung und deren Vorteile erinnern (vgl. Cram 2009b, 104). Der identitätsbildende Prozess ist insofern kontextuell abhängig, als dass verschiedene Möglichkeiten, Einschränkungen, interne und externe Herausforderungen vorliegen, unter denen die verschiedenen Akteure operieren und somit gilt, dass „when two individuals claim to ‚feel European‘, they might mean totally different things in terms of both the intensity oft he feeling they describe and the imagined political community they refer to“ (Bruter 2003, 1154). Die Ungewissheit des Ausgangs dieses Prozesses begründet die Autorin damit, dass die entsprechenden Zugehörigkeitsgefühle gegenüber einer entsprechenden politischen Einheit auf eine andere politische Einheit übertragen werden können, sollte der Nutzen dieses Vorhabens die Kosten überwiegen (vgl. Cram 2009a, 112).
Crams These, dass „European integration facilitates the flourishing of diverse national identities“ (Cram 2009a, 110) bildet die Grundlage für meine Forschungsfrage, inwiefern der Prozess der Europäischen Integration nationale Identitäten stärkt.
Hierfür treffe ich folgende Annahmen:
I. Ein Individuum kann über mehrere Identitäten verfügen (vgl. Risse 2003, 488; Medrano/Gutiérrez 2001, 757).
II. Multiple Identitäten stehen in einer Konkurrenzsituation zueinander (vgl. Cram 2009a, 110).
III. Der Prozess der europäischen Integration kann auf kurze Sicht nationale Identitäten stärken, auf langfristige Sicht stärkt der Prozess allerdings das Zugehörigkeitsgefühl zur EU (vgl. Deutsch et al. 1957, 85).
IV. Europäische Integration ist weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Phänomen für nationale Identitäten.
Meine auf diesen Annahmen aufbauende These ist, dass der Prozess der europäischen Integration weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Entwicklung nationaler Identitäten ist und trotz etwaiger kurzfristiger positiver Effekte auf lange Sicht die Stärkung einer EU-Identität fördert.
3. Forschungsdesign
Eine qualitativ vergleichende Analyse macht sich die Eigenschaften Boolescher Algebra zu Nutze, um bei einer holistischen Vorgehensweise zu deterministischen Aussagen über den Einfluss von in der Regel mehreren UV auf eine AV zu gelangen (vgl. Ragin 1987). Hierbei werden alle möglichen Kombinationen an dichotomen unabhängigen Variablen in eine Wahrheitstafel eingetragen, um ihren Einfluss auf die abhängige Variable zu untersuchen (vgl. Smilde 2005, 763 - 766). Dieses System ist auch als Crisp-Set QCA bekannt und steht somit in Abgrenzung zu Fuzzy-Set QCA, bei denen auch die Abstufungen zwischen den beiden Extremen des Vorliegens und Nichtvorliegens einer Eigenschaft erfasst werden. Diese eindeutig vorzunehmende Abgrenzung zwischen dem Nichtvorhandensein und dem Vorhandensein eines Phänomens kann sich als mitunter problematisch erweisen. Nichtsdestotrotz ist die QCA durch die Verwendung der Booleschen Algebra „an ideal instrument for identifying patterns of multiple conjunctural causation“ (Ragin 1987, 101). Des Weiteren bietet die QCA im Vergleich zur Methode der Differenz, beziehungsweise der Übereinstimmung nach Mill einige interessante Vorteile (vgl. Schneider/Wagemann 2007, 73 - 77). Schließlich kann mit einer QCA nicht nur untersucht werden, ob eine Bedingung notwendig oder hinreichend ist, sondern auch der Umgang mit dem Problem begrenzter empirischer Vielfalt gehört zu den Stärken dieser Analysetechnik (vgl. Ragin 1987, 103 - 125). All diese Eigenschaften machen die QCA für mein Forschungsvorhaben interessant.
[...]
1 Im Folgenden als QCA abgekürzt.
2 Im Folgenden als UV abgekürzt.
3 Im Folgenden als AV abgekürzt.
4 Im Folgenden als EU abgekürzt.