Erziehungsunsicherheit. Herausforderungen der Elternschaft

Der Elternkurs "Starke Eltern - Starke Kinder" zur Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz


Diplomarbeit, 2010

117 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Wandel der Familie
2.1 Die Entstehung der modernen Kleinfamilie
2.2 Die Individualisierungsthese von Beck
2.2.1 Wertewandel
2.3 Destabilisierung der traditionellen Kernfamilie
2.3.1 Demographischer Wandel
2.3.2 Pluralisierung der Familienformen
2.4 Wandel des familialen Binnenlebens
2.4.1 Wandel der Geschlechterrollen
2.4.2 Veränderte Erziehungsvorstellungen
2.5 Herausforderungen der Elternschaft und Erziehungsunsicherheit

3 Erziehungskompetenz
3.1 Begriffsdefinition Erziehung
3.1.1 Erziehungsstile
3.2 Elterliche Erziehungskompetenz
3.2.1 Die Fünf Säulen der Erziehung
3.2.1.1 Entwicklungsfördernde Erziehung
3.2.1.2 Entwicklungshemmendes Erziehungsverhalten

4 Elternbildung
4.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzung
4.2 Rechtliche Grundlagen
4.2.1 UN-Kinderrechtskonvention
4.2.2 Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung
4.2.3 Das Kinder- und Jugendhilfegesetz
4.3 Formen der Elternbildung
4.3.1 Informelle Elternbildung
4.3.2 Institutionelle Elternbildung
4.3.3 Mediale Elternbildung
4.4 Kategorisierung
4.5 Aufgaben und Ziele
4.5.1 Prävention durch Elternbildung
4.6 Methoden und Ansatzpunkte
4.7 Teilnehmer von institutionellen Elternbildungsangeboten
4.7.1 Kenntnis und Nutzungsverhalten
4.7.2 Teilnehmermotivation
4.7.3 Teilnehmerproblematik
4.7.3.1 Sprachbarrieren
4.7.3.2 Verhaltensbarrieren
4.7.3.3 Institutionelle Barrieren
4.7.4 Forderungen und Perspektiven

5 Der Elternkurs „Starke Eltern – Starke Kinder“
5.1.1 Entstehungsgeschichte
5.1.2 Konzeptionelle Grundlagen
5.1.3 Inhalte und Ziele
5.1.3.1 Das Modell der anleitenden Erziehung
5.1.4 Aufbau und Ablauf der Kursabende
5.1.5 Kursleitung
5.1.6 Teilnehmer und Teilnehmermotive
5.1.6.1 Starke Eltern, Starke Kinder – ganz praktisch

6 Evaluation des Elternkurses
6.1 Überblick zum bisherigen Forschungsstand
6.2 Evaluationsstudie von Tschöpe-Scheffler und Niermann
6.2.1 Teilnehmerbefragung
6.2.2 Tiefeninterviews
6.2.3 Kinderbefragung
6.2.4 Zusammenfassende Ergebnisse
6.3 Wirkungsanalyse des Elternkurses von Rauer
6.3.1 Fragebogenuntersuchung der Eltern
6.3.2 Fragebogenuntersuchung der Kinder
6.3.3 Follow-up Erhebung
6.3.4 Interaktionsbeobachtung
6.3.5 Zusammenfassende Ergebnisse

7 Resümee

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Familienformen (ca. %)

Abbildung 2: Erziehungsziele in Deutschland im Zeitverlauf

Abbildung 3: Erziehungsunsicherheit 2002 und 2006

Abbildung 4: Der Erziehungsbegriff nach Brezinka

Abbildung 5: Eine Klassifizierung der Erziehungsstile

Abbildung 6: Fünf Säulen der Erziehung

Abbildung 7: Kenntnis und Nutzung von Elternbildungsangeboten

1 Einleitung

Die Erziehung der Kinder ist eine alltägliche Aufgabe und Herausforderung, bei der immer mehr Eltern an ihre Grenzen stoßen. Die meisten Eltern lieben ihre Kinder und möchten in der Erziehung alles richtig machen. Ihre Kinder sollen sich zu starken, selbstbewussten Persönlichkeiten entwickeln. Aber wie sieht eine „gute“ und „richtige“ Erziehung aus?

Eltern stehen vor vielen Fragen und Entscheidungen, wenn es um die Entwicklung und Erziehung ihrer Sprösslinge geht: Braucht mein Kind klare Grenzen oder vor allem Freiraum, um sich entwickeln zu können? Welcher Erziehungsstil ist am besten? Wie kann ich mein Kind optimal fördern? Mit diesen und anderen Fragen müssen sich Eltern immer wieder auseinandersetzen.

Viele Eltern fühlen sich in ihrer Erziehungsaufgabe allein gelassen und sind auf der Suche nach Orientierung und Unterstützung. Seit Jahren ist das Interesse an den zum Teil sehr umstrittenen Medienangeboten, wie „Teenager außer Kontrolle - Letzer Ausweg Wilder Westen“ (zuletzt ausgestrahlt von Februar bis April 2010) oder „Die Super Nanny“ (RTL) ununterbrochen groß. „So kam Diplom-Pädagogin Katharina Saalfrank (…) auf einen Marktanteil von satten 21,7 Prozent (…), 2,59 Millionen 14 bis 49-Jährige waren dabei. Dies war zugleich Rang zwei in den Quoten-Top-Ten vom Mittwoch“ (Tv-Tipps 2009).

In „Die Super Nanny“ besucht eine Diplom-Pädagogin Familien mit Erziehungsproblemen in ihrem häuslichen Umfeld und steht ihnen beratend zur Seite. In der Reality Show „Teenager außer Kontrolle - Letzer Ausweg Wilder Westen“ werden schwer erziehbare Jugendliche einer Therapie in der freien Natur unterzogen. Sie sollen, weit entfernt von der Zivilisation, resozialisiert werden.

Gemeinsam ist diesen Formaten, dass Erziehungsprobleme offengelegt und bearbeitet werden. Viele der rezipierenden Eltern können sich mit den dargestellten Problemen identifizieren und suchen auf diesem Weg Antworten und Lösungsmöglichkeiten für ihre eigenen Erziehungsprobleme.

Neben dem medialen Interesse an diesen Fernsehformaten, haben auch die Erziehungs- und Familienberatungsstellen in den letzten Jahren einen enormen Zuwachs erfahren. Im Jahr 1991 wurden insgesamt 131.877 Beratungsfälle durchgeführt, 2006 hat sich die Anzahl mit 278.780 Beratungsgesprächen mehr als verdoppelt (vgl. Statistisches Bundesamt 2007a).

Gleichzeitig ist ein unüberschaubarer Markt an Eltern- und Erziehungsratgebern entstanden. Laut Spiegel wurden im Jahr 2004 in Deutschland 750 Millionen Euro für Erziehungsratgeber ausgegeben (vgl. Von Gatterburg, Matussek & Wolf 2006, S. 79)

Aber auch im Internet gibt es zahlreiche Seiten, Plattformen und Foren, die Eltern nutzen können, um sich über Erziehungsfragen austauschen, informieren und beraten zu können. Beispielhaft sind hier das „Online-Familienhandbuch“ von Fthenakis und Textor oder die Ratgeberseite „Eltern im Netz“ vom Bayrischen Landesjugendamt zu nennen.

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass der Bedarf an Orientierung und Unterstützung in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Der Staat versucht diesem gewachsenen Informationsbedürfnis nachzukommen, indem er Bildungshilfen, wie z.B. Elternkurse anbietet.

In meiner Diplomarbeit setze ich mich mit diesen Elternbildungsangeboten und speziell mit dem Elternkurs „Starke Eltern – Starke Kinder“ auseinander. Die Leitfrage meiner Diplomarbeit lautet: Kann der Elternkurs „Starke Eltern – Starke Kinder“ Eltern Hilfe und Unterstützung in der Erziehung ihrer Kinder bieten und Unsicherheit und Überforderung reduzieren?

Um diese Frage differenziert beantworten zu können, beleuchte ich zunächst die Anforderungen und Herausforderungen der Elternschaft. Im ersten Teil meiner Diplomarbeit gehe ich der Frage auf den Grund, wieso viele Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Hierzu ist es notwendig, sich mit dem familiären Wandel im historischen Verlauf auseinander zu setzen.

Viel mehr als noch vor einigen Jahren, stehen Eltern heutzutage unter einem enormen Erziehungsdruck. Einerseits stellen Eltern selbst hohe Anforderungen an ihre Elternrolle, mit dem Ziel die kindliche Persönlichkeit bestmöglich zu fördern. Andererseits sind auch die Erwartungen auf der gesellschaftlichen Ebene an eine gelungene Elternschaft gestiegen. In den letzten Jahrzehnten hat ein enormer Bedeutungszuwachs von Kindern stattgefunden. Alte Wertvorstellungen wurden abgelöst und Erziehungsvorstellungen haben sich gewandelt. Durch das Fehlen von allgemeinverbindlichen Regeln und den Verlust von tradierten Werten, sind Eltern zunehmend auf sich allein gestellt und können nicht mehr auf das Wissen ihrer vorangegangenen Generation zurückgreifen. Sie müssen auf ihre „intuitive Erziehungskompetenz“ vertrauen.

Aber wodurch zeichnet sich eine kompetente Erziehung überhaupt aus? Um diese Frage beantworten zu können, greife ich das Modell der „Fünf Säulen der Erziehung“ von Tschöpe-Scheffler auf. Diese unterscheidet in ihrem Modell zwischen entwicklungshemmendem und entwicklungsförderndem Erziehungsverhalten. Anhand der beiden Dimensionen können Eltern ihr eigenes Erziehungsverhalten überprüfen und reflektieren.

Viele Eltern schaffen diesen Reflexionsprozess jedoch nicht allein und sind auf Hilfe angewiesen. In diesem Zusammenhang sind Elternbildungsangebote eine wichtige Unterstützungsmaßnahme.

Im weiteren Verlauf meiner Arbeit stelle ich in umfassender Weise die Grundlagen von Elternbildung dar. Hierzu gehören unter anderem eine Begriffsklärung, die Unterscheidung von verschiedenen Formen der Elternbildung, die Gesetzesgrundlagen, sowie allgemeine Methoden und Ziele von Elternbildungsprogrammen. Weiterhin prüfe ich mit einem kritischen Blick, welche Probleme es in der Elternbildungslandschaft gibt. Denn diese werden immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, „bildungsferne“ bzw. „bildungsungewohnte“ Personen nicht erreichen zu können.

Innerhalb der Elternbildungslandschaft nehmen Elternkurse einen wichtigen Bestandteil ein. Auch hier gibt es eine Bandbreite an Angeboten, die allesamt das Ziel verfolgen, die Erziehungskompetenz von Eltern zu stärken.

Ich habe mich für die Betrachtung und Analyse des Elternkurses „Starke Eltern – Starke Kinder“ vom Deutschen Kinderschutzbund entschieden, weil dieser seit geraumer Zeit existiert, sich durch einen hohen Bekanntheitsgrad auszeichnet und bereits mehrfach evaluiert wurde.

In diesem Zusammenhang gehe ich der Frage auf den Grund, ob sich die Teilnehmer nach dem Besuch des Elternkurses „Starke Eltern – Starke Kinder“ selbstbewusster und sicherer im Umgang mit ihren Kindern fühlen. Kann die Kommunikation innerhalb der Familie gestärkt werden und führt dies zu einer gewaltfreien Konfliktlösung?

Um wissenschaftliche Aussagen über die Qualität und Wirkung des Elternkurses treffen zu können, ziehe ich sowohl eine Evaluationsstudie von Tschöpe-Scheffler und Niermann (2002), als auch eine Wirkungsanalyse von Rauer (2009) heran. Anhand dieser Studien ist es möglich, den Elternkurs einer genauen wissenschaftlichen Betrachtung zu unterziehen und dementsprechende Antworten auf meine Fragen zu finden.

2 Wandel der Familie

2.1 Die Entstehung der modernen Kleinfamilie

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung war während der vorin-dustriellen Zeit in der Landwirtschaft für die Selbstversorgung tätig, um das eigene Überleben zu sichern. Insbesondere für die Bauern, aber auch für Handwerker, Kaufleute und dem Adel war das sogenannte „ganze Haus“ das am weitesten verbreitete Wirtschafts- und Sozialgebilde. Alle Mitglieder, zu denen neben Blutsverwandte auch nicht verwandte Personen wie Knechte, Mägde oder Gesellen gehörten, waren in das Arbeitsleben eingebunden.

Im „ganzen Hauses“ gab es eine hierarchisch organisierte Sozialstruktur. Der Hausvater war das patriarchalisch-autoritäre Oberhaupt, Kinder und Gesinde bildeten das Ende der Hierarchieabfolge. Jeder war in das Arbeitsleben eingebunden, denn das Familienleben war primär auf die wirtschaftliche Produktion ausgerichtet. Dementsprechend waren die Beziehungen untereinander eher zweckmäßig und durch eine affektive Neutralität gekennzeichnet (vgl. Peuckert 2008, S. 17).

Geheiratet wurde nicht aus Liebe, sondern aus ökonomischen Gründen. Ausschlaggebend für eine Partnerwahl waren der Besitz und die Arbeitsfähigkeit. Auch die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern war eher gefühlsarm. Sie wurden als potentielle Arbeitskräfte angesehen und schon sehr früh in das Arbeitsleben eingegliedert. „Die Erziehung der Kinder (…) erfolgte – bei geringer Aufmerksamkeit durch die Eltern – auf eine gleichsam ‚natürliche‘ und beiläufige Art, indem diese in die bäuerliche Arbeitswelt (…) hineinwuchsen“ (Meyer 1992, S. 37).

Entgegen vieler Mythen waren die Familienformen in der vorindustriellen Gesellschaft keinesfalls homogen, sondern durch eine hohe Vielfalt gekennzeichnet. „Die Familienformen besitzen in der traditionellen Gesellschaft ein höheres Maß an Pluralität als über weite Strecken der modernen Gesellschaft“ (Lenz/Böhnisch 1997, S. 13).

Auch die weit verbreitete Vorstellung, bei dem „ganzen Haus“ handelt es sich um eine Großfamilie, bestehend aus mehreren Generationen, gilt mittlerweile als widerlegt. Die hohe Sterblichkeitsrate, das späte Heiratsalter und ökonomische Gründe ließen diesen Familientypus meistens nicht zu (vgl. Lenz/Böhnisch 1997, S. 14).

Im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung kam es zu einer örtlichen Trennung von Familienleben und Arbeitsstätte. Dies war der Beginn eines langfristigen Prozesses, bei dem sich nach und nach das moderne Familienleitbild der bürgerlichen Kleinfamilie abzeichnete.

Durch die Auslagerung der Produktion aus der Familie verlor das „ganze Haus“ an Bedeutung. Die Familie war von nun an nicht mehr auf die Mithilfe von nicht-verwandten Mitgliedern in der Produktion angewiesen. Sie wurden aus dem Haus ausgegliedert oder erhielten einen Angestelltenstatus. Dies führte zu einer Privatisierung des familialen Zusammenlebens, bei dem die emotionalen Beziehungen untereinander immer wichtiger wurden. „Im Zentrum der modernen bürgerlichen Kleinfamilie stehen intim-expressive Funktionen (die Befriedigung subjektiver Bedürfnisse nach Intimität, persönlicher Nähe, Geborgenheit, Sexualität) und sozialisatorische Leistungen “ (Peuckert 2008, S. 20, Hervorheb. im Original).

Waren im „ganzen Haus“ vor allem ökonomische Gründe ausschlaggebend für eine Heirat, wird die Liebe zum wichtigsten Grund für eine Eheschließung. Aber erst die Geburt eines Kindes vervollständigte die Familie und erfüllte den eigentlichen Sinn der Ehe.

Dadurch veränderte sich die Eltern-Kind Beziehung grundlegend. Die distanzierte Haltung der Eltern ihren Kindern gegenüber wurde durch eine liebevolle und umsorgende Hinwendung abgelöst. Die kindliche Entwicklung erfuhr große Beachtung und Eltern fingen an, ihre Kinder bewusst und mit voller Hingabe zu erziehen.

Weiterhin kam es durch die Auslagerung der Produktion aus dem Haus zu einer Neudefinierung der Geschlechterrollen. Der Mann ging einer Berufstätigkeit nach und nahm die Rolle des Ernährers ein. Die Frau war für das familiale Binnenleben zuständig. Sie kümmerte sich um das Wohlergehen ihres Mannes und war für die Kindererziehung verantwortlich (vgl. Peuckert 2008, S. 18).

Die bürgerliche Kleinfamilie bildete sich zunächst im gebildeten und wohlhabenden Bürgertum aus, denn hier konnten Frauen und Kinder von der Erwerbstätigkeit freigestellt werden. Erst ab 1950 wird diese durch die tiefgreifenden Wandlungsprozesse, wie dem Wirtschaftswunder und den damit verbundenen Lohnsteigerungen und dem Ausbau des sozialen Sicherungssystems, zum allgemeinen normativen Leitbild (vgl. Peuckert 2008, S. 19).

„Das moderne Ehe- und Familienmuster, die moderne Kleinfamilie (auch ‚privatisierte Kernfamilie‘ genannt) – d.h. die selbstständige Haushaltsgemeinschaft eines verheirateten Paares mit seinen unmündigen Kindern – war eine kulturelle Selbstverständlichkeit und wurde von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung auch unhinterfragt gelebt“ (Peuckert 2008, S. 16, Hervorheb. im Original).

Die traditionelle Kleinfamilie wurde durch ihre kulturelle Dominanz zur „Normalfamilie“ der Moderne. Diese bestand aus zwei miteinander verheirateten heterosexuellen Partnern, die eine lebenslange, monogame Ehe führten. Der Sinn der Ehe wurde letztendlich durch die Geburt eines Kindes vollendet. Die leiblichen Kinder wuchsen gemeinsam mit den Eltern in einem Haushalt auf. Dieser traditionelle Lebensweg wurde von der Mehrheit der Bevölkerung gelebt und als „Normalbiographie“ angesehen. Alternative familiale Lebensformen, wie z.B. Geschiedene oder nicht-eheliche Lebensgemeinschaften galten als Abweichung von der Normalfamilie und wurden nur als Notlösung toleriert, in vielen Fällen sogar diskriminiert (vgl. Peuckert 2008, S. 20 ff.).

Das Familienideal der bürgerlichen Kleinfamilie setzte sich immer weiter durch und erreichte in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren die weiteste Verbreitung. Diese Zeit wird auch als Blütezeit von Ehe und Familie („golden age of married“) bezeichnet und gilt als Höhepunkt dieser familialen Entwicklung.

Die hohen Heirats- und Geburtenzahlen Mitte der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts belegen die Entwicklung des bürgerlichen Familienmodels zum Normaltypus der Moderne. „Die Wahrscheinlichkeit, überhaupt einmal zu heiraten, betrug zu Beginn der 1960er Jahre für die damals 18-jährigen Männer 96 Prozent und für die 16-jährigen Frauen 95 Prozent“ (Peuckert 2008, S. 20). Die meisten Jugendlichen wünschten sich eigene Kinder und nur jedes zwanzigste Kind wurde unehelich geboren.

Seit Mitte der 1960er Jahre findet in Deutschland und in anderen hochentwickelten Industriegesellschaften eine Abkehr von diesem Familienbild statt. Bevor ich jedoch auf die Destabilisierung der Normalfamilie eingehe, führe ich zunächst einen theoretischen Erklärungsansatz für den familiären Wandel an.

2.2 Die Individualisierungsthese von Beck

Der Übergang in die Moderne ist, bedingt durch die Ausbreitung freier Lohnarbeit, die Durchsetzung der bürgerlichen Grundrechte und der Bildungsexpansion, gekennzeichnet durch die Freisetzung der Individuen aus den traditionellen Lebensformen (vgl. Peuckert 2008, S. 326).

Diese Entwicklung beschreibt Beck (1986) als Individualisierungsprozess: „Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, daß die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird“ (S. 216).

Im Allgemeinen wird zwischen zwei Individualisierungsphasen differenziert. Die erste Phase der Individualisierung, beginnend mit der Industrialisierung, beschränkte sich zunächst lediglich auf die Männer. Durch die Auslagerung der Produktion aus der Familie, mussten sich diese mit neuen Anforderungen der freien Marktwirtschaft auseinandersetzen. Zugleich wurde die Frau auf den häuslichen Bereich der Familie verwiesen. Im Verlauf dieser ersten Phase entwickelte sich das bürgerliche Familienmodell zur dominanten Lebensform.

Mit der zweiten Individualisierungsphase in den 1960er Jahren breitete sich der Individualisierungsprozess auch auf den weiblichen Lebenslauf aus. Die traditionellen Geschlechterrollen verloren zunehmend an Bedeutung. Beck-Gernsheim (1983) formuliert die Individualisierung des weiblichen Lebenslaufes mit den Worten vom „Dasein für Andere“ zum „Anspruch auf ein eigenes Leben“ (vgl. S. 308). Waren Frauen zuvor vor allem familienorientiert, streben immer mehr Frauen nach Unabhängigkeit und gehen einer Berufstätigkeit nach.

Beck verdeutlicht den Individualisierungsprozess anhand von drei Dimensionen: Freisetzungsdimension, Entzauberungsdimension und Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension.

Durch die Herauslösung des Menschen aus traditionellen Strukturen und Bindungen hat er die Chance, seine Biographie nach seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu gestalten. Beck (1986) bezeichnet diesen Gewinn an Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten als „Freisetzungsdimension“ (vgl. S. 206).

Auf der anderen Seite können sich die Menschen durch die Enttraditionalisierung, d.h. durch den Verlust an handlungsleitendem Wissen und Normen in Form von Traditionen, nicht mehr an eine „Normalbiographie“ orientieren. Beck bezeichnet diese Kehrseite der Medaille als „Entzauberungsdimension“ (vgl. Beck 1986, S. 206).

Diese neu gewonnenen Entscheidungsfreiheiten bergen Gefahren und Risiken. Beck und Beck-Gernsheim (1994) verdeutlichen:

„Bastelbiographie ist immer zugleich ‚Risikobiographie‘, ja ‚Drahtseilbiographie‘, ein Zustand, der (teils offen, teils verdeckten) Dauergefährdung. Die Fassaden vom Wohlstand, Konsum, Glimmer täuschen oft darüber hinweg, wie nah der Absturz schon ist. Der falsche Beruf oder die falsche Branche, dazu die privaten Unglücksspiralen von Scheidung, Krankheit, Wohnungsverlust (…). Die Bastelbiographie kann schnell zur Bruchbiographie werden“ (S. 13).

Der Verlust an handlungsleitenden Normen und Werten kann zu Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Überforderung führen.

Die letzte Dimension bezeichnet Beck (1986) als „Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension“ (vgl. S. 206). Der Mensch hat sich zwar aus den traditionellen Bindungen befreit, dadurch entstehen aber auch neue soziale Einbindungen und Zwängen, wie z.B. die Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt und der Bürokratie (vgl. Beck 1986, S. 211).

Demnach müssen immer beide Seiten der Medaille des Individualisierungsprozesses betrachtet werden. Zum einen sind die Wahlmöglichkeiten gestiegen und jedem einzelnen wird eine große Entscheidungsfreiheit hinsichtlich seiner Lebensgestaltung zugesprochen. Die Kehrseite der Medaille darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Durch die zunehmenden Individualisierungstendenzen leben wir in einer Risikogesellschaft. Der Mensch ist zunehmend auf sich allein gestellt und kann Entscheidungen nicht nur selbst treffen, sondern ist hierzu auch gezwungen. Die Entscheidungen können sich als falsch erweisen und es besteht die Gefahr des Scheiterns.

2.2.1 Wertewandel

Neben dem Individualisierungsprozess zeichnet sich seit 1950 ein sozialer Wertewandel ab. Dieser ist geprägt durch eine Abnahme der traditionalen Pflicht- und Akzeptanzwerte bzw. materialistischer Werte.

Insbesondere die Werte Ordnung, Leistung und Pflichterfüllung haben seit 1950 an Bedeutung verloren. Dahingegen lässt sich eine stärkere Orientierung an Selbstentfaltungswerten bzw. postmaterialistischen Werte erkennen, zu denen insbesondere die Werte Autonomie, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung zählen.

Studien belegen, dass sich dieser Wertewandlungsprozess von materialistischen zu postmaterialistischen Werten auch auf die Lebensführung auswirkt. „Sie beeinflussen negativ die Eheschließungsbereitschaft, die Bindungskraft der Ehe und die Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen und tragen zur steigenden Scheidungshäufigkeit und zur Pluralisierung der Lebensformen bei“ (Peuckert 2008, S. 336).

Unter dem Wertewandel ist nicht zu verstehen, dass sich die alten Werte vollkommen aufgelöst haben und durch andere ersetzt wurden. Vielmehr stehen heute verschiedene Werte nebeneinander und alte Wertevorstellungen vermischen sich mit den neuen. Die inhaltliche Gestaltung der modernen Werte ist hierbei nicht festgeschrieben, sondern liegt in der Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen (vgl. Peuckert 2008, S. 335).

2.3 Destabilisierung der traditionellen Kernfamilie

Wie bereits in den vorangegangenen Ausführungen gezeigt, orientierte sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren an dem normativen Leitbild der bürgerlichen Kleinfamilie. Seit den 1960er Jahren ist jedoch eine Abkehr von diesem Familienmuster festzustellen.

Infolge von Individualisierungs- und Modernisierungsprozesse hat sich das Bild der klassischen Kernfamilie grundlegend gewandelt. Die traditionelle Familie hat ihren Monopolcharakter verloren. Dieser Prozess wird besonders deutlich, wenn man die demographische Entwicklung der Familie und die Pluralisierung der (familialen) Lebensformen betrachtet.

2.3.1 Demographischer Wandel

Die Destabilisierung der traditionellen Kernfamilie zeigt sich insbesondere, wenn man die demographische Entwicklung in Deutschland seit Mitte der 1960er Jahre in den Blick nimmt. Zu erkennen sind eine rückläufige Geburtenrate und eine abnehmende Heiratsneigung bei gleichzeitig ansteigenden Scheidungszahlen.

Diese Entwicklungstendenzen sind das Ergebnis von langfristigen Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen. Normative Verbindlichkeiten und Traditionen haben sich aufgelöst. Infolgedessen sind neue Hanlungs-muster und Lebenswege entstanden.

Die folgenden Zahlen sind dem Statistischen Bundesamt Deutschlands entnommen. Anhand dieser demographischen Zahlen kann ein Vergleich zwischen der Blütezeit der Familienentwicklung im Jahr 1960 und dem aktuellen Stand von Geburtenzahlen, Heiratsneigung und Ehescheidungen herangezogen werden.

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen, dass seit Mitte der 1960er Jahren ein deutlicher Rückgang der Geburtenrate, eine abnehmende Heiratsneigung bei gleichzeitig ansteigenden Scheidungszahlen stattgefunden hat.

Gab es 1960 noch insgesamt 1.261614 Lebendgeborene, so ist die Zahl im Jahr 2008 auf 682.514 gesunken (vgl. Statistisches Bundesamt 2010b).

Die Gründe für den enormen Geburtenrückgang seit den 1960er Jahren sind vielfältig. Neben dem Wertewandel, spielen die gestiegenen Wahlmöglichkeiten für verschiedene Lebensformen infolge der Individualisierung eine wichtige Rolle. „Die Entscheidung für ein Kind bedeutet eine langfristige, irreversible biographische Festlegung und damit einen Verzicht auf andere Optionen“ (Peuckert 2008, S. 115, Hervorheb. im Original). Immer mehr Frauen möchten einer Berufstätigkeit nachgehen und entscheiden sich infolge dessen gegen Kinder oder verschieben ihren Kinderwunsch, weil gesellschaftliche Rahmenbedingungen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschweren (vgl. Peuckert 2008, S. 114).

Auch die Zahl der Eheschließungen ist deutlich zurück gegangen. Im Jahr 1960 gab es 689.028 Eheschließungen. Dieser Wert hat sich bis ins Jahr 2008 mit 377.055 Eheschließungen fast halbiert (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2010c). Immer weniger Menschen sehen die Ehe als notwendige Verpflichtung an. Durch die allgemeine Wohlstandssteigerung haben die Vorteile einer Eheschließung abgenommen. Insbesondere Frauen sind durch eine eigene Berufs- und Erwerbstätigkeit nicht mehr abhängig von dem Einkommen des Mannes. Hinzu kommt eine steigende Akzeptanz nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften und der Wunsch nach Unabhängigkeit (vgl. Peuckert 2008, S. 45f.).

Eine weitere demographische Entwicklung zeigt sich in der steigenden Scheidungsrate. Im Jahr 1960 ließen sich insgesamt 73.418 Menschen in Deutschland scheiden. 2008 waren es hingegen 191.948 Ehen, die geschieden wurden (vgl. ebd.). Dieser Anstieg verdeutlicht, dass Paare heutzutage einen deutlich höheren Anspruch an eine Beziehung haben. Wenn die subjektiven Bedürfnisse unerfüllt bleiben, ist die Trennung zu einer sozial akzeptablen Lösung geworden (vgl. Peuckert 2008, S. 178f.).

Aufgrund dieser demographischen Entwicklung wird häufig von einer „Krise der Familie“ oder einem Bedeutungsverlust der Familie gesprochen. Trotz dieser demographischen Entwicklung, hat die traditionelle Familie keineswegs an Bedeutung und Wertschätzung verloren.

Obwohl eine sinkende Heiratsneigung bei einer gleichzeitig steigenden Scheidungsrate zu verzeichnen ist, weist dies nicht auf eine grundsätzliche Abneigung gegen die Familie hin.

„Statistische Datenreihen stellen nämlich keine Motivationsanalysen dar und so zeigen die Ergebnisse einer empirischen Erhebung über die verursachenden Bedingungen für Ehescheidungen, dass die Instabilität der Ehe gerade wegen ihrer hohen subjektiven Bedeutung für den Einzelnen zugenommen und dadurch die Belastbarkeit für unharmonische Partnerbeziehungen abgenommen hat“ (Nave-Herz 2002, S. 25).

Die hohen Scheidungszahlen belegen also keineswegs einen Zerfall der Familie, sondern spiegeln die hohe subjektive Bedeutung einer Paarbeziehung wider. Disharmonische Beziehungen können von dem einzelnen viel seltener ertragen werden. Die Ehe wird aufgelöst, mit der Hoffnung auf eine neue, bessere Partnerschaft (vgl. dies. 2002, S. 124).

Auch der Anstieg der Kinderlosigkeit spiegelt kein grundsätzliches Desinteresse an eigenen Kindern wider. Studien zeigen, dass insbesondere der Funktionswandel von Kindern und ein verändertes Selbstverständnis von Elternschaft eine entscheidende Rolle bei dem Geburtenrückgang spielen. Kinder haben heute einen viel stärkeren immateriellen Wert als früher und werden „(…) ausschließlich um ihrer selbst willen und/oder zur eigenen psychischen Bereicherung gewünscht und geplant“ (Nave-Herz 2002, S. 32). Ein weiterer wichtiger Grund für den Geburtenrückgang ist laut Kaufmann (1995) auf den neu entstandenen Normkomplex „verantworteter Elternschaft“ zurückzuführen (vgl. S. 42f.). Dieser verlangt von den Eltern, dass sie nur dann Kinder in die Welt setzen sollen, wenn sie die Erziehungsverantwortung übernehmen und die ökonomischen Leistungen hierfür tragen können.

2.3.2 Pluralisierung der Familienformen

Die Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse wirken sich auch auf die Familienstruktur aus. Die bürgerliche Kleinfamilie hat ihre norma-tive Verbindlichkeit als „Normalfamilie“ verloren. Neben ihr treten heute eine Reihe alternativer Lebensformen wie z.B. kinderlose Ehen, Ein-Eltern-Familien, Adoptivfamilien, Patchworkfamilien etc. Hierbei kann es im Laufe des Lebens auch zu einem Wechsel zwischen verschiedenen Familienformen kommen.

Nach Tyrell (1988) findet ein „Prozess der Deinstitutionalisierung“ des bürgerlichen Ehe- und Familienmusters statt (vgl. S. 145). Dies bedeutet, dass die normative Verbindlichkeit der traditionellen Kleinfamilie abnimmt. „Die für die bürgerliche Ehe- und Familienordnung geltende Verknüpfung von Liebe, lebenslanger Ehe, Zusammenleben und gemeinsamem Haushalten, exklusiver Monogamie und biologischer Elternschaft lockert sich, wird unverbindlich“ (Peuckert 2008, S. 30). Infolge dessen werden nicht-eheliche Kinder geboren, Frauen gehen einer Berufstätigkeit nach, das Singleleben und die Scheidung werden als akzeptable Lebensentscheidung immer mehr anerkannt.

Auch die Ehe und Elternschaft sind nicht mehr zwingend aneinander gekoppelt, sondern treten getrennt voneinander auf. Paare können heiraten, ohne Kinder zu bekommen, gleichsam bekommen viele Paare Kinder, ohne zu heiraten. Es entsteht eine Vielfalt von familialen und nichtfamilialen Lebensformen, d.h. es kommt zu einer Pluralisierung der Lebensformen (vgl. ebd.).

Zwar gab es schon immer zahlreiche alternative Familienformen neben der traditionellen Kernfamilie, jedoch sind diese heutzutage stärker ausgeprägt und auch der Entstehungshintergrund hat sich verändert.

Die Abbildung 1 zeigt die vier größten Familienformen in Deutschland im Jahr 2000.

Abbildung 1: Familienformen (ca. %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: BMFSFJ 2002, zit. nach Jonuz/Bornhöfft 2006, S. 35

Obwohl eine wachsende Vielfalt von Lebensformen festzustellen ist, bleibt die traditionelle Kleinfamilie (Ehepaar mit Kind) mit ca. 75% weiterhin die dominante Familienform. Dieses Familienbild genießt nach wie vor an hoher Wertschätzung. Umfragen bestätigen, dass die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen sich eine Familie und Kinder wünschen (vgl. Jonuz/Bornhöfft 2006, S. 35).

Mit ca. 17% bilden Ein-Eltern-Kind-Familien die zweitgrößte Familienform. Innerhalb dieser Familienform übernimmt ein Elternteil die alleinige Erziehungsverantwortung für das Kind. In den meisten Fällen sind dies die Mütter. Ein-Eltern-Familien entstehen heutzutage häufig infolge einer Scheidung oder Trennung und nicht mehr wie früher, durch den Tod eines Elternteils.

Auch wenn es nicht die typische Ein-Eltern-Kind Familie gibt, kann man trotzdem davon ausgehen, dass Alleinerziehende einer doppelten Belastung ausgesetzt sind. Dem alleinerziehenden Elternteil fehlt es vor allem an Entlastungsmöglichkeiten durch einen Partner. „Sofern kein neuer Partner, Eltern, Nachbarschaft oder andere soziale Netzwerke vorhanden sind, die unterstützend eingreifen können, sind diese Eltern durch Beruf, Erziehung und Haushalt vielfach überbelastet“ (Jonuz/Bornhöfft 2006, S. 38). Sind die Kinder noch sehr klein, verzichten viele Alleinerziehende vorerst auf eine Berufstätigkeit. Dies hat häufig zur Folge, dass der Lebensstandard aufgrund des geringes Einkommens sehr niedrig ist.

Mit einem Anteil von 6% bildet die Patchwork-Familie eine weitere Familienform. Auch hier gibt es vielfältige Formen des Zusammenlebens. Patchwork-Familien unterscheiden sich hinsichtlich Größe und Zusammensetzung, je nachdem ob von einem oder beiden Partnern, ein oder mehrere Kinder aus der früheren Ehe mit in die neue Beziehung gebracht werden und ob weitere leibliche Kinder in dieser Partnerschaft entstehen.

Patchwork-Familien sind mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. „Alle Beteiligten, also Erwachsene und Kinder, müssen die Situation neu definieren und jeder muss seine „neue“ Rolle aushandeln“ (Jonuz/Bornhöfft 2006, S. 40). Probleme können sich hier insbesondere durch die mangelnde Akzeptanz des neuen Partners durch die Kinder und durch die Rollenunsicherheit hinsichtlich Erziehungsteilung von gemeinsamen und nichtgemeinsamen Kindern (vgl. ebd.).

Im Jahr 2000 ist mit ca. 2% die Mehrgenerationen Familie die viertkleinste Familienform in Deutschland. Diese Familienform, in der mehrere Generationen zusammen leben, findet sich heutzutage häufig noch bei Familien mit Migrationshintergrund oder bäuerlichen Familien. An der Kindererziehung sind alle Erwachsenen beteiligt. Dies kann einerseits eine Entlastung für die Eltern bedeuten, andererseits können bei unterschiedlichen Ansichten in Erziehungsfragen auch Konflikte entstehen (vgl. ebd., S. 41).

Insgesamt kann also festgehalten werden, dass die Normalfamilie seit den 1960er Jahren anteilsmäßig abgenommen hat und durch andere familiäre und nicht-familiäre Formen ergänzt wird. Der Wandel der Familienformen kann als Ergebnis eines langfristigen Modernisierungs- und Individualisierungsprozesses verstanden werden.

Neben dem Wandel der äußeren Struktur (Pluralisierung der Lebensformen und demographische Entwicklung) hat sich auch innerhalb der Familie ein Wandel vollzogen.

2.4 Wandel des familialen Binnenlebens

Der Wandel des familialen Binnenlebens wird besonders deutlich, wenn man die Geschlechterrollen innerhalb der Familie sowie die Erziehungsvorstellungen betrachtet.

2.4.1 Wandel der Geschlechterrollen

Infolge der wirtschaftlichen Wandlungsprozesse und der Bildungsexpan-sion haben traditionelle Geschlechterrollen an Geltung verloren. Der Mann ist nicht mehr nur der Alleinversorger und die Frau ausschließlich auf den Haushalt und die Kindererziehung beschränkt. Heutzutage gehen immer mehr Mütter einer Erwerbstätigkeit nach. Waren im Jahr 1972 lediglich 48% der Frauen erwerbstätig, hat sich dieser Wert im Jahr 2004 auf 65% erhöht (vgl. Peuckert 2008, S. 231).

Obwohl eine gestiegene Erwerbstätigkeit bei den Frauen zu verzeichnen ist, kann nicht von einer Auflösung der traditionellen Rollenbilder gesprochen werden. Egalitäre Ehen, in denen sich beide Partner gleichberechtigt an der Hausarbeit und Erwerbstätigkeit beteiligen, sind noch deutlich unterrepräsentiert (vgl. Peuckert 2008, S. 260). Immer noch ist die Frau primär für die Haushalts- und Familienarbeit zuständig und der Mann nimmt die Rolle des Versorgers ein. Diese Situation verschärft sich mit der Geburt des ersten Kindes, denn dann verdoppeln Frauen ihren Anteil an der Hausarbeit und übernehmen zusätzlich noch die Kinderbetreuung (vgl. Peuckert 2007, S. 50f.).

Auch hinsichtlich der männlichen Geschlechterrolle hat sich etwas verändert. Die Beteiligung der Väter an der Hausarbeit ist zwar immer noch sehr gering, aber immer mehr Väter engagieren sich in der Beziehung zu ihren Kindern. Männer begleiten heute viel häufiger ihre Frauen zu Vorsorgeuntersuchungen und sind bei der Geburt des Kindes dabei. Weiterhin zeigen Studien, dass sich Väter stärker an der Pflege und Betreuung von Säuglingen beteiligen. Jedoch bleibt es dabei, „(…) mit zunehmender Veralltäglichung der Kinderpflege (…) [geht] der Löwenanteil der Arbeit wieder auf die Frauen über“ (Kaufmann 1995, S. 129).

Für die Frau ist die Doppelorientierung von Mutterrolle und Erwerbstätigkeit eine Doppelbelastung. Hinzu kommt, dass Frauen immer wieder mit dem Vorwurf zu kämpfen haben, dass sich ihre Erwerbstätigkeit negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirke und sie sich egozentrisch verhalten würden. Obwohl zahlreiche Studien zeigen, dass die Erwerbstätigkeit der Mutter im Grundsatz noch nichts über den Entwicklungsprozess des Kindes aussagt, ist dieses Stereotyp immer noch vorhanden. Viel entscheidender als die Berufstätigkeit an sich, ist das Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren, wie die Quantität der zusammen verbrachten Zeit, die Persönlichkeit der Mutter, die Qualität der außerfamiliären Betreuung, die Zufriedenheit mit ihrem Beschäftigungsstatus etc. (vgl. Nave-Herz 2002, S. 46f.).

2.4.2 Veränderte Erziehungsvorstellungen

Im Zuge der Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse, haben sich die Erziehungsvorstellungen und -praktiken grundlegend geändert. Der Trend führt weg von einer autoritären hin zu einer demokratischen Erziehung, bei der viel Wert auf das Mitbestimmungsrecht des Kindes gelegt wird.

Diese Entwicklung bestätigen Umfragen des EMNID-Instituts. Unter Vorgabe der Erziehungsziele „Selbstständigkeit und freier Wille“, „Ordnungsliebe und Fleiß“ sowie „Gehorsam und Unterordnung“, wurden Probanden nach ihrem wichtigsten Erziehungsziel befragt (vgl. EMNID 1992 S. 103 und 1995, S. 54).

In der Abbildung 2 wird die Entwicklung der Erziehungsziele „Selbstständigkeit und freier Wille“ und „Gehorsam und Unterordnung“ im Zeitraum zwischen 1951 und 1995 ersichtlich. Das Erziehungsziel „Ordnungsliebe und Fleiß“ ist über die Jahre hinweg mit einem ungefähren Wert von 40% konstant geblieben und ist daher nicht in der Abbildung dargestellt.

Abbildung 2: Erziehungsziele in Deutschland im Zeitverlauf

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Emnid 1992, S. 103 & 1995, S. 54

nach eigener Berechnung von Reuband 1997, S. 134

Die Ergebnisse der EMNID Umfrage zeigen einen Wertewandel in den Erziehungszielen. Das Erziehungsziel „Selbstständigkeit und freier Wille“ hat im Zeitverlauf immer mehr an Bedeutung gewonnen. „Lag der Anteil 1951 noch bei 28%, so erreichte er 1991 58% und 1995 60%“ (Reuband 1997, S. 134). Im Vergleich dazu ist das Erziehungsziel „Gehorsamkeit und Unterordnung“ immer mehr in den Hintergrund gerückt. Im Jahr 1951 nannten 25% dieses als wichtigstes Erziehungsziel, im Jahr 1995 waren es nur noch 7% (vgl. ebd.).

Die veränderten Erziehungsziele und Leitbilder wirken sich auf den Umgang mit den Kindern aus und spiegeln sich in den Erziehungsstilen wider. Die autoritäre Erziehung, in der das Kind zu Gehorsamkeit und Anpassung diszipliniert werden soll, wird zunehmend seltener praktiziert. Dahingegen werden liberale und demokratische Erziehungsvorstellungen bevorzugt (vgl. Peuckert 2008, S. 159).

Auch die Ergebnisse des Generationen-Barometers 2006 belegen einen deutlichen Rückgang einer strengen, auf körperliche Bestrafungsmaßnahmen beruhenden Erziehung.

Im Jahr 2006 betrachtet mit 72% die überwiegende Mehrheit der über 60-jährigen, eine strenge Erziehung als typisch für die eigene Generation. Dahingegen sind es bei den 16-29-jährigen lediglich noch 8%, die eine solche Erziehung als typisch empfinden (vgl. Haumann 2006, S. 174). Hinsichtlich der körperlichen Bestrafungsmaßnahmen berichtete fast jeder zweite der über 60-jährigen, von den Eltern körperlich bestraft worden zu sein. Bei den unter 30-jährigen erlebten nur noch 20% der Befragten körperliche Bestrafungsmaßnahmen (vgl. ders. 2006, S. 172).

Haben sich Eltern früher mittels körperlicher Bestrafungsmaßnahmen durchgesetzt, ermahnen Eltern heutzutage ihre Kinder mündlich und setzten damit auf eine vernunftbetonte Kommunikation. Büchner (1995) u.a. spricht in diesem Zusammenhang von einem Übergang vom „Befehlshaushalt“ zum „Verhandlungshaushalt“ (vgl. S. 201). Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist partnerschaftlicher und freundlicher geworden.

„Kinder nehmen heute häufiger am Familiengeschehen als gleichberechtigte Partner teil, und die Eltern setzen sich im Konfliktfall nicht mit Strafen durch, sondern beide Parteien reden miteinander, suchen nach Kompromissen und fühlen sich für das Gelingen eines angenehmen Familienlebens mitverantwortlich“ (Peuckert 2007, S. 159).

Kinder werden als individuelle Persönlichkeiten angesehen, die ein Mitbestimmungsrecht haben und in familiäre Entscheidungsfragen einbezogen werden.

2.5 Herausforderungen der Elternschaft und Erziehungsunsicherheit

Der aufgezeigte gesellschaftliche bzw. familiale Wandel führt zu vielfältigen Herausforderungen in der Elternschaft. Viele Eltern fühlen sich heutzutage verunsichert, wie sie ihre Kinder richtig erziehen sollen. Vielmehr als noch vor einigen Jahrzehnten, stehen Eltern heute unter einem enormen Erziehungsdruck. Noch vor 50 Jahren war der Mythos vertreten, die ersten beiden Lebensjahre seien „dumme Jahre“, in denen das Kind keinerlei Förderung benötigt, sondern lediglich versorgt werden müsse. Heute weiß man, dass besonders diese Jahre die kindliche Entwicklung prägen. „Seither fühlen sich viele Eltern unter Druck, ihren Kindern so viel wie möglich zu bieten, sie zu fördern, zu begleiten und keine Chance auszulassen, die ihre optimale Entwicklung unterstützt“ (Walper 2007, S. 25).

Studien belegen diesen enormen Zuwachs an Erziehungsunsicherheit. Das Staatsinstitut für Familienforschung (ifb) hat in diesem Zusammenhang eine empirische Studie durchgeführt. In Abbildung 3 sind die wichtigsten Ergebnisse dargestellt.

Abbildung 3: Erziehungsunsicherheit 2002 und 2006

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Ifb-Elternbefragung 2006

Die Ergebnisse der Ifb-Elternbefragung zeigen, dass sich im Jahr 2006 11,8% der befragten Eltern immer oder zumindest häufig unsicher in Erziehungsfragen fühlen. Mit 46% fühlt sich fast die Hälfte der Befragten manchmal im Erziehungsalltag unsicher. Lediglich 7,4 % geben an, nie unsicher zu sein. Dabei ist jedoch anzumerken, dass viele Eltern, die sich nie in Erziehungsfragen unsicher sind, entweder über eine pädagogische Ausbildung verfügen oder sich intensiv mit Erziehungsfragen auseinandergesetzt haben (vgl. Smolka/Mühling 2007, S. 22 ff.).

Da bereits 2002 eine Elternbefragung zu der gleichen Thematik stattgefunden hat, kann anhand eines Vergleiches der Daten aus beiden Jahren

ein tendenzieller Anstieg der Erziehungsunsicherheit festgestellt werden.

Der Anteil der Befragten, die sich häufig oder immer unsicher in Erziehungsfragen fühlen, ist von 2002 bis 2006 um 6,8% gestiegen. Im Vergleich dazu ist der Anteil derer, die sich nie oder selten unsicher in Erziehungsfragen fühlen, um 5,7% gesunken (vgl. Smolka/Mühling 2007, S. 22).

Die drei häufigsten Bereiche in denen sich Eltern unsicher fühlen und zu denen sie sich Beratung oder Unterstützung wünschen sind die Themenfelder „Schule“ (35,7%), „Erziehungsfragen/Probleme“ (20,9%) und „Jugendliche/Pubertät“ (16,4%) (vgl. Smolka/Mühling 2007, S. 27).

Ursachen für die gestiegene Unsicherheit in der Elternschaft liegen vor allem in dem bereits aufgezeigten gesellschaftlichen und familialen Wandel. Durch die Individualisierung und Pluralisierung von Lebenszusammenhängen sind Eltern mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert.

Im Zuge des gesellschaftlichen Wandels hat sich die Stellung des Kindes in der Familie grundlegend verändert. Die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes finden große Berücksichtigung. „Noch nie hat es in der Geschichte Deutschland so viele Eltern gegeben, die sich für ihre Kinder einsetzen und sich in hohen Maße mit Erziehung auseinander setzen“ (Jonuz/ Bornhöfft 2006, S. 43).

Heutzutage haben Eltern eine partnerschaftliche Beziehung zu ihren Kindern, in der viel kommuniziert, begründet und ausgehandelt wird. Dies stellt Eltern vor neue Herausforderungen. Sie können nicht mehr Gehorsamkeit durch Disziplinierungsmaßnahmen einfordern, sondern müssen ihre Forderungen und Entscheidungen begründen und mit ihren Kindern aushandeln. Dies erfordert ein hohes Maß an kommunikativer und reflexiver Kompetenz (vgl. Peuckert 2008, S. 160).

Weiterhin entstehen durch die Herauslösung der Individuen aus traditionellen Bindungen (Enttraditionalisierung) für jeden Einzelnen mehr Handlungsfreiheiten und Wahlmöglichkeiten. Daraus erwächst eine Vielfalt an (familialen) Lebensformen. Die klassische Kernfamilie ist nur noch eine unter vielen Möglichkeit des Zusammenlebens. Vor dem Hintergrund einer Pluralisierung von Familienformen, müssen sich viele Familien auch mit dem Thema Trennung und Scheidung auseinandersetzen.

„Aber auch die Organisation und Gestaltung des Übergangs zu anderen Familienformen, mit möglicherweise neuen PartnerInnen und Geschwisterkindern in Folge von Trennung oder Scheidung, bedürfen größerer Vereinbarungsbemühungen der Eltern, um kindliche wie elterliche Interessen und Bedürfnisse gleichermaßen zu berücksichtigen“ (Schmidt-Wenzel 2008, S. 14).

Ein weiterer Grund für die gestiegene Erziehungsunsicherheit hängt mit dem Verlust an handlungsleitenden Normen und Wissen zusammen. Heutzutage fehlt es vielen Eltern an normativen Leitlinien und Handlungswissen, an denen sie sich orientieren können. „So problematisch und eingehend diese Normen waren, boten sie doch für viele Eltern einen selbstverständlichen Halt und eine gesellschaftlich klar definierte Rolle und Identität als Eltern“ (Qindel 2007, S. 65).

Jeder Einzelne ist gezwungen, die Verantwortung und Gestaltung für seinen eigenen Lebensweg zu übernehmen. Der Mensch kann sich nicht mehr an einer „Normalbiographie“ orientieren. Die Lebensgestaltung wird zu einem „individualisierten Projekt“. „Das verstärkt nicht nur die Unsicherheit im eigenen Lebensvollzug, sondern auch in den Alltagsleistungen, zu denen Erziehung gehört“ (Tschöpe-Scheffler 2006, S. 23f.).

Zudem verlangt der bereits erwähnte neu entstandene Normkomplex der „verantworteter Elternschaft“ von den Eltern, dass sie die Verantwortung für ihre Entscheidung zur Elternschaft tragen müssen. Demnach sind sie gefordert, den Kindern eine bestmögliche Förderung vom ersten Tag an zu ermöglichen. Es liegt in ihrer Verantwortung, dass sich ihr Kind optimal entwickelt. Eltern müssen eine erhebliche Informationsarbeit leisten und sich mit Erziehungsmethoden und Entwicklungsproblemen auseinandersetzen (vgl. Peuckert 2008, S. 161).

3 Erziehungskompetenz

Der aufgezeigte gesellschaftliche bzw. familiale Wandel führt zu vielfältigen Herausforderungen in der Elternschaft. Viele Eltern sind verunsichert, wie sie ihre Kinder „richtig“ erziehen sollen. Aber was macht eine kompetente Erziehung aus und was benötigen Kinder von ihren Eltern für eine gesunde Entwicklung?

Um sich mit Fragen der Erziehungskompetenz differenziert auseinandersetzen zu können und ein Verständnis für dieses Themenfeld zu ermöglichen, ist es zunächst notwendig den Erziehungsbegriff zu definieren.

3.1 Begriffsdefinition Erziehung

In der wissenschaftlichen Literatur gibt es keine allgemeingültige Begriffsdefinition. Je nach fachspezifischen, zeitgeschichtlichen und individuellen Hintergrund fällt die Auffassung darüber, was Erziehung ist, sehr unterschiedlich aus.

„Ein Prozess wie dessen Ergebnis, eine Absicht wie ein Handeln, ein Zustand wie dessen Bedingung, eine (deskriptive) Beschreibung und eine (präskriptive) Wertung, eine absichtsvolle Handlung (intentional) wie absichtslose gesellschaftliche Einflüsse (funktional), ein historisches Phänomen wie ein überzeitliches usw.“ (Gudjons 2001, S. 184).

Brezinka hat versucht aus der Fülle von Begriffsbestimmungen, diejenigen Merkmale herauszufiltern, die eine wissenschaftliche Präzisierung ermöglichen. Brezinka (1977) definiert Erziehung folgendermaßen:

Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten “ (S. 95, Hervorheb. im Original).

Nach Gudjons (2001) enthält Brezinkas Begriffsdefinition mindestens fünf Merkmale (vgl. S. 188). Diese sind in Abbildung 4 wiedergegeben.

Abbildung 4: Der Erziehungsbegriff nach Brezinka

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Gudjons 2001, S. 189

Als erstes verweist Brezinkas Definition darauf, dass Erziehende Menschen sind. Aus der Bestimmung der Erziehung als Handlung (englisch: action) folgt, daß nur Menschen Subjekte der Erziehung sein können“ (Brezinka 1977, S. 72).

Zweitens versuchen Erziehende auf die Persönlichkeit des zu Erziehenden einzuwirken. Da die erzieherischen Bemühungen lediglich als ein Versuch verstanden werden, kann dieser sowohl gelingen, als auch erfolglos bleiben.

Weiterhin ist Erziehung durch soziale Handlungen gekennzeichnet. Das bedeutet, die Handlungen werden bewusst und willentlich eingesetzt, um ein ganz bestimmten Zweck zu verfolgen. Sozial meint in diesem Zusammenhang, dass die Handlungen auf jemand anderen bezogen sind.

Erziehungsverhaltensweisen unterscheiden sich insbesondere von anderen Handlungen dahingehend, dass sie darauf abzielen, die psychischen Dispositionen des zu Erziehenden in irgendeiner Hinsicht zu verändern. Unter psychischen Dispositionen sind „(…) relativ dauerhafte psychische Bereitschaften zum Erleben und Verhalten [gemeint] (das können Kenntnisse, Haltungen, Einstellungen, Interessen etc. sein)“ (Gudjons 2001, S. 189).

Die psychischen Dispositionen zu verändern bedeutet, sie zu verbessern, zu erhalten oder zu beseitigen. Erzieherische Handlungen zielen darauf ab, vorhandene Dispositionen, die als wertvoll betrachtet werden, zu verbessern und zu verstärken. Noch nicht vorhandene Dispositionen sollen erzeugt und ungünstige Dispositionen beseitigt werden (vgl. Brezinka 1977, S. 84).

Dennoch räumt Brezinkas selbst ein, dass seine Begriffsdefinition immer noch verbesserungswürdig ist. Sein Erziehungsbegriff ist sehr allgemein gehalten und daher im hohen Maße generalisierbar. Dadurch fällt es schwer, Erziehung präzise bestimmen zu können (vgl. Brezinka 1974, S. 95).

Eine weitere Möglichkeit einen Zugang zum Erziehungsverständnis zu erhalten, erfolgt durch die Bildung von Metaphern. Auch hier gibt es eine Vielzahl an Bildern, die letztendlich aber alle zwei Grundverständnisse von Erziehung beinhalten.

Zum einen gibt es das Bild des Bildhauers bzw. Handwerker, bei dem der Erziehungsprozess mit einer handwerklichen Produktion verglichen wird. Erziehung wird hier als „ herstellendes Machen “ (Gudjons 2001, S. 185, Hervorheb. im Original) verstanden. Ähnlich wie der Handwerker gebraucht auch der Erzieher ganz bestimmte Methoden und Mittel, um ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Dieses Verständnis von Erziehung lässt sich zurückführen auf Lockes „Essay Concerning Human Understanding“ (vgl. Gudjons 2001, S. 185). Locke geht zwar davon aus, dass jeder Mensch eine natürliche Anlage mitbringt, dennoch sind für ihn die Erfahrungen, insbesondere die Erziehungserfahrungen, prägend für die weitere Entwicklung.

Zum anderen gibt es das Bild des Erziehers als Gärtner bzw. Bauer, der das Kind analog zum Bild der Pflanze pflegt und schützt und dadurch den natürlichen Entwicklungsprozess des Kindes begleitend unterstützt. Erziehung wird hier verstanden als „ begleitendes Wachsenlassen “ (vgl. ebd., Hervorheb. im Original). Diese Richtung geht zurück auf Rousseaus „Emile“ und seiner Vorstellung der natürlichen Entwicklung.

[...]

Ende der Leseprobe aus 117 Seiten

Details

Titel
Erziehungsunsicherheit. Herausforderungen der Elternschaft
Untertitel
Der Elternkurs "Starke Eltern - Starke Kinder" zur Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
117
Katalognummer
V165337
ISBN (eBook)
9783640816880
ISBN (Buch)
9783640820504
Dateigröße
1511 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erziehung, Kinder, Elternkurs, Starke Eltern starke Kinder
Arbeit zitieren
Lena Giller (Autor:in), 2010, Erziehungsunsicherheit. Herausforderungen der Elternschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165337

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