Leseprobe
Die Bedeutung von Zeit und Vergangenheit in den Sozialwissenschaften
am Beispiel zweier ausgewählter Basistexte
Paul Piersons 2004 verfasstes Buch „Politics in Time. History, Institutions, and Social Analysis“ stellt den Versuch dar, die Bedeutung der Beachtung der Zeitkomponente in sozialwissenschaftlichen Analysen und Untersuchungen deutlich zu machen. Er betont, dass die simple Jagd nach determinierenden und konstituierenden Variablen zu einer Vernachlässigung der komplexen sozialen Dynamiken und der historischen Rahmenbedingungen führt, ohne welche die korrekte Erfassung politischer Prozesse nicht sinnvoll möglich ist.[1] Denn: „The systematic examination of processes unfolding over time warrants a central position in the social sciences”[2].
Dies ist aufgrund mehrerer Phänomene, welche die Politik bestimmen, und welche der Autor anhand von Beispielen systematisch offen legt, der Fall.
Erstens, und grundlegend für alle weiteren Prozesse, nennt Pierson das Konzept der Pfadabhängigkeit. Hierdurch werden unter anderem Mechanismen der Selbstverstärkung und des positiven Feedbacks beschrieben, durch die das Abweichen von einem eingeschlagenen Weg, die Veränderung benutzter Denksysteme und Methoden also, schwer bis unmöglich gemacht wird.[3] Die Reihenfolge der Ereignisse könnte also einen fundamentalen Unterschied machen[4], da sie die zukünftigen Geschehnisse determinieren.
Zweitens betont Pierson, dass der Zeitablauf stets zu untersuchen ist, da dieser je nach Umgebungsbedingungen ein unterschiedliches Endergebnis oder Produkt bewirken kann. Kausalketten sind bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen also stets zu beachten.[5]
Weiters betrachtet Pierson es als unentbehrlich zu bedenken, dass viele Prozesse sich nur langsam entfalten. Bei Untersuchungen im gesellschaftlichen oder politischen Bereich dürfen also nicht nur Momentaufnahmen betrachtet werden ohne auf die langfristigen Auswirkungen Rücksicht zu nehmen.[6]
Viertens kritisiert der Autor die Tendenz vieler Forscher, die Variablen und beobachteten Phänomene funktionalistisch zu betrachten. Weder die Entwicklung der Dinge noch deren unerwünschte Nebeneffekte werden begutachtet. Ein weiteres Mal kritisiert Pierson also eine ahistorische Betrachtung der Phänomene.[7]
Jene Annahmen und die Überzeugung von der enormen Relevanz der Zeitkomponente beeinflussen die Sichtweise Piersons in vielerlei Hinsicht. Mit seinem Konzept stehen bestimmte Theorien, Denksysteme und Methoden in Verbindung – und damit auch die Ablehnung vieler bisheriger Studien, welche der Autor als unzureichend klassifiziert. Nur wenige herausragende Beispiele, die seinen Ansprüchen genügen und zu wesentlichen Ergebnissen führten, nennt Pierson.[8] Unter diesem Blickwinkel soll im Folgenden Peter A. Halls Text „Policy Paradigm, Social Learning, and the State. The Case of Economic Policymaking in Britain.“ unter Bezug auf seine Vereinbarkeit mit Piersons Theorien diskutiert werden. Im Zuge dessen werden lediglich die vier oben genannten Punkte berücksichtigt, mit welchen selbstredend keineswegs die Komplexität seiner Annahmen widergegeben wird, welche aber die Grundpfeiler dessen sind, was Pierson mit seinem Modell ausdrücken will.
In dem betreffenden Werk beleuchtet Hall unterschiedliche Staatstheorien. Im Allgemeinen basiere das heute gängige Modell der Politikgestaltung auf sozialem Lernen, was zusammengefasst bedeutet, dass die Strategieplanung zu jedem Zeitpunkt von den Erfahrungen, die zu einem früheren Zeitpunkt gemacht wurden, abhängig ist. Hier unterscheidet Hall zwei unterschiedliche Herangehensweisen: einerseits existiert der staatszentrierte Ansatz, in welchem die politische Entscheidungsfindung unabhängig vom sozialen Druck gesehen wird, sowie andererseits der staatsstrukturelle Zugang, welcher die Gesellschaft und deren Einfluss als bedeutsam darstellt und in das Modell integriert.[9]
Die verschiedenen Veränderungen, die sich im Zuge jenes Prozesses ergeben und die Hall in drei unterschiedliche Grade unterteilt, stellt der Autor an historischen Beispielen aus den Jahren von 1970 bis 1989 in Großbritannien dar.[10]
Der grundlegendste Faktor in Piersons oben kurz beschriebenen Modell ist jener der Pfadabhängigkeit. Diese Idee hat Hall nicht nur ebenfalls verinnerlicht, sondern sogar explizit beschrieben. Wie bereits erwähnt unterteilt er die herbeigeführten Änderungen im politischen in drei Grade, die anhand ihrer Schwere unterschieden werden. Während der First-Order Change, eine Anpassung des Rahmens oder Niveaus eines Instrumentes, und der Second-Order Change, eine Modifikation der Methoden, relativ häufig geschehen – Hall nennt als Beispiel die Budgetverhandlungen und –anpassungen -, sind Third-Order Changes, Veränderungen der grundlegenden Ideen sowie der Hierarchie der Staatsziele, äußerst seltene Ereignisse.[11] Sie sind gleichzusetzen mit den Paradigmenwechseln nach Kuhn, welche nur geschehen, wenn grundlegende Anomalien im System auftreten, welche zu gravierenden Fehlverhalten seitens der Politik führen und dadurch zu einer Degradierung des alten Paradigmas führen, woraufhin ein neues institutionalisiert werden kann.[12] Als Beispiel für einen solchen Third-Order Change erwähnt Hall die Ablösung des Keynesianismus durch den Monetarismus unter Margaret Thatcher in Großbritannien.[13] Beide Modelle, jenes von Hall ebenso wie jenes von Pierson, beinhalten also die Aussage darüber, dass politische Systeme eher konstant sind und sich zu wesentlichen Teilen selbst erhalten. Während Pierson allerdings scheinbar von der beinahe permanenten Gestalt sämtlicher politischer Gegebenheiten ausgeht, stuft Hall fein zwischen unterschiedlichen Veränderungen, deren Konsequenzen und deren Bedingungen ab. Zudem nennt er jene Faktoren, die, laut ihm, erforderlich sind, um ein System großer Konstanz zu modifizieren.
Die Aufforderung Piersons, den Zeitbezug eines Ereignisses zu beachten, kann in Halls Text als nicht erfüllt gelten. Denn er nimmt, indem er die Ereignisse, die er beispielhaft für die verschiedenen Formen der Changes anführt, als Beweisstücke seiner Theorie (bzw jener Kuhns) darstellt, deren absolute Gültigkeit an. Er vergisst also, dass sie in einem einzigartigen historischen und gesellschaftlichen Kontext stehen und dass sie eventuell nicht auf eine beliebige Situation verallgemeinert werden können. Halls Arbeit entspricht im Übrigen jener von Pierson identifizierten Gruppe von sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, in welcher der Forscher die historische Analyse als Suche nach illustrativem Material sieht. Anstatt also historische Ereignisse auszuwerten und dadurch Hypothesen zu generieren, nahm Hall eine gegebene Theorie und suchte gezielt nach Vorkommnissen in der Vergangenheit, welche für jene Theorie stimmig sind. Diese Vorgangsweise allerdings wird von Pierson deutlich kritisiert.
Halls Untersuchung betrifft zwei Jahrzehnte und die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignisse in einem ganzen Land, kann also keineswegs als lokale oder zeitliche Momentaufnahme angesehen werden. Der Autor sieht die Ereignisse durchaus in einem größeren Kontext und versucht, deren langfristige Konsequenzen zu erörtern. Zudem lässt seine Beschreibung eines Third-Order Changes keinen Zweifel daran, dass solche Paradigmenwechsel nur über einen längeren Zeitraum geschehen können.[14] Hall ist sich also im Klaren über die von Pierson genannte Tatsache, dass sich manche Veränderungen, nämlich solche, die er als Wechsel der grundlegenden Denksysteme klassifizierte, nur über einen längeren Zeitraum entfalten können.
[...]
[1] Vgl. Pierson (2004): S.1-2
[2] Pierson (2004): S.2
[3] Vgl. Pierson (2004): S.10
[4] Pierson (2004): S.11 : „ [...] the order of events may make a fundamental difference.”
[5] Vgl. Pierson (2004): S.11-12
[6] Vgl. Pierson (2004): S.13-14
[7] Vgl. Pierson (2004): S.14
[8] Vgl. Pierson (2004): S.2-3
[9] Vgl. Hall (1993): S.275-276
[10] Vgl. Hall (1993): S.281-287
[11] Vgl. Hall (1993): S.281-287
[12] Vgl. Hall (1993): S.280
[13] Vgl. Hall (1993): S.283-287
[14] Vgl. Hall (1993): S.284-287